Wolfgang Konig

Mein Ostpreußen


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sah man auf der Gangseite des Abteiles in der Ferne als riesige, eisbedeckte Fläche das Frische Haff. Der Junge verließ seinen Platz und blickte über das erstarrte Wasser hinweg. Ob ganz hinten am Horizont die Nehrung lag?

      Noch begriff er dieses Land mit seiner endlos scheinenden Weite, seinem klaren Licht und seinen geheimnisvollen Wäldern nicht, aber alles, was er jetzt in sich aufnahm, vertrieb in ihm immer mehr die düsteren Schatten der stundenlang durchwachten Nacht. Gegen Mittag fuhr der Zug dann in Ostpreußens Hauptstadt Königsberg ein.

      Im Sommer 1939 hatte Martins Mutter ihn am Schluss der großen Ferien von Grafs nach Hause geholt. Auf der Rückreise machten sie hier Station. Es war ein sonnendurchglühter Tag Ende August. Sie hatten einen ausgiebigen Stadtbummel gemacht und manche Sehenswürdigkeit besucht. Martin schien damals, dass Königsberg seiner Heimatstadt ähnlich sei. Der Hafen war fast wie bei ihnen zu Hause und auch dessen langer Wasserweg ins offene Meer. Auf seine Fragen danach gab seine Mutter ihm aber nur unter Vorbehalt Recht. Die wechselvolle Geschichte, die diese Stadt im Grenzland geprägt hatte, besaß seine Heimatstadt nicht.

      Abends hatten sie dann müde von dem Erlebten ihre Reise fortgesetzt. Die Kühle der Nacht war wohltuend. Bei der Fahrt durch den Korridor schlief Martin schon fest. Erst kurz vor Berlin wurde er von seiner Mutter am nächsten Morgen wieder geweckt. Ganz deutlich erinnerte er sich jetzt an die so weit zurückliegende unbeschwerte Zeit.

      Bald danach kam der Zug um Stunden verspätet in Insterburg an.

      ~~~

      Für Frau Graf in der Bismarckstraße 126 in Sprindt hatte der Briefträger heute zweimal Post. Mühsam stapfte er mit seinem Schäferhund durch den tiefverschneiten Vordergarten des Siedlungshauses und klingelte an der sonst nur von Fremden benutzten Tür. Zwar gab es auch den bequemeren, schneegeräumten Hintereingang durch die Veranda, aber dieser wurde von dem als Amtsperson in Uniform erscheinenden Postboten wohl absichtlich übersehen. Frau Graf öffnete ihm, wobei etwas von der draußen liegenden, weißen Pracht auf den sauberen Fußboden des Treppenhauses fiel und dort zu Wasser zerrann. Jedoch das kleine Übel bemerkte sie kaum, wichtig war jetzt allein der unfrankierte Feldpostbrief. Das Datum auf dem Stempel über Adler und Hakenkreuz lag nur drei Tage zurück. Da hatte ihr Mann noch gelebt und konnte ihr schreiben. In dieser unheilvollen Zeit war das ein wirklicher Grund zum Freuen! Zwar sagte die immer kürzer werdende Laufzeit der Ostfrontpost noch etwas Anderes, Bedrohliches aus, aber daran dachte Frau Graf jetzt nicht und las.

      Danach öffnete sie den zweiten Brief, der aus dem Reich gekommen war. Die Freude in ihrem Gesicht erlosch, als sie in dem Bericht ihres Schwagers das Schicksal dessen Patenkindes erfuhr. Frau Graf erschrak. Würde sie der ihr angetragenen Aufgabe gewachsen sein, sie allein ohne ihren Mann? Aber wenn sie ablehnend antworten würde, käme Martin wie auch andere Kriegswaisen bestimmt in irgendein nazistisch geführtes Heim, denn Verwandte besaß er nicht.

      Frau Graf musste an Martins letzten Ferienaufenthalt hier vor dem Krieg zurückdenken. Diesmal würde das kein zeitlich begrenzter Besuch sein. Sicherlich würde der elternlose Junge bis zu seiner Selbständigkeit viele Jahre bei ihnen bleiben. Günstigstenfalls bekäme sie vielleicht in ihm einen Sohn und Ursula das manchmal ersehnte Geschwisterkind. Jedoch gewiss war das nicht. Was sollte werden, wenn Martin sich in ihrer Familie nicht einleben konnte? Die jetzt von ihr erwartete Zusage würde später nur schwer korrigierbar sein!

      Sie stellte sich den Jungen von damals vor. Er war wie Ursula ein Einzelkind, aber offenbar viel derber als diese. Heimweh hatte er nicht gekannt, obgleich er oft von seinen Eltern sprach. Die beiden fast gleichaltrigen Kinder hatten gut miteinander gespielt. Auch zu dem Opa, ihrem Vater, hatte er wissbegierig und geschickt schnell Kontakt bekommen und ihm viel in dessen Werkstatt helfen dürfen.

      Martin war damals ein unkomplizierter, gut zu leidender Junge gewesen. Sicher würde er das auch jetzt noch sein. Jedoch, was war mit ihm beim Tod seiner Eltern geschehen? Ihr Schwager schrieb von einem erlittenen Schock und einem danach erforderlich gewordenen Klinikaufenthalt. Auch hatte man Martin deshalb für ein ganzes Jahr von jedem vormilitärischen Einsatz befreit. Wie schlimm es da um ihn stehen musste! Frau Graf beschloss, den Waisenjungen in ihre Familie aufzunehmen und war sich dabei auch der Zustimmung ihres Mannes gewiss.

      Um die Mittagszeit kam Ursula mit dem Obus aus dem Insterburger Lyzeum heim. Ihre Mutter hatte heute noch häufiger als sonst nach ihr durch das Küchenfenster Ausschau gehalten. Nun hörte sie noch bevor die Verandatüre ging wie die Fünfzehnjährige auf der Außentreppe zum Hof mit Gepolter den Schnee von ihren Schuhen abtrat. Gleich danach stand das Mädchen mit einem frohen Gruß bei ihr.

      Auch der Opa hatte aus seiner Werkstatt, dem Holzstall, Ursula kommen gesehen. Er legte den fast fertiggeschnitzten Löffel auf die Hobelbank und ging zum gemeinsamen Essen ins Haus.

      Gleich nach der Mahlzeit besprach Frau Graf mit ihrem Vater und ihrer Tochter Onkel Hermanns Brief. Ihr Vorschlag, Martin aufzunehmen, wurde von beiden Zuhörern unterstützt. Als Ursula fragte, welcher Art Martins Krankheit sei, antwortete ihre Mutter nur allgemein. Alle hier sollten gut zu ihm sein, dann würde er bestimmt bald wieder gesund!

      Der Opa war an seine Schnitzarbeit zurückgekehrt. Ursula hatte ihre Skier angeschnallt und fuhr den Weg abkürzend über die verschneiten Felder und Gräben zur Post. Wie lange brauchte eigentlich ein Telegramm bis zu seinem Empfänger im Reich, und wie lange dann Martin, bis er bei ihnen war? Dem Mädchen ging jetzt alles nicht schnell genug.

      Damals, in den letzten Sommerferien vor dem Krieg, hatte Martin einmal nur mit einer alten Taschenlampenlinse und einem Stückchen Schnürsenkel auf einem abgeernteten Frühkartoffelfeld zum Abkochen aus Sonnenschein Feuer gemacht und so die fehlenden Streichhölzer ersetzt. Auch hatten sie gemeinsam nach seinen Vorschlägen einen recht eigenartigen, schwanzlosen Drachen gebaut, der schon bei schwachem Sommerwind flog. Eine hübsche, damals nach frischem Gummi riechende Badekappe, die er ihr von seinem Taschengeld kaufte, war sein Abschiedsgeschenk. Sie hatten einander versprochen, sich recht bald wiederzusehen, bei ihm in der großen Stadt oder auch wieder hier in Sprindt. Aber dann war im Herbst der Krieg dazwischengekommen.

      Eine Zeitlang hatten sie noch Briefe und Bücher miteinander getauscht, bis auch das immer seltener wurde und schließlich unterblieb. Jedoch sie hatte Martin nicht vergessen. So manches Mal hatte sie ihn sich vorgestellt, größer und nun schon fast erwachsen geworden. Aber das alles war bis zum heutigen Tag lediglich ein Gedankenspiel geblieben. Wenn Martin jetzt Hilfe brauchen würde, wollte sie für ihn da sein, ganz bestimmt !

      In der Zeit, in der Ursula zur Post fuhr, schrieb Frau Graf das Geschehene ausführlich ihrem Mann.

      Martins Patenonkel erhielt noch am gleichen Tag das Telegramm. Es bestand nur aus einem einzigen Satz, in dem es hieß: „Wir freuen uns auf unser neues Familienmitglied.“ Darunter stand Ursulas Namen.

      ~~~

      Einige Tage danach, am Sonnabend vor Monatsende, hatte Ursula in der letzten Schulstunde mit Zustimmung ihrer Lehrerin gefehl, um Martin vom Bahnhof abholen zu können. Jedoch um zwei Uhr nachmittags war der Zug aus Berlin immer noch nicht da. Die Fahrschüler, die nach dem Unterricht hier vorbeigekommen waren, hatten ihr zunächst noch die Wartezeit verkürzt, danach aber wurde diese wirklich lang. Wann wohl würde sie mit Martin in Sprindt zu Hause sein? An Wochenenden fuhren auch nicht mehr die Busse so oft wie sonst.

      Sie trat auf den Bahnhofsvorplatz und stieg die Stufen der über die Geleise führenden Fußgängerbrücke hinauf. Das Geschehen auf den Bahnsteigen lag gut überschaubar unter ihr und erinnerte sie an ihre daheim schon fast in Vergessenheit geratene elektrische Spielzeugbahn. Obgleich sie doch ein Mädchen war, hatte Vater ihr, wenn auch ein wenig verlegen, diese zum letzten Weihnachtsfest vor dem Krieg geschenkt. Außerdem hatte sie von beiden Eltern wunderschöne Skier dazubekommen. Vielleicht würde sich nun Martin über die Eisenbahn freuen! Endlich kündete der Lautsprecher die bevorstehende Einfahrt des Zuges an. Ursula lief schnell zum Bahnhof zurück und stand auf dem Bahnsteig, als die mit Eiszapfen behangene Dampflokomotive mit ihren Wagen zum Stehen kam.

      An ihr strömten Menschen vorbei. Sie blickte hastig in jedes ihr zu Martin passend scheinende Gesicht, doch alle waren ihr fremd. Es wurde immer