Lina-Marie Lang

Das Geheimnis der Keshani


Скачать книгу

konnte. Für einen Moment gewann wieder die Panik Oberhand. Nadira sah vor sich eine Ebene, vollkommen ausgefüllt von schattenhaften Wesen, so weit das Auge reichte. Und ihre kleine Gruppe mittendrin, ein verlorener Lichtpunkt in einem Meer aus schattenhaften Leibern, von Kreaturen, die über sie herfallen würden, sobald das Licht verschwunden war.

      „Was ist mit den anderen Fackeln?", fragte Tinju. „Sie werden auch nicht mehr lange halten."

      „Wir warten damit, bis die Fackeln fast ausgehen. Wir haben nur begrenzte Mengen Stoff", sagte Callanor. „Wir müssen die Fackeln die ganze Nacht brennen lassen. Nur so haben wir eine Chance."

      „Werden sie verschwinden, wenn es Tag wird?" Aurels Stimme zitterte noch immer.

      „Wir wollen es hoffen."

      Sie setzten sich wieder in Bewegung. Die Masse der schattenhaften Bewegungen teilte sich vor ihnen, und hinter ihnen schloss sie sich wieder.

      „Wie viele das wohl sind?", fragte Lledar. Er schien eher erstaunt, als verängstigt zu sein.

      „Zu viele, um sie zu bekämpfen", sagte Darec.

      „Du weißt, was sie sind. Nicht wahr?", fragte Nadira.

      Darec nickte. „Ich vermute es zumindest." Aber er sprach nicht weiter.

      „Was sind sie?"

      „Erinnerst du dich an meine Erzählung von der Fahrt? Ich war schon einmal in Miragar."

      „Du meinst diese Wesen, die euch angegriffen haben?" Nadira konnte sich noch an die Erzählung erinnern, allerdings nicht mehr an alle Details.

      „Ja. Die meine ich. Nur waren es weniger." Nach einigen Sekunden fügte er hinzu: „Viel weniger."

      Darec war damals mit anderen Kriegern zusammen gewesen. Er sagte, sie hatten nur durch Glück überlebt, weil sie Hilfe bekommen hatten. Eine Ashari hatte sie gerettet. Ohne ihr eingreifen wären sie alle getötet worden. Und jetzt waren sie von diesen Kreaturen eingekreist, und es waren viel mehr als damals.

      Zwar hatten sie sogar zwei Ashari in der Gruppe, aber was nutzt dass, wenn diese nicht wussten, wie sie die Kreaturen abwehren konnten?

      Eine Stunde verging. Nadira hatte das Gefühl, dass der Lichtschein der Fackeln immer schwächer wurde, und dass die Kreaturen immer näherkamen. Sie hatten noch zwei weitere Male anhalten müssen, um Fackeln neu zu entzünden. Der Stoff, den sie noch zur Verfügung hatten, wurde immer weniger.

      Als sie das vierte Mal anhielten, entdeckte Nadira eine der Kreaturen, die sich weiter in den Lichtschein hineingewagt hatte als die anderen zuvor. Für einen kurzen Moment konnte Nadira sie deutlicher erkennen. Eine humanoide Gestalt, Arme und Beine, aber die Arme waren grotesk lang und endeten in langen Klauen. Die Beine waren im Verhältnis zum Körper und den Armen viel zu kurz. Und das Ding, das sie sah, hatte keinen Kopf.

      „Sie kommen näher heran", sagte Nadira. „Ich konnte einen gerade deutlich erkennen."

      „Was ist es?", fragte Aurel.

      „Ich weiß es nicht. Es sind wohl wirklich diese Kreaturen, aus Darecs Erzählung."

      Callanor entzündete die Fackel neu. „Das Licht wird immer schwächer. Unser Stoff brennt weniger hell als die Fackeln der Dorfbewohner. Und wir haben nicht mehr viel Stoff übrig."

      „Wird es reichen?"

      „Ich fürchte nicht."

      ***

      Die Befürchtung wurde schon bald zur Gewissheit. Ihre improvisierten Fackeln brannte bei Weitem nicht so lange wie die Fackeln der Dorfbewohner. Es dauerte etwa eine Stunde, bis die Stoffstreifen aufgebraucht waren.

      „Das war der Letzte", sagte Callanor und reichte Lledar die Fackel zurück.

      „Die Fackeln werden immer kürzer", sagte Aurel.

      „Natürlich, auch das Holz brennt mit der Zeit ab. Auch wenn hauptsächlich der Stoff brennt und das Holz ein wenig schützt."

      „Was machen wir jetzt?", fragte Nadira. „Die Fackeln halten nicht mehr lange und es sind noch Stunden bis die Sonne aufgeht."

      „Wir müssen unsere Klamotten verbrennen." Darec warf Nadira einen entschuldigenden Blick zu. „Das heißt auch deine Kleider."

      „Ich kann doch nicht in diesen Klamotten am Hof von Resperu auftauchen", sagte Nadira.

      „Immer noch besser als gar nicht dort aufzutauchen", sagte Callanor. „Wenn wir nicht bis Sonnenaufgang durchhalten, ist alles egal."

      Zähneknirschend musste Nadira zugeben, dass er recht hatte. Was nutzte ein schönes Kleid, wenn man von irgendwelchen Monstern gefressen wurde? „Also gut", sagte sie nach einer Weile.

      Callanor hatte bereits angefangen, alles an Stoff, alle Klamotten, auch die Winterklamotten, die sie für die Rückreise brauchten, einzusammeln. Wie zuvor schnitt er alles in Streifen. Am Ende waren Nadiras feine Kleider an der Reihe. Nadira konnte nicht zusehen, wie er die teuren und feinen Stoffe zerschnitt, aber auch das Geräusch des zerreißenden Stoffs tat ihr in der Seele weh.

      Schließlich war es vollbracht und sie ritten weiter. Aber sie mussten jetzt viel öfter anhalten, um die Fackeln zu erneuern. Immer öfter wagte sich eine der Kreaturen näher an die Gruppe heran. Nadira hatte das Gefühl, dass die Helligkeit ihrer Lichtinsel mit jeder Minute nachließ.

      Schließlich war eines der Wesen außerordentlich mutig. Trotz der brennenden Fackeln schoss es plötzlich nach vorne. Es packte Lledar mit seinen riesigen, in langen Krallen endenden Klauen am Fuß und versuchte ihn vom Pferd zu zerren.

      Lledar schrie erschrocken, und vielleicht vor Schmerz, auf und versuchte sein Schwert zu ziehen. Aber ein grober Ruck brachte ihn aus dem Gleichgewicht und er musste sich mit aller Kraft am Sattel festhalten, um nicht zu Boden gerissen zu werden.

      Seine Situation verschlechterte sich noch, als sich sein Pferd vor Schreck aufbäumte, aber wahrscheinlich rettete ihm das auch das Leben. Das Pferd hatte offenbar nicht vor, als Futter für diese Kreaturen zu enden, und das zeigte es deutlich, indem es dem Ding vor die Brust trat.

      Die Kreatur gab einen fast kläglichen Schrei von sich und wurde von der Wucht des Tritts zu Boden geschleudert. Lledar klammerte sich mit aller Kraft am Sattel fest, während sein Pferd auf die Kreatur eintrat, bis sie sich nicht mehr bewegte.

      Callanor führte die Gruppe zügig ein gutes Stück von der Angriffsstelle weg, ehe er sich um Lledar kümmerte. „Bist du verletzt?"

      „Nur ein paar Kratzer."

      Nadria war anderer Meinung. Für sie waren diese „Kratzer" ausgewachsene Wunden. Aber Lledar war ein Krieger, er dachte wohl in anderen Maßstäben.

      „Reiten wir einfach weiter", sagte Lledar.

      „Das werden wir nicht. Ich muss das versorgen", widersprach Callanor.

      „Ich schaffe das schon."

      Callanor achtete nicht auf ihn, sondern nahm einen der Stoffstreifen, um die Wunde zu verbinden. „Ich glaube, dass du es schaffst. Aber das Blut würde die Guul nur noch mehr reizen. Sie können es riechen und es verstärkt ihren Hunger noch mehr."

      Lledar widersprach nicht mehr, als Callanor die Wunde versorgte. „Wir sollten uns darauf gefasst machen, dass solche Angriffe jetzt öfter passieren werden."

      Nadira hatte befürchtet, dass er das sagen würde. Aber mehr als das schockierte sie, was sie ein Stück hinter sich hörte. Geräusche von Fleisch das zerrissen wurde, und schmatzende Geräusche. Sie wusste genau, was das bedeutete. „Sie fressen ihn."

      „Was?", fragte Brancus.

      „Hört doch. Sie fressen ihn. Sie fressen die Kreatur, die Lledars Pferd getötet hat."

      „Und das wird sie nur aggressiver machen", sagte Callanor. „Kommt jetzt, wir müssen weg von hier."

      Es dauerte nicht lange, bis die nächste Kreatur