N. H. Warmbold

Winterkönig


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mich zu beruhigen und aufzumuntern, weil es bestimmt nicht gut ist, wenn ich so niedergeschlagen und unruhig bin, aber trotzdem!“ Ondra schlug die Hände vors Gesicht und konnte ihr raues Schluchzen nicht unterdrücken.

      „Nicht doch, Ondra“, versuchte Mara sie zu beschwichtigen, „weine doch nicht. Warum hast du denn Réa nichts gesagt, dann wäre ich längst gekommen?“

      „Sie hat erzählt, wie furchtbar beschäftigt du seist, dass du nicht einmal genug Zeit zum Schlafen hast.“

      „Unsinn, ich bin so beschäftigt, weil es mir Freude bereitet“, erklärte Mara rasch. „Wenn ich will, habe ich jede Menge Zeit.“

      „Wirklich?“

      „Natürlich.“ Sie lächelte Ondra aufmunternd zu und wandte sich an die Königin. „Eure Hoheit, könnte jemand Ondra einen Becher heiße Milch besorgen, nicht mit Honig, sondern mit dem Mark einer halben Vanilleschote und einer Messerspitze Zimt? Vielleicht der Soldat vor der Tür.“

      „Und ob“, erwiderte die Königin, rief dann: „Guy!“

      Die Tür wurde geöffnet und der Gardist trat ein, der Mara seinen Namen nicht genannt hatte, als er sie zur Königin brachte. „Königliche Hoheit?“

      „Wir brauchen einen Becher heißer Milch mit dem Mark einer halben Vanilleschote und einer Messerspitze Zimt“, wiederholte die Königin. „Das war doch richtig so, Mara?“

      Mara nickte bestätigend.

      „Natürlich, königliche Hoheit, sofort.“ Leise schloss Guy die Tür hinter sich.

      Ondra sah Mara mit vom Weinen geröteten Augen an und schniefte in ihr Taschentuch. „Du findest mich albern, stimmt's? Ich weiß auch nicht, als ich mit Mia schwanger war, habe ich mich nicht so gefühlt.“

      „War vielleicht auch eine andere Situation?“, meinte Mara.

      „Wie meinst du das?“, fragte Ondra nach.

      „Na ja, damals gingst du nicht mit dem möglichen Thronfolger schwanger“, erklärte Mara knapp. „Das ist schon etwas anderes.“

      „Wie bitte?“, fuhr Ondra auf. „Was soll das heißen?!“

      Mit einer vagen Geste hob Mara die Schultern und schaute etwas verlegen zur Königin. Hatte sie etwas Falsches gesagt? „Das heißt, solange Reik keinen Sohn hat, ist dein und Leifs Sohn der ... übernächste König von Mandura.“

      Fassungslos starrte Ondra sie an. „Mein Sohn? Aber … Woher weißt du das?!“

      „Wieso, du etwa nicht? Ich glaubte, jede Frau … Es ist doch schließlich ein Teil von ihr und …“ Zerknirscht sah sie zu Ondra und war jetzt mehr als nur ein wenig verlegen, zudem auch ziemlich durcheinander. „Ondra, ich wollte wirklich nicht …“

      „Oh Mara, du bist ein Schatz, genau das!“ Lachend zog Ondra Mara an sich, umarmte und küsste sie überschwänglich. Mara hörte zu ihrer Erleichterung die Königin in Ondras Lachen einstimmen.

      Es klopfte an der Tür und Tessa, Reiks Schwester, trat ein, in der Hand ein Glas. Sie nickte Mara verhalten zu. „Ich habe Guy auf dem Flur getroffen, Mutter, er hat mir das hier mitgegeben. Für wen ist die Milch?“

      „Für mich, danke“, meldete sich Ondra.

      „Seit wann trinkst du Milch, Ondra?“, erkundigte sich Tessa. „Vorsichtig, sehr heiß!“

      „Hat Mara mir verordnet“, gab Ondra zurück.

      „Aha.“ Anmutig ließ Tessa sich Ondra und Mara gegenüber auf einem Sessel nieder. Das junge Mädchen war hübsch, strohblond und recht groß, was in der Familie zu liegen schien. Mit ihrer schlanken Figur und um einiges jünger als Reik wirkte sie zurückhaltend und distanziert. „Zur Beruhigung, nehme ich an?“

      „Im Gegenteil, zur Anregung, Hoheit.“ Mara lachte und blickte Tessa offen an, die zu ihrer Überraschung rot wurde.

      „Nun ja, ich bin keine Heilerin“, meinte Tessa nur.

      „Ich auch nicht“, erwiderte Mara.

      „Nein“, bestätigte Tessa, fast vorwurfsvoll. „Ihr seid ja eine Zauberin.“

      Interessiert betrachtete Mara die junge Prinzessin, die sie herausfordernd ansah und sich bemühte, den tadelnden Blick ihrer Mutter zu ignorieren. „So lautet wohl die Bezeichnung.“

      „Und das könnt Ihr auch beweisen?“, wollte Tessa wissen.

      Wieder lachte Mara, dieses Mal etwas leiser. Sie hatte nicht vor, sich von dem Mädchen provozieren zu lassen. „Ja. Wollt Ihr Beweise, Tessa?“

      „Nein, natürlich nicht“, erklärte diese hastig.

      Das war zweifellos gelogen. Ob Tessa auch so schnell nachgegeben hätte, wären sie allein gewesen? Die Selbstsicherheit, die Reik im Übermaß besaß, fehlte ihr offenbar, was Mara merkwürdig fand. Doch vielleicht war es gar nicht so merkwürdig. Sicher war es nicht gerade leicht, Reik zum Bruder zu haben, den nächsten König von Mandura. Reik, von dem alle sprachen, um den sich alles drehte, den alle liebten und bewunderten. Wo blieb da noch Platz für sie, Tessa, wer sprach von ihr? Sie war nur die kleine Schwester.

      „Träumst du?“, hörte sie Ondra sagen.

      „Wie bitte?“, erwiderte Mara und zuckte zusammen. Ihr wurde klar, dass sie Tessa die ganze Zeit über angestarrt haben musste. „Nein, ich dachte nur … ich versuchte mir vorzustellen, wie es ist, Geschwister zu haben.“

      In Wahrheit hatte sie überlegt, wie es wäre, wenn Reik ihr Bruder sei. Nein, nicht Reik, dann hätte sie mit ihrem Bruder geschlafen, aber jemand wie Reik. Das zuzugeben wäre Tessa gegenüber wohl doch etwas zu persönlich gewesen.

      „Ihr habt keine Geschwister?“, wollte Tessa wissen.

      „Nein, ich habe überhaupt keine Verwandten mehr, keine Familie, niemanden. Sie sind alle fort, tot.“ Wie konnte sie sich nur so verlassen fühlen? Der Boden schien sich unter ihr aufzutun und sie zu verschlucken, und niemand würde sie vermissen, niemand würde um sie trauern. Es war niemand da, der die Totenklage für sie singen könnte, denn sie war fremd. Ihr wurde plötzlich kalt. „Ich bin ganz allein auf der Welt.“

      „Das ist doch nicht wahr, Mara“, widersprach Ondra energisch. „Du bist nicht allein!“

      Mara blickte Ondra verzweifelt an, wollte schreien: ‚Doch, ich bin allein, jeder ist allein, vollkommen allein! Wir können niemals etwas anderes sein, können niemals unser Selbst mit anderen teilen! Niemals eins sein!’

      Doch sie schrie nicht und fand allmählich ihre Fassung wieder. Dennoch klammerte sie sich an Ondras Hand. Sie würde sie nicht trösten können, ebenso wenig wie Jula sie getröstet hatte und es auch jetzt nicht könnte. Nicht einmal Reik wäre imstande, sie zu trösten, nur vielleicht die Einsamkeit, diese entsetzliche Leere nachfühlen. Und doch sehnte sie sich plötzlich nach ihm, doch er war nicht im Palast, nicht einmal in der Stadt.

      Abrupt stand Mara auf und trat zum Fenster, um in den Regen hinaus zu starren. Sie sollte sich nicht so gehen lassen.

      „Es tut mir leid“, begann sie. „Ich … Vielleicht sollte ich besser gehen. Königliche Hoheit, ich danke für die Einladung und den Tee und alles, und kann nur hoffen, Ihr seht mir die eine oder andere Unvollkommenheit nach.“

      Die Hände vor der Brust zusammengelegt, neigte sie grüßend den Kopf. So war es im Tempel üblich. Höflich war es nicht, von sich aus zu gehen. Sie hätte warten sollen, bis man ihr die Erlaubnis erteilte. Doch in dieser Situation hielt sie es für klüger.

      Die Königin erhob sich, legte ihr sanft die Hand auf den Arm. „Aber natürlich, Mara“, versicherte sie ihr, „Und ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr mich wieder einmal besucht. Es ist überaus reizvoll, mit Euch zu plaudern.“

      „Wirklich? Aber ja, ich komme gern wieder.“

      „Das