Wolfgang Konig

Mein Ostpreußen


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ein, der Himmel brach auf, und schon in der ersten Nacht nach dem Tauwetter wurde es bitterkalt. Unzählige Sterne waren zu sehen. Die noch immer überschwemmte Inster überzog sich mit einem kaum überschaubaren, glatten Panzer.

      Anfang März wärmte um die Mittagszeit die Sonne schon schön. Ursula und Martin trafen sich wieder bei Brauns im Schulwäldchen und schnallten dort ihre Schlittschuhe an. Mit Eva zusammen holten sie Rudi Thielert ab und benutzten dazu die Abkürzung über das im hellen Licht blinkende Eis.

      Martin kam auf den Bogenschlittschuhen, die Ursulas Vater gehörten, zuerst nur langsam voran. Weil sie keine Spitzen hatten, fiel ihm das Abstoßen schwer. Aber schon bald mussten die anderen nicht mehr auf ihn warten. Er bekam immer größeren Spaß daran, auf der riesigen Eisfläche schnell ferne Ziele erreichen zu können.

      Zuerst ging es zur langen Eisenbahnbrücke. Sie wagten sich jedoch nicht bis unter die Brückenbogen, denn durch die große Strömung an dieser Stelle war das Eis hier noch nicht fest. Um mehrere, riesige Steinbrocken quirlte sogar noch blankes Wasser. Die Trümmer lagen seit dem Weltkrieg hier, als man den Vorgänger dieser Brücke beim Heranrücken der Russen sprengte. Im Sommer hinderten sie beim Bootsfahren sehr, aber zum Fortschaffen waren sie zu schwer.

      Ihre Tour ging weiter nach Insterblick und dann in östlicher Richtung das Flussbett hinauf, dessen Verlauf nur die aus dem Eis herausragenden Büsche markierten. Das breite, überschwemmte Instertal glich einem langgestreckten, aus der Unendlichkeit kommenden, erstarrten See.

      Am Südufer blieb der Ort zurück, das dem Schulwäldchen ähnliche Badewäldchen, die Wochenendhäuser am ansteigenden Hang und schließlich auch Urbschats Gehöft. Immer näher kamen sie dem Ersten Wald. Die Kinder liefen nebeneinander fast ohne zu reden in großen Schwüngen auf ihn zu, die Köpfe weit nach vorn geneigt. Ihre Schlittschuhe verursachten dabei ein rhythmisches, surrendes Geräusch.

      Am Ersten Bach, der im Wald hinter der hölzernen Brücke entsprang und sich zwischen Weidenbüschen bis zum Flussbett wand, machten sie Rast. Ihr Atem war in der kalten Luft zu sehen. Martin fragte nach den eigenartigen Bezeichnungen. Wurde denn hier alles nummeriert?

      Der große Eichwalder Forst besaß mehrere Förstereien. Das von hier ca. 5 Kilometer entfernt liegende Forsthaus Wengerin war das erste von ihnen. Wald und Bach, die dazugehörten, trugen deshalb diese Zahl in ihren Namen.

      Sie liefen weiter. Bald war das Forsthaus auf einer Lichtung am ansteigenden Flussufer zu sehen. Von dort oben hatte man bestimmt über Tal und Wiesen

      einen herrlichen Blick. Wie schön musste es da erst im Sommer sein!

      Hinter der Lichtung begann der Zweite Wald. Ursulas Eltern hatten in einem kleinen Dorf darin Bekannte wohnen. Zu den drei einsamen Gehöften führte ein Hohlweg hinauf. Jedoch so weit wollten sie heute nicht laufen. Martin bekam das zunächst nur erzählt und danach, als sie schon auf dem Nachhauseweg waren, auch die Sage vom Ritter Neusaß, der hier in der Nähe irgendwann auf einer Burg gelebt haben sollte. Die Burg war verschwunden, jedoch der Berg, auf dem sie vielleicht einmal gestanden hatte, wurde noch heute zum Kiesabbau genutzt. Dadurch war an einer Stelle ein kleiner Teich entstanden, in dem an warmen Sommerabenden manchmal geheimnisvoll eine Glocke läutete. Das konnten natürlich auch nur die im Teich lebenden Unken sein. Auch der einsame Friedhof mit den alten Gräbern lag in der Gegend. Wie viele Geheimnisse barg wohl noch dieser große Wald?

      Zu Hause zeigte Ursula dem Jungen auf einer Landkarte das winzige Dorf. „Wenn du willst“, sagte sie, „holen wir uns bei passendem Wetter an einem der nächsten Sonntage von Urbschats Schlitten und Pferd. Farndorf ist auch im Winter schön, und Plauschinats freuen sich in ihrer Abgeschiedenheit sicher über unseren Besuch“. Martin fand den Plan sehr gut.

      ~~~

      Am 12. März war wieder alles verschneit. Ihr Ausflug nach Farndorf konnte Wirklichkeit werden. Auf Ursulas Einladung reisten auch Eva und Rudi mit. Die verließen jedoch verabredungsgemäß in der Nähe des Forsthauses Wengerin den Pferdeschlitten und fuhren auf ihren Skiern nach Sprindt zurück, um rechtzeitig zum Mittagessen wieder zu Hause zu sein.

      Vor der Weiterfahrt entfernte Ursula die am Pferdegeschirr befestigte Glocke und bot Martin die Zügel an. Nun hörte man nur noch den regelmäßigen Hufschlag und das monotone Geräusch der Schlittenkufen. Rechts von ihnen lag schneebeladen der Wald und bedeckte mit seinem Schatten den Weg. Über dem weißgewordenen Instertal breitete sich Sonnenlicht aus.

      Die Kinder saßen warm eingepackt auf der erhöhten Kutscherbank ihres Gespannes. Eine schwere Lederdecke bot ihnen zusätzlich gegen die Zugluft an den Füßen Schutz. Martin lenkte ihren Schlitten durch die Einsamkeit, und Ursula wies ihm den Weg. Sie sprachen kaum. Das vorherige frohe Erzählen mit ihren Begleitern war gut, lustig auch das helle Glockengeläut, jedoch die schlichte Schönheit der vorbeigleitenden Winterlandschaft nahmen sie erst in der jetzigen Stille richtig wahr.

      Der Trakisbach kam in Sicht. Bald danach trat der Wald zurück. Das kleine Dorf auf der Lichtung war erreicht. Sie stoppten vor dem bergansteigenden Hohlweg ihre Fahrt. Hier war der Schnee besonders tief. Ihr Zugtier trug ein Fohlen im Leib. Herr Urbschat hatte im Stall zu ihnen gesagt, ein Ausflug wäre für die werdende Pferdemutter gut, nur überanstrengen dürfe sie sich dabei nicht. Deshalb stiegen die Kinder vom Schlitten und führten ihr Gespann die ansteigende Strecke hinauf.

      Nach dem Hohlweg dauerte es nicht mehr lange, bis Martin stolz in den großen, von vier Gebäuden umstandenen Bauernhof einfuhr und vor Plauschinats Veranda hielt. Rolf, der Hofhund schlug an und stürmte freudig auf das Mädchen zu, nur durch seine lange Kette gebremst. Dann öffnete sich die Verandatür, und die Besitzer des Gehöftes traten vor das Haus.

      Nach der Begrüßung lenkte Ursula den Schlitten zu einem sonnigen Platz auf dem Hof. Herr Plauschinat nahm ihr das Pferd ab und führte es zu den anderen Zugtieren in eine freie Box in einem hellen, modernen Stall. Martin begleitete ihn. Durch die zweckmäßige Einrichtung des Stalles war die Futterfrage für den unerwarteten Gast schnell zu lösen. Nur das Tränkwasser zog man noch draußen in Eimern an einem langen Gestänge aus einem offenen Brunnen hoch. Ein Gegengewicht half dabei. Strom gab es hier noch nicht.

      Dann machte der Bauer mit ihm einen Rundgang durch das Gehöft. Neben dem Pferdestall lag das Gebäude mit den Maschinen. Was gab es hier alles zu sehen! Ein auf Kufen aufgebauter und dadurch transportierbarer Dieselmotor und eine Dreschmaschine dominierten darin neben einer schmuck aussehenden Kutsche, Heuwendern und vielen Kleingeräten. Auch eine Werkstatt gehörte dazu.

      Gegenüber dem Wohnhaus lag die Scheune. Manche ihrer Fächer waren bis unter das Dach mit Stroh ausgefüllt. Hinter den großen Toren des hallenartigen Baues befanden sich auf den Freiflächen ein Schlitten und mehrere Erntewagen. An die Scheune schloss sich im Winkel, wieder zum Wohnhaus gewandt, der Stall für die Kühe und Schweine an. In diesem lebte auch das Federvieh.

      Herr Plauschinat schloss ihren Rundgang mit einem kurzen Blick in die Nebenräume für die Milchwirtschaft ab. Martin schien hier alles wie in einem Produktionsbetrieb zu sein. So einen großen, klargegliederten Hof hatte er noch nicht gesehen.

      Welch ein Gegensatz dazu bot sich ihm jedoch im Haus! Es war darin gemütlich und sauber, aber alles an und in diesem schien ihm uralt zu sein. Die kleinen Fenster, die niedrige, auf schweren Balken ruhende Zimmerdecke und der riesige Herd in der Küche.

      Das Haus war vom Flur aus gesehen in fast symmetrische Hälften aufgeteilt. Eine davon diente als Altenwohnung. Zur Zeit wurde davon nur ein Zimmer von zwei polnischen Landarbeitern genutzt. Die Räume dieser Hausseite enthielten Möbel einer früheren Generation.

      Plauschinats bewohnten die nach Westen gelegene Hälfte des Hauses. Von Esszimmer blickte man dabei über das ganze Gehöft. Nun war dort zum Mittagsmahl für das Ehepaar und dessen Gäste gedeckt

      Beim Essen erfuhren die Kinder viel von den beiden im Krieg stehenden Bauernsöhnen. Auch sie mussten von ihren Angehörigen und sich selbst berichten. Als das Gespräch auf Martins Schicksal kam, nahm Ursula diesem behutsam manche erklärende Antwort ab, um ihn dadurch möglichst vor schmerzhaften Erinnerungen zu bewahren. Martin spürte das deutlich.

      Nach