Thomas Pfanner

Johann Gabb


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Welt in Flammen, nur ein vollständiger Dummkopf konnte noch glauben, Ungarn käme ungeschoren aus diesem Schlamassel heraus. Es gärte mittlerweile überall und in allen Volksschichten, Mágocs wurde nur deshalb bislang verschont, weil es in einer toten Ecke des Landes lag. Ungarn war ein kleines Land mit nur einer einzigen richtigen Stadt. Jeder, der etwas werden wollte, musste nach Budapest gehen und verschonte so das Umland von seiner Anwesenheit. Fuchs und Hase sagten sich Gute Nacht, für Machtspiele lebten zu wenig Menschen hier, es gab zu wenig Telefone, ganze drei Autos, eine miserable Zeitung, insgesamt also kaum eine geeignete Kulisse für Großmannssucht. Vor allem aber bewahrten die Einwohner nach Kräften den Frieden.

      Wenn er nur nicht so dumm gewesen wäre, sich einen glühenden Möchtegern-Nazi ins Haus zu holen. Fürs Erste ließ er von ihm ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Wehmütig blickte er nochmals über die Landschaft. Vor lauter Arbeit sah er viel zu selten die Schönheit um sich herum. Alles lebte und gedieh, die Akazien waren kräftig gewachsen, eigentlich sollten sie den Friedhof vor neugierigen Blicken schützen. Dahinter stiegen die Wiesen sanft an, auf der anderen Seite schon befand sich sein Weinberg.

      Er besaß zwei Weinberge, der andere lag direkt beim Haus. Seit er denken konnte, bewegte er sich durch diese Landschaft mit dem Gefühl unverbrüchlicher Nähe und Geborgenheit. Die Landschaft stand ihm gelegentlich näher als die Menschen. Mágocs war eine sogenannte Groß-Gemeinde, obwohl viele Bewohner gerne den Status einer Stadt reklamierten. Annähernd fünftausend Menschen wohnten hier. Einige hundert davon bemerkte man gar nicht, die Zigeuner lebten in den Höhlen außerhalb des Ortes, Höhlen in fruchtbarem Lößlehm, im Sommer kühl, im Winter nicht ganz so kalt. Dann gab es noch an die fünfzehn jüdische Familien und eine größere Gruppe Ungarn, der Rest wurde von Deutschen aufgeboten, Donauschwaben nannte man sie.

      Obwohl seine Ahnen aus dem Schwarzwald stammten und mit Schwaben oder der Donau rein gar nichts zu tun hatten. Wie sagte doch sein Vater zu ihm auf die Frage, weshalb er vom Ersten Weltkrieg andere Geschichten erzählte als in den Zeitungen standen?

      Geschichte ist ein Buch, in das Leute Geschichten schreiben über Ereignisse, bei denen sie nicht dabei gewesen sind und von denen sie keine Ahnung haben. Hauptsache, die Dinge klingen bedeutungsvoll, sind einprägsam erzählt und dienen den Zwecken des Erzählers. Früher nannte man so was Märchen: schmückendes Beiwerk um einen wahren Kern.

      Die Überlegungen endeten und führten ihn unweigerlich wieder zum heutigen Geschehen zurück. Harald blinzelte verwundert zu ihm hoch. Nach seinem Verständnis stockte der Kampf der Kulturen gerade, er sehnte die Beantwortung der Frage herbei, ob die Schläge stärker sein würden als sein Trotz, oder ob er doch noch straflos davon komme.

      Er schüttelte traurig den Kopf. Dieser Bursche war derart verblendet, er begriff gar nichts. Soweit man die Vorgänge in diesem zerzausten Kopf überhaupt verstehen konnte, verhielt es sich wohl so, dass er etwas getan zu haben glaubte, wofür er gelobt werden wollte. Harald wusste ganz genau, was im Reich geschah, er wollte seinen eigenen Beitrag leisten, den Erwachsenen nahe sein, von ihnen respektiert werden.

      Da Harald noch ein Kind war, verfügte er noch nicht über ein ausgereiftes Gewissen und keine sonstige ethische Instanz hatte sich in seinem Hirn gemeldet, und bei Gott, die Erwachsenen in Hamburg hatten sicherlich alles unternommen, um ihm diesbezügliche Gewissensbisse bereits im Ansatz auszutreiben. Was für eine Zeit. Über Jahrhunderte lebten die verschiedensten Völker beieinander, jeder in seinem Leben und ohne Hass. Sogar die Zigeuner hatten ihren Teil in der Welt, obwohl sie in Wirklichkeit nicht dazugehören konnten und es vermutlich auch gar nicht wollten.

      Und dann beschließt ein dahergelaufener Österreicher, die uralte christliche Räuberpistole vom Juden als allumfassend Schuldigen aufzugreifen und das vermeintliche Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, mitsamt allen Juden. Und wieder einmal machten alle begeistert mit. Wie Hunde befolgten alle im Reich willig Befehle und vermieden es, den eigenen Verstand zu benutzen.

      Nicht heute, nicht hier, nicht in seinem Haus. Sein Entschluss stand fest. Er würde ihn den Rest des Tages von der Arbeit abhalten.

      »Harald, wir beide gehen jetzt zum Polizisten und zeigen deine Tat an. Wenn du dich selbst meldest, wird die Strafe nicht so hoch sein. Ich bin sehr traurig darüber, aber es muss sein. Anschließend wirst du hierher zurückgehen und die Grabsteine wieder aufrichten. Du wirst dann erkennen, dass Zerstören wesentlich leichter von der Hand geht als Aufbauen, deshalb werden dir ein paar Juden helfen. Das regele ich und du wirst mit diesen Leuten zusammenarbeiten. Schau nicht so entsetzt, das sind ganz normale Leute, die können sogar deutsch. Hüte dich also vor frechen Äußerungen. Und jetzt ab mit dir.«

      Harald schluckte schwer, er konnte es nicht glauben: »Und ... wenn ich mich weigere?«

      »Dann musst du die nächsten Wochen bei den Zigeunern verbringen.«

      Das schockierte den Bengel vollständig, ein weiteres Zeichen seiner Unwissenheit. Die Gräuelgeschichten kreisten in seinem Kopf, die man im Reich in jeder Zeitung lesen konnte: Zigeuner sind verlaust, diebisch und prügeln sich ständig, es ist gefährlich in ihrer Nähe. Dass diese Leute zwar fremdartig, auf ihre Weise aber zuvorkommend und gastfreundlich waren, davon ahnte Harald nichts. Besonders Harald gegenüber wären sie freundlich, da er aus dem Hause der Gabbs käme.

      Johanns Mutter war heilkundlich bewandert, oft schon hatte sie im Zigeunerlager dem einen oder anderen helfen können. Es waren dankbare Leute, sie vergaßen eine ihnen erwiesene Wohltat niemals. Natürlich stahlen sie auch, aus der Not, sie besaßen ja nichts. Ein Deutscher würde in der gleichen Situation wahrscheinlich das Gleiche tun.

      Harald jedenfalls hatte allein die schwarze Seite der Geschichte im Kopf, er wurde erstaunlich blass, schluckte ein paar Mal schwer und fügte sich schließlich mit einem ergebenen Nicken. Johann seufzte leise, insgeheim erleichterte ihn die Reaktion des Jungen, hatte er doch keine Vorstellung, wie er den kleinen Trotzkopf im Falle einer Verweigerung hätte behandeln sollen. So aber wanderte Harald mit hängenden Schultern vor ihm her zum Dorf. Er wurde zunehmend traurig, weil er die Strafe nicht verstand, und Johann war traurig, weil nichts so schwer war, wie Klugheit in junge Köpfe zu zwingen.

      Buisdorf

      Wir nähern uns langsam dem Haus meiner Eltern. Mein Großvater knirscht erbittert mit den Zähnen, als ob er gerade eben erst diesem Jungen eine Abreibung verpasst habe. Zeit, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Am Besten mit der Frage, die mich derzeit am Meisten beschäftigt.

      »Opa, wenn ich das richtig verstehe, dann warst du bei der SS?«

      »Ja, natürlich«, antwortet er lapidar. »Auslands-Deutsche landeten alle ausnahmslos in der SS. Es gab keine Möglichkeit, bei der normalen Armee unterzukommen. Aber ich versichere dir, bei der selbst ernannten Elite ging es nicht anders zu als bei anderen Streitkräften.«

      Wobei wir bei der Kernfrage wären.

      »Aber du bist nicht tätowiert. Die SS-Leute wurden doch alle tätowiert, oder nicht?«

      Völlig überraschend spuckt er mir vor die Füße und meint gallig: »Genau. Nur ich nicht. Hat mir geholfen zu überleben. Die Amis haben mich laufen lassen, die Russen haben mich laufen lassen, sogar die Tschechen haben mich laufen lassen, die nach dem Zusammenbruch jeden Tätowierten sofort an die Wand gestellt haben. Nur die glorreichen Ungarn nicht. Die wussten ja, dass ich ein Deutscher war. Und sie wussten, dass sie, die Ungarn selbst, der SS erlaubt haben, alle Deutschen zwangsweise zu rekrutieren.

      Die zählten eins und eins zusammen und flugs fand ich mich in der Festung Komárom wieder, in Haft. Als Nazi-Schwein, beteiligt an irgendwelchen Untaten aus dem Jahr 1943. Zu der Zeit war ich noch Bauer und ahnte nichts Böses. Verfluchtes Kommunisten-Pack!«

      »Aber wie hast du das angestellt?«, hake ich nach, bevor er mit seinen Erzählungen in die falsche Richtung abdriftet.

      »Ich kam zu spät«, erklärt er lapidar und schafft es doch tatsächlich, mich vor einem rasenden Auto zu bewahren, das noch schnell vor uns den Zebrastreifen passieren möchte.

      »Erzähle!«, fordere ich ihn auf, als wir unseren Weg fortsetzen können.

      Masuren,