Wolfgang Konig

Mein Ostpreußen


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sogar Freude daran, wenn er beispielsweise dem Opa beim Schneeräumen helfen konnte.

      Allmählich kannte der Junge jeden Winkel im Haus. Er hatte mit Ursula deren Eisenbahn und das im Keller untergebrachte, kleine Fotolabor ihres Vaters inspiziert. Hier gab es auf lange Sicht vieles, was Spaß machen würde, zu tun.

      Das Abendbrot fand dann wieder im Familienkreis in der Küche statt. Anschließend hörten sie Nachrichten. Manchmal wurden danach noch Maiskolben abgepuhlt, Hühnerfutter, das wie vieles hier für Mensch und Tier im Garten wuchs. Dabei erfuhr dann jeder über das Tagesgeschehen der anderen.

      Meistens ging der Opa als erster ins Bett. Die Kinder folgten ihm bald. Weil Martins Ofen noch warm war, blieb die Tür zwischen ihren Zimmern auf. Häufig erzählten sie sich noch so lange, bis auch Ursulas Mutter nach oben kam. An einem dieser Abende überdachte Martin vor dem Einschlafen seine bisherige Zeit bei Grafs. Er fühlte sich hier heimisch. Tante Käte war zwar streng zu ihm, aber bestimmt nicht ungerecht oder gefühllos kalt.

      Im Gegensatz zu ihr strahlte der Opa Geborgenheit aus. Sein Magenleiden trug er mit Geduld. Auch konnte Martin viel von ihm lernen. Nicht nur handwerkliches Können, sondern auch Bescheidenheit. Bei der Reparatur eines Elektrogerätes hatte ihn der sonst so geschickte Mann um Rat gefragt. Der Opa wurde ihm täglich mehr zum Freund.

      Schade, dass Ursula ein Mädchen war, das stand ein wenig zwischen ihnen. Wenn sie Geschwister gewesen wären, hätte ihn ihre deutliche Zuneigung nicht gestört. Jedoch vielleicht sah er das ja auch übertrieben oder gar falsch. Dass sie ihn mochte, war schon gut.

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      An einem der nächsten Schultage fiel für Martins Klasse nach der dritten Stunde der Unterricht aus. Alle Jungen, die 1928 oder früher geboren waren, kamen nun auch hier zur Heimatflak. Die Musterung dafür fand in der Turnhalle statt. Ihn selbst erklärte man dabei aufgrund seines Attestes für untauglich.

      Martin verlor jedoch nicht wieder seinen Klassenverband. Die wenigen, die aus gesundheitlichen Gründen oder auch altersbedingt nicht tauglich waren, nahmen später an dem Schulunterricht für die Flakhelfer in deren Stellung bei Angerlinde teil. Die Lehrer fuhren mit dem Bus nach einem extra darauf abgestimmten Stundenplan zu ihrer Klasse hinaus.

      Martin hatte es von Sprindt zu seinem neuen Schulort nicht weit. Bis zur Schneeschmelze benutzte er auf dem Weg dorthin seine Skier. In der Übergangszeit ging er zu Fuß. Als es Frühling wurde, durfte er das Fahrrad von Ursulas Vater nehmen. Bei Alarm, wenn die Flakhelfer aus dem Unterricht an ihre Einsatzorte eilten, mussten der gerade unterrichtende Lehrer und die vom Wehrdienst freigestellten Mitschüler in den Splittergraben der Stellung. Einmal gelang es Martin dabei, gegen die bestehenden Vorschriften an das Funkmessgerät zu kommen.

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      Bald nach der Musterung schlug in der vierten Februarwoche vorübergehend das Wetter um. Der starke Frost ließ spürbar nach. Dann begann es behutsam zu schneien, und in der nächsten Nacht kam heulend von Westen her warmer, regenbringender Wind. Schon am Morgen danach waren die weißen Flächen klumpiger Matsch. In Rinnsalen floss Schmelzwasser die Straßen entlang und machte die noch immer darunter liegende, festgefahrene Schneedecke spiegelglatt.

      Die Fahrt mit dem Obus kam einem Abenteuer gleich, so rutschig war es. Dennoch war sie nicht gefährlich, denn andere Verkehrsteilnehmer gab es kaum. Die Fußgänger hatten vor den Straßenfahrzeugen hinter pappigen Schneewällen am Fahrbahnrand einen sicheren Schutz. Schlimmstenfalls bekamen sie Spritzer ab.

      Nach dem Mittagessen stapften Ursula und Martin in Gummistiefeln zu Eva und Rudi. Gemeinsam ging es ins Instertal. Dort bot sich ein für Martin überraschendes Bild. In den hohen Fichten des Schulwäldchens heulte noch immer der Wind. Er blies ihnen ins Gesicht und kam über ein wogendes Meer. Zwischen Insterblick und dem Abhang, auf dem sie standen, war nur Wasser zu sehen. Die Bahnlinie am Horizont glich dem Wehr einer darin liegenden Talsperre.

      Nun erst verstand Martin, warum sich die Strecke mit solch einer langen Brücke über das sonst recht harmlose Flüsschen schwang. Die fünf großen Bogen, durch welche bei seinem ersten Skiausflug die Sonne geschienen hatte, reichten jetzt kaum zum Durchlass der Wassermassen aus. Hätte man ihm dieses Naturschauspiel vorher geschildert, er hätte solche Ausmaße nicht geglaubt.

      Dann gingen die vier zum ehemaligen Schulhof zurück. An einem danebenliegenden, erlenumstandenen Teich vergnügten sich Evas Geschwister und liefen mit anderen Kindern in einer Reihe möglichst im Gleichschritt über das mit Schmelzwasser bedeckte Eis. Biegeeislaufen nannte man das. Richtig gefährlich sah es aus, denn wo immer sich die händehaltende Kinderreihe befand, gab das Eis bedenklich nach. Sonderbarerweise brach es jedoch nicht ein. Wohl deshalb nicht, weil es wie eine von unzähligen kleinen Rissen durchzogene und dadurch elastische Haut auf dem darunter liegenden Wasser schwamm. Trotzdem wurden die Schuhe der Kinder dabei nass, aber das gehörte wohl dazu.

      Noch früher als an den frostklaren Tagen davor brach die Dämmerung herein. Ursula und Martin trennten sich von den anderen und gingen nach Hause. Ein Weilchen hörten sie noch das frohe Kinderlachen vom Teich, bis es der Wind verschlang.

      In Martins Zimmer war es gemütlich warm. Durch den heute recht kurzen Außenaufenthalt blieb ihnen nach den Schularbeiten noch Zeit, sich die Fotoausrüstung einmal näher anzusehen. Die Chemikalien, Schüsseln und farbigen Lampen im Keller kannte Martin ja bereits, die meisten Gerätschaften lagen jedoch, wie Ursula wusste, im Wohnzimmerschrank. Außer einigen Filmen und Platten, deren Entwicklungstermine längst überschritten waren, entdeckten sie dort neben anderen ihnen noch fremden Dingen auch ein Anleitungsbuch. Jedoch viel lesen mochten sie jetzt nicht, schöner war das Losexperimentieren.

      Mit einfachen Abzügen wollten sie beginnen, aber Negative dafür fanden sie nicht. So tat es ein Scherenschnitt auf Fotopapier gelegt und belichtet schließlich auch. Im Entwicklungsbad geschah aber nichts. Bei dunkler, roter Raumbeleuchtung sah man darin als Spiegelbild nur ihre enttäuschten Gesichter. Lag es an dem überalterten Bad, oder hatten sie versehentlich die Rückseite des Fotopapiers genommen? Die Zeit verging. Mutter rief zum Abendbrot, das ihnen heute unwichtig schien.

      Sie kamen nur mühsam voran. Jedoch bevor der Opa schlafen ging, lag der erste gutgelungene Abzug des Scherenschnittes noch feucht und sicherlich schlecht fixiert auf dem Küchentisch. Der alte Mann lobte ihr Werk, die Mutter aber spornte die Kinder an, doch möglichst recht bald von Martin ein schönes Foto für Vater fertigzubekommen.

      In den Tagen danach führten sie das Anleitungsbuch und weitere Versuche schließlich zum Ziel. Am Sonntag darauf wurden mit einem Plattenapparat im Vordergarten die ersten Familienbilder gemacht.

      Da es im Keller jetzt im Winter zu ungemütlich war, benutzten Ursula und Martin ihr Zimmer als Behelfslabor. Die fast lichtdicht schließenden Fensterläden und die früh hereinbrechende Dämmerung begünstigten das. Diesmal konnten sie mit ihren Arbeiten zufrieden sein. Das Trocknen der Negative dauerte ihnen fast zu lange.

      So kam es, dass Ursulas Vater bald danach die von seiner Tochter und Martin angefertigten ersten Bildchen in Händen hielt, auf Hochglanzpapier, mit Büttenrand und auch vom fotografischen Standpunkt gar nicht schlecht.

      Herr Graf sah, wie seine Frau gerade dem Briefkasten vor der Haustür erwartungsvoll die Post entnahm. Auf einem weiteren Foto guckte sich der Opa offenbar interessiert die schon größer werdenden Knospen des an der Hauswand stehenden Spalierobstes an. Ursula lächelte einfach in die Kamera. Einmal war sie allein und einmal mit Martin zusammen. Immer wieder musste er sich die ihm so vertrauten Gesichter anschauen, aber auch den Patenjungen seines Bruders, der sich nun bei seinen Lieben einzunisten begann.

      Außerdem hatten ihm alle geschrieben. Seine Frau wie meistens recht sachlich und nüchtern. Vom Opa erhielt er einen herzlichen Gruß. Die Kinder berichteten ausführlich über ihr Experimentieren. Beide fanden wohl große Freude daran. Martin fragte an, ob sie die im Treppenhaus liegende, leer stehende Räucherkammer mit Opas Hilfe als ihr zukünftiges Labor einrichten dürften. Die Idee des Jungen schien ihm gut. Der Raum war dunkel und trocken sowie auch im Winter immer etwas warm. Zum Räuchern gab es schon lange nichts mehr. Natürlich sollten sie das tun!

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