Lina-Marie Lang

Das Geheimnis der Keshani


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sie.

      „Wir können hier nicht bleiben", sagte Callanor. „Weckt die anderen. Wir brechen das Lager ab."

      „Was ist da draußen?", fragte Nadira.

      „Nichts Gutes."

      ***

      Das Abbauen des Lagers ging noch wesentlich schneller als das Aufbauen. Callanor trieb sie an, sich zu beeilen. Er lies keine Ausreden, keine Verzögerungen zu. Niemand wusste, was eigentlich los war, und Callanor ging auch nicht auf Fragen danach ein.

      Während die anderen das Lager abbauten, verschwand Callanor immer wieder aus der Senke und beobachtete irgendetwas dort draußen. Dass er niemandem verriet, was dort lautere, verschlimmerte die Nervosität der anderen nur noch.

      Callanor blieb nie lange weg, aber er ging immer wieder und kam kurze Zeit später zurück und wurde immer hektischer. In der Dunkelheit war es nicht einfach, die richtigen Handgriffe zu machen, selbst wenn man sie schon gewöhnt war.

      Als sie das Lager endlich abgebaut hatten, scheuchte Callanor sie auf ihre Pferde und führte sie aus der Senke. Er benutzte denselben Weg, auf den sie am Abend zuvor hineingeritten waren. Nadira war sich sicher, das er eigentlich die andere Richtung hatte einschlagen wollen, tiefer hinein in die Ödländer von Miragar. Aber er hatte etwas entdeckt, das ihn so sehr beunruhigt hatte, dass er einen anderen Weg einschlug.

      Links neben ihnen wuchsen die Schatten der Tokarberge in die Höhe, rechts lag das Meer aus Dunkelheit, das wie ein schwarzer Spiegel wirkte, komplett flach und bis zum Horizont reichend. Sie waren etwa eine Stunde unterwegs, als weit, weit rechts von ihnen, der Himmel anfing, ein wenig heller zu werden. Der Anblick beruhigte Nadira ein wenig, die Sonne ging auf, bald würde es hell sein. Am Tage würden sie alle die Gefahr sehen können, vielleicht verschwand sie dann sogar ganz.

      Der Sonnenaufgang in Miragar war aber nicht mit dem Sonnenaufgang zu vergleichen, den Nadira aus Alluria kannte. Während die Sonne in Alluria die Welt lebendig erscheinen ließ, sie in ein freundliches Licht tauchte, das das Erwachen eines neuen, freundlichen Tages ankündigte, war es hier ganz anders. Das Licht, das langsam über dem Land aufstieg, wirkte überhaupt nicht warm und freundlich. Es war, als wäre das Licht in Miragar krank. Die Wolkendecke über dem Land schien alle warmen Farben aus der Sonne zu filtern. Übrig blieb ein blasses, kränkliches Licht, das kaum gegen die Dunkelheit ankam.

      Eine weitere Stunde verging, ehe die Dunkelheit endlich wich. Nadira hatte das Gefühl, dass es sich um einen Kampf der geschwächten Sonne gegen den starken Schatten handelte, und dass es vollkommen unklar war, wie dieser Kampf ausging. Diesmal hatte die Sonne gewonnen, aber würde sie es morgen auch noch tun? Was würde passieren, wenn die Sonne verlor? Würde die Dunkelheit Miragar dann komplett verschlingen?

      Obwohl die Sonne jetzt vollständig aufgegangen war, war das Land immer noch düster, ein Land der ewigen Dämmerung. Ein Land, in dem das Licht so schwach war, dass es nicht mehr als eine Dämmerung im Kampf gegen die Dunkelheit herausschlagen konnte.

      Nadira suchte die staubige Ebene rings um sich herum nach Anzeichen von Gefahr ab. Aber abgesehen davon, dass sie sich in einer scheinbar unendlichen Ebene befanden, in der es nichts gab, außer Staub, konnte sie nichts entdecken. Das Land selbst war schon gefährlich genug, aber hier gab es noch schlimmere Gefahren.

      Als Nadira bemerkte, dass sich die Tokar Berge jetzt wieder in ihrem Rücken befanden, erkannte sie, dass Callanor sie in einem weitem Bogen geführt hatte. Der Bogen musste sehr weit gewesen sein, denn Nadira hatte davon nichts mitbekommen. Oder war es dieses Land, das kaum Orientierung erlaubte? Nadira schauderte.

      „Wohin reiten wir überhaupt?" Seit sie los geritten waren, hatte niemand mehr etwas gesagt. Es fiel Nadira nicht leicht, diese Stille zu brechen, aber es war ihre Mission und sie sollte zumindest wissen, was ihr Ziel war.

      „Habt Ihr die Lichter gesehen, heute Nacht?"

      „Ja", sie hatte sie gesehen, aber sie war sich bis eben nicht sicher gewesen, ob sie wirklich existiert hatten oder nur in ihrer Einbildung.

      „Vermutlich ist es ein Dorf. Ich versuche, es zu finden. In Gesellschaft anderer Menschen sind wir sicherer."

      Nadira spürte, dass Callanor etwas verschwieg, etwas über die Lichter, über die Menschen. „Und vor was laufen wir davon?"

      „Ich weiß es nicht", sagte Callanor. Aber sein nervöser Blick, mit dem er die Ebene absuchte, sagte Nadira, dass er nicht die volle Wahrheit sagte. „Und ich will es nicht herausfinden", sagte Callanor dann kurzer Zeit später, aber viel leiser.

      Er hatte Angst. Er hatte Angst vor dem, was da draußen war. Was war los in diesem Land, dass ein Mann wie Callanor Angst hatte? Sicher, auch erfahrene und tapfere Menschen hatten Angst. Sicher hatten auch Callanor und die anderen Krieger Angst gehabt, als sie von den Wölfen gejagt worden waren, aber das hier war etwas anderes. Im Moment herrschte keine direkte Bedrohung, trotzdem war die Angst fast greifbar.

      ***

      Gegen Mittag entdecke Nadira vor sich dunkle Flecken in der Landschaft. Sie konnte nicht erkennen, um was es sich handelte, aber für Menschen waren sie zu groß. Sie hatte den Eindruck, dass sie gar nicht weit weg waren, vielleicht zwei Meilen. Wieso hatte sie sie jetzt erst bemerkt? Und WAS hatte sie da überhaupt bemerkt?

      „Es ist ein Dorf", sagte Callanor. Er schien sich wieder ein wenig entspannt zu haben. „Hoffentlich sind wir willkommen."

      Sie hielten direkt auf das Dorf zu, auch wenn es für Nadira nach wie vor nur eine Ansammlung dunkler Flecken war. Obwohl sie direkt darauf zu ritten, hatte sie das Gefühl, dass es einfach nicht näherkam. Entfernungen waren in diesem seltsamen Land wirklich schwierig einzuschätzen.

      Langsam wuchsen die Flecken und wurden zu dreidimensionalen Objekten. Zwischen den Objekten, es musste sich um Hütten handeln, sahen sie Bewegungen.

      Als sie sich dem Dorf weiter näherten, nahmen die Bewegungen immer weiter ab. Die Leute verstecken sich vor uns, dachte Nadira. Und irgendwie konnte sie es verstehen. Sie würde sich auch verstecken, wenn sich in diesem Land fremde Leute ihrem Dorf näherten.

      Die Objekte entpuppten sich wirklich als Hütten. Aber diese Hütten waren ganz anders als Nadira sie sich vorgestellt hatte. Sie schienen größtenteils aus Leder zu bestehen, oder waren sie nur mit Leder verkleidet? Die Hütten waren klein. Selbst die Hütten im Armenviertel von Seraint wirkten riesig im Vergleich zu den Lederhütten dieses Dorfs.

      Nadira fiel ein, dass das Volk von Miragar nicht lange an einem Ort blieb. Sie zogen in der unwirklichen Ebene des Landes umher. Wahrscheinlich kam daher die Bauweise ihrer Hütten, Hütten aus Holz hätten sie nicht transportieren können.

      Zwischen den Hütten entdeckte sie einige Gestalten, sie waren ebenfalls in Leder gekleidet. Die Kleidung wirkte alt und verschlissen. Alle Menschen die sie sah, trugen ein Tuch um den Kopf gewickelt, sodass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte.

      Callanor hielt die Gruppe am Rand des Dorfes an. Mehrere Einheimische hielten sich in der Nähe auf. Nadira erkannte keine Möglichkeit, die Leute voneinander zu unterschieden. Sie war nicht einmal in der Lage, das Geschlecht der Menschen zu bestimmen.

      „Ich grüße euch", rief Callanor, laut genug, dass ihn alle hören konnten. „Wir sind harmlose Reisende und bitten darum, die Nacht im Schutze eures Dorfes verbringen zu dürfen."

      Niemand reagierte auf seine Ansprache. Die Leute standen nur da und starrten sie an, niemand sagte etwas, tatsächlich bewegten sich die meisten Leute kaum. Callanor wandte sich an den Dorfbewohner, der ihm am nächsten war. „Bring uns bitte zu den Dorfältesten."

      Der Mann, falls es ein Mann war, starrte Callanor nur an, aber reagierte nicht auf das, was er gesagt hatte. Callanor stieg von seinem Pferd ab und bedeutete den anderen ebenfalls abzusteigen.

      Plötzlich drehte der Dorfbewohner sich um und ging davon. „Kommt." Callanor winkte den anderen und sie folgten ihm tiefer in das Dorf hinein. Nadira bemerkte schnell, dass ihr erster Eindruck nicht ganz richtig gewesen war. Ja, die Dorfbewohner hatten sich versteckt, aber nicht in den Hütten, sie