Wolfgang Konig

Mein Ostpreußen


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von den schneebedeckten Dächern der den Hof umrahmenden Gebäude herab. Auf der Eisfläche um die gegen den Frost dick umwickelten Trinkwasserpumpe standen schon Pfützen, aus denen die Gänse zu trinken probierten. Erstes Frühlingsahnen lag über dem Land.

      Nicht weit hinter dem Hof begann der Wald, von dem auch ein Teil Plauschinats gehörte. Das Mädchen führte seinen Begleiter in diese Richtung, aber zu hoher Schnee versperrte ihnen bald den Weg. So kehrten sie in den windgeschützten Hof zurück und machten es sich auf ihrem Schlitten bequem. Martin streckte sich auf einer der in Schlittenmitte sich gegenüberstehenden Bänke aus und schloss seine Augen vor dem blendenden Licht. Als Ursula ihm eine Decke anbot, lehnte er diese überheblich ab. Er nähme jetzt ein Sonnenbad, und sie möge ihn dabei bitte nicht stören!

      Ursula berichtete ihm darauf von einem ähnlichen Sonntag vor ihrer Konfirmation. Damals hätte die Mutter einer Mitkonfirmandin diese und sie am Tag vor der Abschlussprüfung im verschneiten Garten an der Südseite des Hauses noch einmal abgehört. Sie alle hätten dabei einen richtigen Sonnenbrand bekommen. Das könne ihm heute in so einer Lage auch passieren.

      Die Kinder neckten sich im Gespräch ohne Rechthaberei und gegenseitiges Belehren. Oft lachten sie dabei. Sie freuten sich sorglos an ihrer Gemeinsamkeit und genossen den ersten Vorfrühlingstag. Zum Kaffee waren sie dann wieder bei Plauschinats im Haus.

      Bald danach wurde mit den Polen zusammen das Vieh versorgt. Die Kinder bekamen dabei den Auftrag, Heu von dem Dachboden über dem Stall zu holen. Sie schoben dies mit großen Gabeln an die Luken heran und warfen es in die Gänge hinab. Ganz zum Schluss sprang Martin einfach hinterher. Ursula erschrak, aber der Junge kroch lachend aus dem großen, den Fall dämpfenden Heuberg hervor und ermunterte sie, es auch zu versuchen. Unten klopften sich dann beide gegenseitig die Kleidung ab. Das Mädchen hatte sogar einige der so schön nach Sommer duftenden Halme im Haar.

      Sie wollten nicht zum Abendbrot bleiben. Es dunkelte schon, und die Kälte kam.

      Das Pferd wurde vor den Schlitten gespannt. Martin hörte, wie Ursula dabei leise auf das Tier einsprach. Ihm schien, als würde dieses den Sinn ihrer Worte verstehen. Willig nahm es die kalten Eisenglieder des Zaumzeuges zwischen die Zähne, trat wie auf Geheiß in der Deichsel zurück und ließ alles was sie tat wie selbstverständlich mit sich geschehen. Herr Plauschinat brauchte beim Anspannen nicht zu helfen. Zum Abschluss befestigte Ursula die diesmal verlängerte Leine an der Mittelbank, auf der sich Martin gesonnt hatte und legte eine unter dem Sitz verstaute Decke über das Pferd. Anschließend gingen die Kinder noch einmal ins Haus, um sich auch von Frau Plauschinat zu verabschieden.

      Nun fuhren sie schon eine Weile durch die sternklare Nacht. Die drei Gehöfte blieben auf der Lichtung als dunkle Schatten zurück und verschmolzen schließlich mit dem am Horizont stehenden Wald. Die Schlittenglocke blieb wo sie war, sie störte nur. Auch die Laterne wurde nicht angezündet, die Winternacht war hell genug.

      Im Hohlweg schob der Schlitten durch sein Gewicht sehr nach. Das Mädchen nahm das unruhig gewordene Pferd am Geschirr an die Hand. Martin konnte die Zügel locker lassen.

      Dann waren sie wohlbehalten im Instertal. Ursula, die wieder neben Martin saß, hatte die Pferdedecke mitgebracht. Jetzt, wo es schneller ging, brauchte das Tier diese nicht mehr. Sie bot Martin an, sich darin einzuwickeln und auf die mit dem Rücken in Fahrtrichtung stehende Bank zu legen. So könne er noch besser die Sterne sehen.

      Sollte er das wirklich tun? Die Decke trug noch die wohlige Wärme des Pferdes an sich. Im Liegen war Reisen auch noch bequemer. Um ihn war Kälte, Einsamkeit und Nacht, jedoch all´ das bedrückte ihn nicht mehr. Im Gegenteil, seit dem Tode seiner Eltern hatte er sich noch nie so geborgen gefühlt. Martin tat, wie ihm gesagt.

      Nicht lange, und der Junge schlief. Ursula merkte es an seinem gleichmäßig ruhigem Atmen. In Gedanken durchlebte sie noch einmal den heutigen Tag. Martin hatte seit seiner Ankunft zum ersten Mal richtig herzhaft gelacht. Das war das Schönste daran. Dafür wollte sie dankbar sein.

      Schnell, aber behutsam, um ihn nicht zu stören, lenkte sie ihr gemeinsames Gefährt zu Urbschats zurück.

      ~~~

      Martins Klassenkameraden erhielten in der zweiten Märzhälfte den Befehl, sich in der Flakstellung bei Angerlinde zu stellen. Für die meisten von ihnen war das die erstmalige längere Trennung von ihrem Elternhaus. Aber auch die auswärtigen Schüler, die in Insterburg bei Pensionsmüttern wohnten, wurden aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen. Im Unterricht in der Stellung lernten sie nicht mehr viel. So blieb Martin für außerschulische Dinge reichlich Zeit.

      Der Winter hielt sich fast noch bis zum Monatsende. Bei immer länger anhaltendem Licht fuhren deshalb Ursula und Martin häufig Ski. Martin hatte dabei durch seine Begleiterin am Rodelberg auch Lobinskis und Balzats Kinder, die jünger als er waren, kennen gelernt. Am liebsten verbrachte er jedoch seine Freizeit mit Ursula, Eva und Rudi zusammen.

      An manchen Abenden trafen sie sich dazu auch im Lehrerhaus bei Brauns. Evas Mutter nahm Martin gern in diesen Kreis auf. Evas Vater war Soldat. Anfänglich machten es Evas um Jahre jüngere Zwillingsschwestern Martin schwer, sie auseinanderzuhalten, aber bald sprach er sie zu ihrem Erstaunen mit dem richtigen Namen an.

      Bei Brauns wurde Hausmusik gemacht. Rudi spielte dabei Klavier. Frau Braun hatte ihn dazu ermuntert und ihn unterrichtet. Außerdem besaß er zu Hause eine Ziehharmonika. Eva und Ursula beherrschten ihre Instrumente - eine Geige und Flöte - auch recht gut. Es war schön, diesem Trio zuzuhören!

      Martin hätte man gern als vierten Spieler gewonnen. Dieser jedoch hielt die anderen für unerreichbar gut und sträubte sich zu ihrer aller Enttäuschung dagegen. Ursula gab aber so schnell nicht auf. Es gelang ihr, ihm ohne sein Wissen durch die Beziehungen einer Mitschülerin eine Mundharmonika zu kaufen. Zunächst behielt sie dieses Geheimnis jedoch für sich.

      Am Rodelwäldchen lag noch immer Schnee. Ein wenig pappte er schon. Unsere Vier hatten im Verein mit Lobinskis und Balzats Kindern eine beachtliche Sprungschanze daraus gebaut. Skier besaß hier fast jedes über 10 Jahre alte Kind. Sie stammten aus der Ende 1941 durchgeführten Spinnstoff-Sammelaktion, als gegen alle Prophezeiungen Hitlers der deutschen Wehrmacht die Niederwerfung Russlands nicht vor dem Wintereinbruch gelang, und viele unserer Soldaten in ihrer Sommerkleidung erfroren. Für den Fronteinsatz waren die damals abgelieferten Skier zu kurz.

      Martin stand inzwischen auch im Springen den Dorfkindern kaum noch nach. Zwar hatte er sich dabei einmal böse die Oberlippe aufgeschlagen, aber so schlimm war das nun auch wieder nicht. Im nächsten Winter würde er sicher so gut wie die anderen sein, wenn es für sie hier noch einmal einen Winter geben sollte!

      An dem Wartehäuschen der Obusendhaltestelle hatte man seit einigen Tagen das Parteiplakat mit dem schlapphuttragenden, verdächtig aussehenden Mann und der Parole: „Vorsicht bei Gesprächen, FEIND HÖRT MIT“, überklebt. Nun war dort eine eigenartige Landkarte angebracht. „8 Millionen Deutsche zuviel“, stand unübersehbar groß darüber geschrieben. Das auf der Karte abgebildete Deutschland hörte, von Berlin aus gesehen, irgendwo an der Oder auf. In den dahinterliegenden Ostprovinzen lebten dann Russen und Polen. Das hatten angeblich Deutschlands Feinde auf einer Konferenz in Teheran beschlossen.

      An einem Abend kurz danach korrigierte Martin auf Grafs Russlandkarte in der Küche den markierten Frontverlauf. Überall steckte er die Nadeln auf die in den Wehrmachtsberichten genannten Orte zurück.

      Aus dem vor einem Jahr noch eingeschlossenen Leningrad drängte der Gegner immer weiter hervor. Die Stadt wurde von ihm längst wieder über das Festland versorgt und war dadurch endgültig für die deutschen Truppen verloren.

      Auch im Frontmittelabschnitt wichen unsere Soldaten immer weiter zurück. Sie hatten selbst bei den großen Anfangserfolgen 1941 ihr Ziel, Russlands Hauptstadt Moskau , nicht erreicht.

      Am schlimmsten jedoch sah es im südlichen Frontabschnitt aus. Selbst das natürliche Hindernis, der breite Dnjepr mit seinen gut zu verteidigenden, westlichen Ufern hatte nicht standgehalten. Kiew, die Hauptstadt der Ukraine, war schon vor Monaten verlorengegangen. In einer Kesselschlacht bei Tscherkassy war es kürzlich fast zu einem zweiten Stalingrad gekommen. Bald war an der Südfront alles