Wolfgang Konig

Mein Ostpreußen


Скачать книгу

sie, bis auch er sie erkannte. Wie groß sie doch in den vergangenen fünf Jahren geworden waren! Die Kinder gingen die letzten sie noch trennenden Schritte aufeinander zu und begrüßten sich freudig.

      Martins Gepäck teilten sie untereinander auf. Nachdem Unterführung und Sperre passiert waren, stand zufällig auf dem Bahnhofsvorplatz ihr Bus. Sie bekamen sogar einen Sitzplatz, und warm war es im Wageninneren auch.

      Auf der Fahrt durch die Hindenburgstraße zum Alten Markt zeigte Ursula stolz auf die vornehmen, in Bahnhofsnähe stehenden Hotels und auf große Geschäfte, in denen es früher viele verlockende Dinge gegeben hatte. Insterburg war ein Verkehrsknotenpunkt und besaß ein durch Kleinbahnen und Busse gut erschlossenes Umland. Seine großzügigen Sportanlagen im Angerapptal und seine Trakehnerrennen hatten vor dem Krieg viele Gäste hierher gelockt. Nun prägten Soldaten das Straßenbild und wiesen darauf hin, dass der ca. 35.000 Einwohner zählende Ort auch Garnisonstadt war. Neben einem riesigen Flugplatz, besaß er auch noch andere militärische Einrichtungen.

      Am Alten Markt, ihrer Umsteigestation nach Sprindt, lenkte Ursula Martins Blicke auf die am Steilufer der Angerapp liegende Lutherkirche mit ihrem Zwiebelturm. In dieser Kirche sei sie getauft worden, und dahinter, in einem der altertümlichen Giebelhäuser hätte einstmals Ännchen von Tharau gewohnt. Die Fahrt ging weiter, vorbei an einer vom Ritterorden erbauten Burg, genannt das Alte Schloss und dann über die Angerappbrücke. Am Wasserwerk bog die Straße in das breite Flusstal der Inster ein. Den eisbedeckten Fluss konnte man jedoch darin nur erahnen, da man ihm hier, um ihn zu zähmen, ein künstliches Bett geschaffen hatte. Auf der gegenüberliegenden Talseite sah man die Georgenburg.

      In Martin lösten sich alle Spannungen, die ihm während der langen Reise geholfen hatten, seinen Weg zu finden. Er hatte seinen Zielort erreicht und wurde nun die letzten Kilometer bis zu seinem neuen Zuhause geführt. Trotzdem durfte er jetzt nicht einschlafen. Damit hätte er Ursula, die ihm so begeistert ihre Heimat erklärte, gekränkt. Deshalb hielt er sich auch durch Fragen wach, wenn er etwas in ihren Schilderungen nicht sofort verstand.

      So kamen sie zu dem Bahnübergang, wo hinter der Frontkämpfersiedlung die doppelgleisige Strecke Insterburg - Tilsit zusammen mit einer Kleinbahn die Straße kreuzte. Die von Insterburg kommende Streckenführung war vom Busfahrer nicht einsehbar und schwang sich auf der anderen Straßenseite auf einem ansteigenden Damm und einer daran anschließenden Brücke in weitem Bogen über das Instertal. Der Bus hielt. Ein Fahrgast verließ ihn vorübergehend, ging zu dem beschrankten Übergang und signalisierte von dort dem Busfahrer „Freie Fahrt“. Warum diese übertriebene Sicherheit?

      Ursula hatte in ihrer Freude über Martin bei ihren Schilderungen den Grund seines Hierseins völlig vergessen. Unbekümmert antwortete sie deshalb auch auf seine letzte Frage. Sie bemerkte zu spät, wie weh sie ihm diesmal damit tat: An einem Sylvesterabend vor Jahren wurde hier ein Omnibus von einem plötzlich heranbrausenden Fernzug erfasst. Ein alkoholisierter Schrankenwärter hatte damals pflichtvergessen vielen Fahrgästen den Tod gebracht und mehrere Kinder in Sprindt zu Waisen gemacht.

      Zu spät stutzte Ursula erst bei diesem letzten Satz. Ein kurzer Hinweis, dass es hier schon mal ein Unglück gegeben hätte, wäre ausreichend gewesen. Nun hatte sie ihren Begleiter mit dem ausführlichen Bericht ungewollt an sein eigenes Schicksal erinnert.

      Spontan, aber verlegen zugleich glitt ihre Hand zu Martin hin. Dieser griff wortlos danach. Ihm war es, als hätte Ursula ihn an einen tiefen Abgrund geführt, ihn dann aber vor dem Hinabsturz bewahrt.

      Die nächste Haltestelle hieß Park Sprindt. Am Ortseingang ihres Zieles lag hier von hohen Bäumen umgeben ein Ausflugslokal. Bald danach kam an der Alten Schule dann auch ihre Station in Sicht. Nur noch wenige Schritte, und die Kinder hatten das von einer hohen Hecke umgebene, große Gartengrundstück erreicht. Als Ursula das Hoftor hinter ihnen schloss, kam schon die Abenddämmerung über das Land.

      Die neue Heimat

      Martin wurde am Sonntagmorgen sehr spät wach. Durch die geschlossenen Fensterläden drang an einer Stelle ein schmaler Streifen goldenen Lichtes. Darin tanzten Sonnenstäubchen. Stille umgab ihn, nichts regte sich, dabei ging es vielleicht schon auf Mittag zu. Alles um ihn war fremd. Das sollte Ursulas Zimmer sein, in dem er nun wohnen durfte! Gestern hatte sie ihm das gesagt. Nun sah er sich von seinem Bett aus zum erstenmal darin genauer um.

      An der Wand, ihm zu Füßen, hing ein Bücherbord. In einem Erker dahinter befand sich eine Waschgelegenheit auf einem niedrigen Schrank. Daneben stand ein eiserner Ofen. Ein größerer Tisch mit mehreren Stühlen, eine gemütliche Couch, sowie ein Kleiderschrank vervollständigten die Einrichtung des Raumes. Den Tisch zierte eine Schale mit Äpfeln, die sicher aus dem Garten stammten. Aber was war darauf auf einer Schiene aufgebaut, ein Personenwagen einer Spielzeugbahn? Martin stand neugierig auf und öffnete die Fensterläden. Sonnenlicht durchflutete den Raum. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Helligkeit. Der Wagen schien denen aus dem Zug zu gleichen, mit dem er gestern gekommen war.

      Der Junge wusch sich schnell und zog sich an. Seine Gastgeber fand er im Erdgeschoss. Den Opa, der auf einer Couch saß und Radio hörte, Ursulas Mutter, die für ihn seit seinem ersten Besuch Tante Käte war und Ursula. Alle begrüßten ihn herzlich. Heiße Milch und Honigbrot standen bereit, und Ursula aß zur Gesellschaft noch mal ein Stückchen mit. Schon gestern hatte Martin gespürt, wie gut hier alle zu ihm waren.

      Nach seinem Frühstück zeigte Ursula ihm Haus und Garten. An vieles konnte er sich noch erinnern, aber manches war ihm doch neu und fremd.

      Draußen erwartete sie ein strahlender Wintertag. Im Hausschatten schien strenger Frost zu sein, jedoch in der Sonne konnte man bei der Windstille glauben, es sei herrlich warm.

      Auf dem schneegeräumten Hof tummelten sich einige Hühner. Das Mädchen bat den Jungen, recht behutsam zu gehen, denn bei dem grellen Licht würden die Tiere schneeblind und dadurch schreckhaft sein.

      In einem größeren Anbau an Haus und Veranda waren der Stall und die Sommerküche untergebracht. Die Stalltür hatte unten ein kleines, verschließbares Schlupfloch. Dahinter führte eine schmale Leiter an einer ehemaligen Schweinebox vorbei zu den Hühnerschlafplätzen hinauf.

      Martin erfuhr, dass sich in der Decke darüber eine Luke befände, durch die man in einen geräumigen, mit einem Dachfenster versehenen Bodenraum gelangen könne. Dort läge das Winterheu für die Kaninchen. Die Luke, verborgen in den Deckendielen, würde er allein aber bestimmt nicht finden.

      In der Sommerküche würde Ursulas Mutter in der warmen Jahreszeit das beim Obstbaumschnitt anfallende Holz zum Kochen verbrauchen. Dann gäbe es auch oftmals wohlschmeckende Waffeln, weil das altertümliche, noch zu wendende Eisen auf dem in der Wohnungsküche befindlichen Elektroherd nicht verwendbar sei. Heute standen in dem kalten Raum zwei Paar Skier.

      In dem Anbau lag auch das Klo. Ursulas Eltern hatten längst im Haus ein Badezimmer geplant, aber der Kriegsausbruch war dazwischengekommen.

      Den Abschluss des Hofes zum Garten bildete ein geräumiger Schuppen, in dem neben Brennmaterial Opas Werkstatt untergebracht war. Martin vergaß vor lauter Interesse an deren Ausstattung ganz, dass ihr Rundgang hier noch nicht zu Ende war.

      Hinter dem Schuppen, zu erreichen auf einem an Büschen und Bäumen vorbeiführenden Gartenweg, lag ein großer, hochumzäunter Hühnerauslauf. Gleich neben dessen Eingang befand sich ein auf Pfählen abgelegtes Paddelboot.

      Neu für Martin war der vom Opa gezimmerte, aus 10 Boxen bestehende, an den Schuppen unter einem weitausladenden Dach angebaute Kaninchenstall. Zur Zeit bewohnten ihn nur drei rasselose Häsinnen, ein Rammler und ein sehr hübsches Angorakaninchen. Alle Tiere wurden vom Opa betreut.

      Ursula setzte das Angorakaninchen behutsam neben sich und den Jungen auf eine Bank. Es beschnupperte neugierig die Kleidung der Kinder. Zaghaft strich Martin ihm über das saubere, lange Fell. Um die Kinder herum schilpte erregt das vorher von ihnen aufgescheuchte Spatzenvolk und wollte in seinen Unterschlupf vor den Ställen zurück. Sollte es warten! Erst als Mutter zum Essen rief, verließen sie ihren Platz.

      In der Küche war aufgedeckt. Der Opa sprach das Tischgebet. Dann gaben sich alle