Lina-Marie Lang

Das Geheimnis der Keshani


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ihnen ein Labyrinth von Gängen entstand. Es war schwierig sich hier zurechtzufinden, denn die Hütten waren absichtlich so platziert, dass es keine geraden Wege gab.

      In der Mitte des Dorfes lag ein großer, offener Platz. Die meisten Dorfbewohner schienen sich hierher zurückgezogen zu haben. Sie alle trugen Kleidung aus Leder und diese Tücher um die Köpfe gewickelt. Nadira war immer noch nicht in der Lage, Männer und Frauen voneinander zu unterschieden, aber sie sah eine Handvoll Kinder.

      Ihr Führer hielt auf eine Hütte zu, die sich von den anderen kaum unterschied, sie war nur ein wenig größer. Bevor er (oder sie?) die Hütte betrat, bedeutete er Callanor zu warten.

      „Wieso sind sie so still?", flüsterte Aurel. Sie sah sich immer wieder nervös um, wie auch die anderen der Gruppe. Niemand schien in der Lage, die Menschen hier einschätzen zu können, nur Callanor war jetzt wieder ruhig. Es beruhigte Nadira, zu sehen, dass ihn nicht mehr diese Angst quälte, wie draußen auf der Ebene.

      Es dauerte nicht lange, da tauchte der Dorfbewohner wieder auf und winkte Callanor hinein. War es überhaupt derselbe?

      „Dyna, Darec, begleitet mich." Callanor wartete keine Antwort ab, sondern schlüpfte in die Hütte. Nadira folgte ihm, war aber deutlich zögerlicher als Callanor.

      Die Luft im Inneren der Hütte war stickig. Direkt hinter dem Eingang befand sich eine Art kleines Vorzimmer. Der Hauptraum der Hütte war durch einen Vorhang aus Stoff von diesem Vorzimmer abgetrennt. Ein Dorfbewohner hielt den Vorhang offen und wartete, bis sie alle den Hauptraum betreten hatten.

      Der Raum war annähernd rund, der Boden mit Leder bedeckt, als Sitz- und vermutlich auch Schlafgelegenheiten gab es Kissen und Felle. Ein alter Mann saß gegenüber dem Eingang auf einem Kissen. Er war genauso gekleidet wie die anderen Dorfbewohner, aber er trug nicht das Tuch, das die Gesichter der Anderen verdeckte.

      Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen, seine Augen waren blass, aber trotzdem seltsam lebendig. Nadira hatte den Eindruck, dass er sehr alt sein musste. An seiner Seite, jeweils links und rechts, saß je eine weitere Person, deren Gesichter aber durch ein Tuch verdeckt waren.

      Der Alte deutete auf Kissen, die im gegenüber lagen. Callanor setzt sich auf eines der Kissen und sagte „Setzt euch", zu den anderen. Nadira fühlte sich unbehaglich. Außer dem Alten, den beiden an seiner Seite und der Person, die den Vorhang offen gehalten hatte, befanden sich noch zwei weitere Dorfbewohner im Raum. Aber die anderen hielten sich um Hintergrund. Sie stand an den Wänden aus Leder und starrten die Besucher nur stumm an.

      „Ihr sucht also Schutz für die Nacht?" Die Stimme des Alten klang rau und trocken, aber nicht schwach und brüchig, wie Nadira erwartet hatte.

      Callanor nickte. „So ist es. Wir sind Reisende und wir wissen um die Gefahren des Landes. Deshalb bitten wir euch, die Nacht bei euch verbringen zu dürfen."

      „Wir haben keinen Platz für Fremde", sagte der Alte.

      „Wir bitten nicht um Schlafplätze in euren Hütten", sagte Callanor. „Wir haben unsere eigenen Zelte. Wir bitten nur darum, uns eurem Dorf anschließen zu dürfen. Für eine Nacht."

      Der Alte schwieg eine Weile. „Und was bietet ihr uns für unseren Schutz?", fragte er schließlich. Er deutete auf Nadira. „Diese Frau?"

      Nadira zuckte zusammen. Wie konnte er es nur wagen? Doch ehe sie etwas sagen konnte, sagte Callanor: „Nein. Sie eine hohe Dame dort wo wir herkommen. Aber ich bin sicher, wir besitzen etwas, das für euch von Wert ist."

      „Wir haben nicht genug Frauen", sagte der Alte. „Habt ihr noch mehr Frauen bei euch?"

      „Wir haben noch eine Frau bei uns", sagte Callanor. Nadira wollte auffahren. Wollte er ihnen etwa Aurel überlassen? „Aber sie ist die Dienerin der hohen Dame und kann euch nicht überlassen werden."

      Das Gesicht des Alten verfinsterte sich. „Was habt ihr dann zu bieten?"

      „Felle und Leder", sagte Callanor. Damit hatte er die Aufmerksamkeit des Alten geweckt.

      „Und ihr würdet sie uns überlassen?"

      „Nicht alle. Aber eine angemessene Menge", sagte Callanor. „Wir sind auf dem Weg nach Resperu."

      Bei Erwähnung des Namens zuckte der Alte zusammen. „Nun gut", sagte er. "Ihr könnt bleiben. Für eine Nacht."

      Callanor verneigte sich. „Ich danke euch. Und gerne werden wir unsere bescheidenen Vorräte mit euch teilen."

      „Und wir unsere mit euch." Nadira hatte das Gefühl, dass es sich bei diesem Angebot um eine Tradition handelte. Am Gesicht des Alten war nicht abzulesen, ob er damit einverstanden war.

      Callanor verneigte sich noch einmal, Nadira und Darec taten es ihm gleich. Dann verließen sie die Hütte wieder. „Wir bleiben", sagte er zu den anderen. „Wir bauen unser Lager auf, so, dass es in das Dorf integriert ist."

      ***

      Als sie ihr Lager aufbauten, begriff Nadira, dass die Hütten, in denen die Dorfbewohner lebten, eher mit ihren Zelten vergleichbar waren, als mit den Häusern in Seraint. Die Bewohner des Ödlands von Miragar waren zwar keine Reisenden, wie Nadira und ihre Begleiter, aber sie waren ihr ganzes Leben lang unterwegs. Das Land Miragar zwang sie dazu immer in Bewegung zu bleiben.

      Nadira hatte nicht verstanden, was Callanor damit gemeint hatte, ihr Lager in das Dorf zu integrieren. Aber es war schnell klar geworden, als sie mit dem Aufbau anfingen. Sie stellten ihre Zelte so auf, wie die Dorfbewohner es mit ihren Hütten getan hatten. Statt im Kreis um ein Lagerfeuer, bildeten sie enge Gassen zwischen den Zelten und den Hütten des Dorfes.

      Während sie ihre Zelte aufbauten, tauchten immer wieder Dorfbewohner auf. Natürlich waren sie neugierig auf die Fremden, die aus einem anderen Land gekommen waren, auf die seltsame Kleidung, die sie trugen (aus der Sicht von Leuten aus Miragar) und die seltsamen Zelte, die sie aufstellen. Aber Niemand wage es, die Fremden anzusprechen. Vielleicht wussten sie auch einfach nicht, was sie fragen sollten.

      Sie stellten ihre Zelte am Rand des Dorfes auf. Wie ihnen das Schutz bieten sollte, war Nadira nicht klar, aber sie vertraute darauf, dass Callanor wusste, was er tat.

      Als sie mit dem Aufbau fertig waren, tauchte ein Dorfbewohner auf, blieb in der Nähe von Nadira stehen und starrte sie an. Nadira achtete nicht weiter darauf, da immer wieder Dorfbewohner auftauchten und sie beobachteten. Deshalb kümmerte sie sich erst um ihren Schlafplatz.

      Als sie kurz darauf wieder aus dem Zelt herauskroch, stand der Dorfbewohner immer noch an derselben Stelle. Als Nadira ihn (oder sie?) näher begutachtete, bekam sie das Gefühl, dass es derselbe war, der sie zum Ältesten gebracht hat. Aber sie konnte nicht genau sagen, woher sie das wusste.

      Wieso stand er nur da und starrte sie an? Hatte das eine bestimmte Bedeutung? War es einfach nur die Art der Bewohner von Miragar? Oder die Art dieser Person? Nein, sie hatte es schon zu oft gesehen. Es war sicher kein Verhalten dieser einen Person. Nadira ging auf den Dorfbewohner zu und sah ihn fragend an.

      „Der Älteste würde jetzt gerne die Geschenke sehen", sagte er plötzlich. Er kann ja doch reden, dachte Nadira. An der Stimme erkannte sie nun auch, dass es sich um einen Mann handelte.

      „Darüber musst du mit Callanor reden", sagte Nadira. „Der Mann, der mit dem Ältesten verhandelt hat."

      „Aber bist nicht du die hohe Dame?"

      „Ja. Aber ich habe die Verhandlungen nicht geführt." Nadira überlegte, ob sie ihn einfach wegschicken sollte. „Komm, wir gehen zu Callanor."

      „Callanor", rief Nadira. „Er kommt, um die Geschenke abzuholen."

      Callanor sah den Dorfbewohner einen Augenblick an. Konnte er diese Menschen unterscheiden? Offensichtlich ja. Auch wenn Nadira nicht klar war, woran genau. Vielleicht war es einfach eine Sache der Erfahrung.

      „Wir sind noch nicht ganz soweit. Wir sind eben erst mit dem Aufbau fertig geworden", sagte Callanor. „Richte dem Ältesten bitte aus, dass ich ihm die Felle persönlich vorbeibringen werde, sobald ich hier