Wolfgang Konig

Mein Ostpreußen


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häufiger von schweren Abwehrschlachten und planmäßigen Absetzbewegungen zur Frontverkürzung. Manchmal schien es, als ständen einzelne Abschnitte bei der immer größer werdenden Überlegenheit der Roten Armee kurz vor dem Zusammenbruch.

      Frau Graf war bei der Vorbereitung des Abendessens. Am liebsten hätte sie Martins Tun nicht wahrhaben wollen. Welch eine Bedrohung ging von den heranflutenden, feindlichen Heeren aus! Würden russische Soldaten eines Tages vor Ostpreußens Grenzen stehen und diese vielleicht sogar überrennen? Was würde dann mit den hier wohnenden Menschen geschehen?

      Der Opa beobachtete still vom Tisch aus Martins Werk. Ursula hantierte am Küchenschrank. Sie sah das Durchhalteplakat am Wartehäuschen wieder deutlich vor sich. Etwas Bedrückendes lag im Raum.

      In diese Stille platzte der Junge mit einer plötzlichen Bitte hinein. „Tante Käte“, sagte er, „auch wenn die Front immer näher kommt, lass´ mich bei euch bleiben.“ Nun war das, was alle heimlich fürchteten, ausgesprochen. Wie konnte Martin so etwas tun! Gab er sein neugewonnenes Zuhause durch dessen Bedrohung schon feige auf oder sah er das Geschehen an der Ostfront nüchterner als sie?

      Frau Graf hätte ihn wegen seiner Worte fast gerügt. Aber er hatte sie damit doch auch gleichzeitig gebeten, bei ihnen bleiben zu dürfen! Ihre Familie war ihm zur neuen Heimat geworden, jedoch noch nicht dieses Land. Nein, sie konnte ihm nicht zürnen, sie würde ihn bei sich behalten, es wäre denn, sein Patenonkel würde darüber anders bestimmen. Sie sagte ihm das und sah, wie erleichtert er darüber war.

      An diesem Abend kam Ursula vor dem Einschlafen an Martins Bett. Was mochte sie wollen? Bisher hatten sie sich nur von Zimmer zu Zimmer erzählt.

      Seine Gefährtin schien ihr Handeln gut überlegt zu haben. Sie knüpfte an Mutters Worte an und meinte, dass Martin nun ganz zu ihnen gehören würde. Wie Geschwister wären sie jetzt. Sie fragte ihn, ob er das auch so sehe; jedoch, als hätte sie vor seiner Antwort Angst, begann sie, ohne ihm dazu Zeit zu lassen, in einer seltenen Eindringlichkeit lieb von ihrem Vater zu sprechen. Martin horchte auf.

      Nach Ursulas Schilderung musste Onkel Graf ganz anders als Tante Käte sein. Viel weicher und sehr bescheiden. Hier hatte seine Frau darüber gewacht, dass seine Güte ihm nicht zum Schaden wurde. Jedoch in dem rauen Betrieb einer dicht hinter der Front arbeitenden Waffenmeisterei wurde sein Verhalten sicher auch ausgenutzt. Vielleicht geriet er dadurch gegenüber den anderen sogar manchmal zusätzlich in Gefahr.

      Bald spürte Martin, dass Ursulas Bericht eine einzige, an ihn gerichtete Fürbitte war. Dann sprach das Mädchen diese auch offen aus. „Wenn du kannst“, sagte es am Ende ihres gemeinsamen Gespräches, „schließe Vater in dein Nachtgebet ein.“ Der Junge richtete sich auf und gab Ursula darauf die Hand. Mit einem leisen „schlafe recht gut“, das wie ein Danke klang, ging sie in ihr Zimmer zurück.

      Martin wiederholte noch einmal still für sich den gerade gehörten Satz. „Wenn du kannst“, hatte Ursula zu ihm gesagt und dabei das Wort Vater so gebraucht, als wäre nicht nur sie, sondern auch er dessen Kind. Woher wusste sie, dass ihm nach dem Tode seiner Eltern kein Gebet mehr gelang? Sein Glauben an Gott war durch Hoffnungslosigkeit ins Wanken gekommen. Warum zwang sie ihn jetzt, indem sie so eindringlich für ihren Vater bat, darin zu einem Neuanfang? Sie war so sicher in ihrem Tun! Wer nur wies ihr darin den Weg und gab ihr den Mut? Martin konnte sich vieles nicht erklären, aber die Liebe, mit der sie ihre Nächsten umgab, erkannte er wohl. Noch bevor dieser Tag zu Ende ging und vor allen Nächten darauf, löste er sein gegebenes Versprechen ein.

      ~~~

      In diesem Jahr ließ sich der März wirklich mit der Vertreibung des Winters Zeit. Erst in den letzten Tagen holte er Regen und südliche Warmluft heran und übergab seinem Nachfolger dann doch noch ein schneefreies Land.

      Vor Grafs Haus entstand durch die plötzliche Schneeschmelze in einer Senke auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein flacher Teich. Er besaß keinen natürlichen Abfluss, weil der Boden darunter noch aus einer früheren Frostperiode eine Eisdecke trug. Die Dorfkinder fanden das bald heraus und fuhren auf ihren Schlitten vorsichtig durch die seichte Flut. Dabei dienten ihnen Skistöcke als Flößerstangen. Diese nicht zu verlieren, gab dem Spiel seinen Reiz, denn sonst war man vom Wasser umgeben antriebs- und steuerlos.

      Auch Ursula und Martin machten bei dem Vergnügen mit und kamen abends mit lahmem Rücken nach Hause. Ein Schlitten ohne Lehne, bei dem man wegen der unter dem Wasserspiegel gleitenden Kufen ständig die Beine auf der Sitzfläche halten mußte, war nun einmal kein bequemes Gefährt.

      Die Eisfläche der vor einem Monat überschwemmten Insterwiesen wurde von dem neuen Schmelzwasser überspült und schwamm auf. Große, noch recht dicke Schollen trieben träge den wieder zum gewaltigen Strom angeschwollenen Fluss hinab. Vor den Brückenbogen stauten sie sich manchmal zu Wänden hoch, bis der dadurch immer größer werdende Wasserdruck sie schließlich mit Krachen zerbersten ließ.

      Ursula und Martin sahen sich auch diese neue, noch größere Überschwemmung an. Jedoch, was war denn das da hinten? Vom Rodelwäldchen her kam langsam eine mit Kindern besetzte Scholle angeschwommen. Die Kinder steuerten sie mit Wäschestangen. Manchmal streiften sie dabei leicht das Ufer und drehten sich dann gemächlich im Kreise. Offenbar hatten die Seefahrer an ihrem nicht ungefährlichen Unternehmen großen Spaß, denn sie sangen dabei und tollten auf ihrer schwimmenden Insel herum.

      Nun erkannten Ursula und Martin auch die Flößer; Lobinskis und Balzats, vom ältesten bis zum jüngsten Kind. Ob deren Mütter wussten, was hier geschah? Die Scholle war groß, aber vielleicht ja schon morsch! Zwar konnte man in dem überschwemmten Tal notfalls watend das Ufer erreichen, aber im Wasser versteckt lag doch auch noch der Fluss!

      Ursula rief zu den Kindern hinüber und forderte sie zum Anlegen auf. Schließlich versuchten diese das auch, jedoch bei dem Stoß brach auf der gegenüberliegenden Schollenseite ein Teil davon ab und trieb langsam mit Alfreds jüngstem Bruder davon. Alfred sprang diesem blitzschnell nach, wobei der kleingewordene Schollenrest bedrohlich zu schwanken begann. Nur in der Mitte konnten beide noch trockenen Fußes stehen.

      Der Junge war ohne Wäschestange gesprungen. Elfriede, die älteste der Balzats, kam zum Nachwerfen schon zu spät. Auch hätte sie damit Alfred kaum helfen können, denn nach dem gerade Erlebten wagte der sich bestimmt nicht mehr an den brüchigen Schollenrand. Hilflos kamen beide immer weiter vom Ufer ab und näherten sich der Brücke.

      Martin fiel das Paddelboot im Hühnerauslauf ein, jedoch Ursula schüttelte den Kopf. Die ihnen noch verbleibende Zeit war viel zu kurz, die würde nicht einmal zum Herbeiholen eines Kahnes von Urbschats ausreichen. Als Rettungsboot blieb ihnen nur die große, gestrandete Scholle selbst. Martin widerstrebte dieser Plan, aber er wusste auch keinen besseren.

      So blieb Elfriede bei den verängstigten Kleinen zurück, und sie fuhren den Schiffbrüchigen hinterher. Sehr vorsichtig steuerten sie die abgebrochene Scholle an und legten dann alle Wäschestangen als Brücke zu dieser hinüber. Alfreds Bruder kroch als erster darauf zu ihnen zurück. Der kleine Kerl hatte nicht einmal geweint. Ursula nahm ihn froh in den Arm. Dann ging auch bei Alfred alles gut. Bald darauf legten sie erleichtert etwas flussabwärts wieder am Ufer an.

      Alfred und Elfriede baten, bei ihnen zu Hause nichts von dem Geschehen zu erzählen. Aber eines der Kleinen hatte daheim dann doch wohl gepetzt, denn am nächsten Tag nach der Schule wies Tante Käte ihre beiden auf ein Einweckglas mit Leberwurst hin. Frau Lobinski hätte es als Dank für eine gute Tat gebracht!

      ~~~

      Ursula hatte ihrem Vater zum bevorstehenden Osterfest geschrieben. Herr Graf trug nun den Feldpostbrief bei sich, um ihn nach einem nur kurzen Überfliegen abends allein und in Ruhe zu lesen.

      Sie schilderte ihm darin einen Sonntagmorgen zu Hause. Alle saßen am Frühstückstisch. Seine Frau hatte dem Opa Milchsuppe gekocht und selbstgebackenes Brot hineingebrockt. Um das Brot zu strecken, tat man neuerdings etwas Kartoffelbrei und von Plauschinats geschenkt bekommenes, vorher überbrühtes Getreide mit in den Teig. Zwieback, besser für Opas kranken Magen, gab es schon lange nicht mehr. Honig und Marmelade aus eigener Ernte waren jedoch reichlich da.

      Vom