Thomas Pfanner

Johann Gabb


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fixiert, und schaffte es doch tatsächlich, die abgeschlossene Wohnungstür zu öffnen.

      Ich finde es bemerkenswert, wie gewaltlos er bei seinen Ausbrüchen vorgeht. Nie schlägt er die Scheibe ein oder versucht, sich mit schwerem Gerät zu befreien. Immer frickelt er ausdauernd herum, mit ein paar kleinen Hilfsmitteln und viel Kreativität, um an sein Ziel zu gelangen. Vielleicht sind wir ja irgendwie mit McGyver verwandt, man weiß es nicht.

      Meine Tante kommt aus dem Bad, ein etwas mürrisch dreinblickender Opa hinterher. Er beginnt schon wieder mit seinen forschen Blicken, mit denen er die Optionen für sein baldiges Verschwinden abcheckt. Dement sein bedeutet jedenfalls nicht, blöd zu sein.

      Dann sieht er mich und sein Gesicht hellt sich auf.

      »Na, da siehst du es wieder. Sobald die Leute nackt sind, zeigen sie ihr wahres Gesicht.«

      Meine Tante schaut weg, sie kennt seine Kommentare zur Genüge. Für mich bedeutet er, dass mein Großvater immer noch in der Vergangenheit umherwandert. Ich habe keine Ahnung, warum er mich erkennt und dennoch die damaligen Ereignisse hautnah durchlebt. Laut den Fachbüchern über Geronto-Psychiatrie sollten sich die Dinge ein wenig anders verhalten. Wer in der Vergangenheit schwelgt, hat sein Kurzzeitgedächtnis verloren und damit alle Erinnerungen an aktuelle Verwandte, an die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zu denken war.

      Spielt auch keine Rolle, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Bereich wechseln alle zehn Jahre. Die Wissenschaft vom Vergessen wird somit regelmäßig selbst vom Vergessen befallen. Heute zählt für mich nur eins: Wie bringe ich meinen Großvater dazu, noch mehr zu erzählen? Es muss einen Grund geben für den urplötzlich eintretenden Drang, sich mitzuteilen.

      Mein Großvater war bis vor vier Wochen völlig klar. Dann haben sie ihn im Krankenhaus ein Formular unterschreiben lassen, was die Ärzte dazu berechtigte, ihm eine Darmspiegelung zu verpassen. Das hat er nicht verkraftet. Noch im Untersuchungsraum begann er, von Gefangenschaft und Befreiung zu fantasieren. In den folgenden Wochen war er einfach nur auf der Flucht, ein sinnvolles Gespräch war nicht möglich gewesen. Tagsüber stritt er alles ab und nachts steppte der Bär.

      Heute hat sich etwas verändert. Vielleicht war er die ganze Zeit auf der Suche nach einer neuen Realität, ich weiß es nicht. Was immer er auch suchte, er scheint es gefunden zu haben. Ganz offensichtlich ist es ihm wichtig, sich mitzuteilen. Er will erzählen, vielleicht sogar alles erzählen. Ich sehe ganz klar die Gefahr, dass es mit ihm abwärtsgeht, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, wenn er allein gelassen wird in seinem Drang. Etwas bang wird mir bei der Vorstellung, es könnte sich womöglich um seinen letzten Wunsch handeln. So, wie er im letzten Sommer ein letztes Mal Ungarn sehen wollte, was man ihm aber verwehrte.

      Ich entschließe mich, sein Zuhörer zu sein. Nicht nur aus einem Gefühl der Verpflichtung ihm gegenüber heraus, nein, es interessiert mich auch. Als ich klein war, wollte ich wissen, wie es damals war, wie alles gekommen ist. Beide Großeltern hatten stets ausweichend geantwortet, fast schon einsilbig, immer wieder dieselben allgemeinen Auskünfte gegeben. Jetzt ist die Chance da.

      Hastig hole ich mir etwas zu schreiben, ein Klemmbrett mit ein paar Blättern darauf.

      Meine Tante reagiert erleichtert auf mein Angebot, die Nachtschicht zu übernehmen. Als Tochter nimmt es sie ziemlich mit, ihren Vater derart durcheinander und hilfebedürftig zu erleben. Sie macht noch ein paar Brote nach Art des Hauses, sehr dick mit reichlich Wurst darauf, stellt sie ins Wohnzimmer und geht sichtlich bedrückt.

      Ich setze mich neben meinen Großvater, der sich bereits bedient hat und auf beiden Backen zufrieden kaut. Nach einer Weile setzt die Sättigung ein, ein lautes Rülpsen wird zum Zeichen für das Ende der Mahlzeit.

      Mein Großvater schaut rosig aus der Wäsche, blickt sich um, zwinkert mir zu.

      »Ohne Mampf kein Kampf«, grunzt er voller Freude. »Das ist eine der Grundwahrheiten in jedem Krieg. Niemand kämpft lange ohne Nahrung. Solche Sachen muss man wissen, wenn es ums Überleben geht.«

      Ich nicke verständnislos. Jetzt redet er wieder wirr. Normalerweise führt Nahrung zu einer besseren Versorgung des Gehirns und damit zu mehr Klarheit. Heute offenbar nicht.

      »Für einen schnellen Heldentod gibt es die verschiedensten Wege. Du kannst dich zu den Panzern melden, oder dich einem MG-Trupp anschließen. Einheiten eben, die als Feuerwehr in den dicksten Schlamassel geschickt werden. Oder du bist die arme Sau, die ganz vorne an der Front in einem Erdloch sitzt, die russischen Panzer auf sich zukommen sieht und nicht mehr fliehen kann. Oder du gerätst an einen ehrgeizigen Offizier, der für sein Ritterkreuz alles opfert, nur nicht sein eigenes Leben. Oder der Offizier ist völlig unfähig und schickt seine Leute aus reiner Dummheit in den Tod. Oder beides.«

      Ich habe mich geirrt. Er redet etwas um den heißen Brei herum, aber doch strukturiert und sinnvoll. Nur, worauf will er hinaus? Er tippt sich wissend an die Stirn.

      »Egal wie du es anstellst, du hast keinen Einfluss darauf, wo du hinkommst, wer dich rumkommandiert und welche Chancen du für dein Überleben eingeräumt bekommst. Du bist in einer Armee nicht dein eigener Herr und niemand sonst legt besonderen Wert darauf, dich zu beschützen. Weil jeder alle Hände voll zu tun hat, sich selbst zu beschützen. Aber es gibt hin und wieder eine Ausnahme, wenn das Schicksal es gut mit dir meint.«

      Jetzt grinst er verschmitzt, so wie stets, wenn er eine besonders gute Idee hat.

      »Ich habe mich als Koch gemeldet. Der Koch ist der wichtigste Mann in der ganzen Kompanie. Der Koch kommt nie an die Front, er bekommt ein sorgfältig getarntes Eckchen hinter der Front. Und wenn es ernst wird, dann ist er als Erster weg. Ohne Mampf kein Kampf, das gilt sogar für den Offizier.«

      Aha, jetzt kommt er langsam mit der Wahrheit raus. Was einer im Krieg wirklich konkret gemacht hat, ist meistens ein ganz großes Geheimnis. Ob Sieger oder Besiegter, Heldenhaftes hat kaum jemand zu berichten, über alles andere schweigt man besser. Die alten Leute reden nie über früher, nicht nur meine Großeltern, ich kenne niemanden, der über seine Erlebnisse im Krieg spricht.

      Natürlich, über den Krieg als abstraktes Ereignis sprachen sie schon, über die Fehler, die gemacht wurden, die Dinge, die anders hätten laufen sollen. Aber immer auf eine Weise, als waren sie selbst nicht beteiligt, weder als Zuschauer noch als handelnde Person. Manchmal kam es mir so vor, als seien alle Deutschen im Rahmen eines touristischen Events in schlechte Gesellschaft geraten und hätten tatenlos zusehen müssen, wie alles zum Teufel ging.

      Von meinen Großeltern, auch von meinen Eltern, kannte ich nur die nackte Tatsache, dass man enteignet und ausgewiesen wurde. Mehr nicht, keine Details. Von meinem Großvater kannte ich nur den schlichten Sachverhalt, dass er Soldat gewesen war. Immer wieder sprach er von seinem Opel Blitz, als sei der ein wertvoller Oldtimer gewesen, an dem sein Leben gehangen habe. Womöglich hat es sich auch genau so verhalten.

      Gott segne die Demenz, denke ich und schäme mich gleich dafür. Meinen Opa aushorchen, indem ich seine Krankheit schamlos ausnutze, kommt mir nicht richtig vor. Die Neugier siegt jedoch schnell und leicht. Die Geschichtsbücher sind voll von kühlen Fakten über alle möglichen Kriege, beim Zweiten Weltkrieg übertreffen sie sich in der emotionslosen Präzision in Form der Aneinanderreihung von Schlachten und Entscheidungen. Selbst der fünfmal pro Seite vorkommende Hinweis, Deutschland habe sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht, verkommt in dieser Betrachtungsweise zu einem bloßen Aufsagen. Nichts von dem wird für mich fühlbar, nachempfinden kann ich es nicht wirklich.

      Doch mit fortschreitender Krankheit meines Großvaters steigt die Chance, mein dürftiges Gerippe aus Wissen und Ahnung mit Einzelheiten zu füllen, möglicherweise sogar mit Emotionen. Mein Großvater scheint sich zu freuen, etwas erzählen zu können. Warum sollte ich ihn enttäuschen?

      »Wie hast du denn das angestellt?«, frage ich vorsichtig. Ich will ihn ja nicht mit Kritik verprellen.

      »Du warst doch Bauer. Deine Frau hat gekocht. Wie konntest du damit durchkommen?«

      »Halb so wild. An der Front gibt es keine Gourmets. Der Magen muss voll sein, um mehr geht es nicht. An der Front ist ständige Angst und Hektik dein Begleiter. Das Essen muss schnell