Thomas Pfanner

Johann Gabb


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der Feind anständig bekämpft wird, sorgt man noch für ein paar Massaker und Ausrottungen. Alle bereichern sich selbst dann noch ausgiebig, wenn klar ist, dass sie die Beute nur ein paar Wochen behalten können. So war es auch in Mágocs.«

      Mágocs, 1944. Eichmanns Taten

      Das ganze Dorf hatte sich versammelt. Eine unfassbar absurde Situation galt es zu beobachten, die über sie hereingebrochen war. Die ganze Sache erschien derart unwirklich, dass niemand darauf adäquat reagieren konnte.

      Johann stand an der großen Kreuzung und schaute fassungslos auf den Auszug der Familien.

      »Der Harald hat recht gehabt. Er hat tatsächlich recht gehabt.«

      Sein leises Selbstgespräch konnte gar nicht leise genug sein, um in der Stille ungehört zu bleiben. Alle Zuschauer schwiegen, die vorbeiziehenden Familien schwiegen, selbst die Bewacher gingen wortlos neben ihren Opfern her.

      »Was meinst du, Gabb?«, raunte Josef Halbich. Er stand neben ihm, und als er sprach, wurde auch der Strasser aufmerksam und rückte etwas näher.

      »Sie bringen sie alle weg. Wirklich alle. Ganz Ungarn erlebt gerade die gleichen Szenen.«

      »Aber warum?«, fragte Josef. »Für was für eine Art Arbeitseinsatz benötigt man Frauen und Kinder und Alte? Das hat doch keinen Sinn.«

      Johann nickte und drehte sich etwas zu den beiden Männern hin, nicht so sehr zur besseren Verständigung, sondern damit seine Kinder nichts hören konnten.

      »Natürlich hat das keinen Sinn. Alles an diesem Krieg hat keinen Sinn. Mit der ganzen Welt Krieg anzufangen und gleichzeitig einen Teil seiner eigenen Bevölkerung erst von der Mithilfe an den Anstrengungen auszuschließen und schließlich seine ganze Kraft darauf zu verwenden, diese Leute auszurotten. Das ist so unendlich dumm, mir fallen keine Worte dafür ein. Man muss sich schämen, ein Deutscher zu sein.«

      »Und demnächst dürfen wir für diese Wahnsinnigen auch noch Soldat spielen«, warf der Strasser ein.

      »Sicher. Wir sind das letzte Aufgebot. Du weißt doch, was für gewöhnlich das Schicksal des letzten Aufgebotes ist? Mit dem letzten Aufgebot hat noch nie jemand einen Krieg gewonnen.«

      Die beiden anderen schauderten.

      »Was für ein Glück, hier in Ungarn zu leben. Ich möchte nicht in Deutschland sein, wenn da alles zusammenbricht und die Russen von Tür zu Tür gehen«, wisperte Josef mit einem Hauch Grusel in der Stimme. Sie kannten die Geschichten ihrer Väter aus dem letzten Weltkrieg, auch die aktuelle Propaganda tat ihr Übriges.

      »Da wäre ich mir nicht so sicher«, meinte Johann. »Der Kommunismus wird kommen, ganz sicher. Wir werden verstaatlicht und aller Besitz ist sofort weg. Wir fangen wieder von vorne an. Neue Herren, neues Unglück.«

      Johann wurde unterbrochen, als er einen leisen, unterdrückten Aufschrei hörte. Er drehte sich wieder um und sah seine älteste Tochter Agatha mit aufgerissenen Augen und von dem Mund gepresster Hand. Er folgte ihrem Blick. Gerade marschierten Susa und Tilda vorbei, ihre beiden Freundinnen. Sie winkten zaghaft herüber. Johann sah seiner Tochter an, dass sie am liebsten hinrennen würde für eine letzte Umarmung. Er sah ebenso ihre Angst, ihre Unsicherheit. Sie konnte sich nicht entschließen. Die beiden Mädchen gingen weiter, der Augenblick verging. Seine Tochter schluchzte auf und rannte weg.

      Der Strasser brachte seine Gedanken wieder in andere Bahnen.

      »In drei Tagen müssen wir auch weg. Ob es auch so einen Auszug aus dem Dorf geben wird?«

      »Glaube ich nicht. Denen sind die Juden auf eine perverse Art wichtiger als wir. Dass wir sterben werden, ist für die Nazis normal. Aus dem Tod der Juden machen die eine Festlichkeit, da haben die richtig Spaß dran.«

      »Mache bitte keine Witze Johann«, sagte Josef Halbich. »Die Nazis hassen die Juden, die machen doch kein Fest daraus.«

      »Natürlich tun sie das. Du machst doch auch ein Fest aus dem Weihnachtsbraten, während dir die gebratene Gans ganz furchtbar egal ist und du sie doch mit einer gewissen Freude schlachtest. Den Nazis sind die Juden noch nicht mal egal, sie hassen sie. Wenn jemand einen Umzug veranstaltet, dann, weil er feiern will. Diese Soldaten feiern den Umstand, die Juden los zu werden.«

      »Klasse. Und uns ist die Welt auch bald los«, warf der Strasser gallig ein.

      »Nicht, wenn du am Leben bleibst.«

      Mit diesen Worten trennten sich die Männer. Es gab noch viel vorzubereiten. Die Frage nach dem Überleben musste er tatsächlich ausführlich bedenken.

      Buisdorf

      Mein Großvater sitzt auf seinem Stuhl schwer atmend, die Arme vor der Brust verschränkt.

      »Das war der Tag, als alle Juden aus dem Dorf weggebracht wurden. Fünfzehn Familien, seit Jahrhunderten in Mágocs ansässig und immer in Frieden lebend. Immer. Für diese Leute war es einstmals ein Segen, von den Türken befreit zu werden. Den Türken waren die Juden ebenso verhasst wie den Nazis. Im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn ließ man sie in Ruhe. Im unabhängigen Ungarn lebten sie auch nach dem Ersten Weltkrieg ganz ohne Verfolgung und ohne Sondersteuer und ohne Misstrauen zu erfahren. Sie gingen mit Ungarn, Deutschen und teilweise den Zigeunern in die gleiche Schule, sie spielten zusammen, als Erwachsene halfen sie sich gegenseitig. Herrgott, der einzige Arzt des Dorfes war Jude.«

      »Hat denn niemand versucht, die ganze Sache zu verhindern?«

      »Oh sicher«, meint er leicht zynisch. »Wie brave Bürger angesichts einer Kompanie SS die Dinge zu wenden versuchen: mit Verhandlungen. Der Bürgermeister ging zum kommandierenden Offizier und verlangte, den Arzt im Ort zu lassen, weil ansonsten niemand die medizinische Versorgung übernehmen würde. Der Drecksack hat sogar zugestimmt. Allerdings sollte die ganze Familie des Arztes trotzdem deportiert werden, nur den Arzt selber wollte man zurücklassen. Das hatte sich der Bürgermeister zwar anders vorgestellt, aber was sollte er tun? Selbst in heutigen, angeblich freien Zeiten wehren sich nur ganz wenige Menschen gegen die Obrigkeit.

      Nun, wie auch immer, der Arzt lehnte ab. Er wollte seine Familie nicht im Stich lassen. Und so zeigte er uns allen, wer hier Mut hatte und wer nicht.«

      Das muss ich erst mal sacken lassen. Er hat recht, ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sich die Leute damals gefühlt haben müssen. Der Krieg vor der Tür, die Soldaten im Dorf, alles auf den Kopf gestellt, dass ganze Leben, die Dorfgemeinschaft, die Zukunft, alles infrage gestellt.

      »Was war denn mit den beiden jüdischen Mädchen? Sind sie jemals zurückgekommen?«

      Er schüttelt nur den Kopf.

      »Die Aufrechten und Unschuldigen sind alle verloren. Ein paar zweifelhafte Gestalten kamen zurück, und zwar nur die zweifelhaften Gestalten. Ausschließlich Männer kehrten zurück, keine Frauen, keine Kinder. Aber das ist gar nicht das Problem.«

      Er blickt in die Ferne, es dauert eine ganze Zeit, bis er weiterreden kann.

      »Deine Mutter hat es sich nie verziehen, in dieser Situation zu viel Angst gehabt zu haben. Nicht den Mut gehabt zu haben, zu den beiden hinzulaufen und sich zu verabschieden. Dass die beiden geglaubt haben müssen, auch von ihr verraten worden zu sein.«

      Er macht eine kleine Pause und sieht mir fest und völlig klar in die Augen.

      »Mut zu haben und etwas zu riskieren kann schlimme Folgen haben. Keinen Mut zu haben aber ebenso. Falsche Entscheidungen verfolgen dich ein Leben lang. Das Schlimme ist: Du weißt das vorher nicht. Du entscheidest in einer Sekunde und lebst ein Leben lang mit den Konsequenzen. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Tue das, was dein inneres Gefühl dir sagt. Wenn es schief geht, kannst du wenigstens sagen, das Richtige getan zu haben. Man darf nicht in Angst leben. Die Menschen werden zu Untieren, weil sie zu viel Angst haben. Freiheit kann es nur geben ohne Angst.«

      *

      Einige Tage sind vergangen. Die Situation hat sich ein wenig gebessert. Mein Opa isst und trinkt gut, seine Kräfte kehren zurück. Offensichtlich gibt es einen