Sonja Margolina

KALTZEIT


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      Sonja Margolina

      KALTZEIT

      Ein Klimaroman

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Ein Geschenk des Himmels

       Atempause

       Serafima

       Zauberlehrling

       Menschenfeinde

       Weitblick

       Heimat

       Klimawandel

       Die Banalität des Guten

       EisTau

       Die höchste Macht

       Eiszeit

       Dem Himmel nah

       Plattentektonik

       Impressum neobooks

      Ein Geschenk des Himmels

      Am Anfang des 23. Sonnenzyklus wurde Russland von einem ungewöhnlich schneereichen und kalten Winter heimgesucht. Von Brest bis Wladiwostok erstreckte sich eine leblose Wüste, ohne erkennbare Zufahrtswege zu den erstarrten Städten, die in einen weißen Schleier gehüllt waren. Die Straßenreinigung brach zusammen. Menschen bewegten sich in den Schneewehen wie Maulwürfe, und die Anzahl der von Eiszapfen Erschlagenen belief sich auf mehrere Hunderte. In der Talkshow „Schlagabtausch“ stritten Meteorologen und orthodoxe Priester darüber, ob die anbrechende Eiszeit natürlichen Ursprungs oder eine Strafe Gottes sei. Die anschließende Zuschauerumfrage brachte den Geistlichen drei Mal so viel Zustimmung wie den Wissenschaftlern.

      Das Patriarchat wies seine Diener an, Predigten zu halten, in denen das Naturereignis mit dem Stolz, mit dem Aufbegehren des lasterhaften Menschen gegen die göttliche Ordnung in Verbindung gebracht werden sollte, hatten doch die Behörden im vorigen Sommer – nach über Jahre anhaltender Dürre – die widerspenstigen Wolken mit Silberjodid besprühen lassen. Damit sollten diese endlich zum Abregnen gezwungen werden. Doch der Regen war lediglich über der Ostsee niedergegangen, über den hochmütigen Balten, während der Dürre eine Kälte folgte, wie man sie seit der Zeit nicht mehr gekannt hatte, als Boris Godunow glückloser Zar gewesen war.

      Der Frühling kam erst Mitte Mai in Gang, dann aber mit vulkanartiger Wucht. Der anderthalb Meter dicke Schneeteppich taute in drei Tagen auf, und das Boris-und-Gleb-Kloster fand sich auf einmal inmitten eines Sees wieder. Nur der Golgatha-Hügel mit dem großen Holzkreuz ragte noch aus dem Wasser. Bald darauf setzte Hitze ein, und der See trocknete binnen einer Woche aus. Nun fanden Mönche am Fuß von Golgatha einen Bach, der weiter Wasser spendete. Später entdeckten auch Rucksacktouristen die Quelle, und der Hügel wurde vom „Klub des Studentenlieds“ in Beschlag genommen. Sie schlugen ihre Zelte am Feldrand auf, zündeten Lagerfeuer an und sangen obszöne Lieder, die bis hinter die Klostermauern drangen und den Gottesdienst störten. Der Hügel wurde zur Latrine, und Plastikmüll verpestete kilometerweit die Umgebung.

      In der Nacht zu Mariä Himmelfahrt saß Aristarch, der Abt des Klosters, auf der Außentreppe und schaute in die Tiefe des Himmelsgewölbes, das vom Flor der Milchstrasse überzogen war. Von Zeit zu Zeit lösten sich Sternschnuppen, zeichneten helle Spuren und verlöschten, ohne die Erde zu erreichen. Der Sternenregen schien in diesem Jahr besonders stark zu sein, doch vielleicht hatte er früher einfach nur besser schlafen können und es sich noch nicht lange genug zur Gewohnheit werden lassen, nachts das Firmament zu betrachten.

      Von Golgatha her war das Gegröle betrunkener Touristen zu hören. Ein Mädchen lachte hysterisch, als ob man es an den Fußsohlen kitzelte. Auf einmal befiel den Abt eine Leere, und ihm wurde schwer ums Herz.

      Seit er eine Klosteranlage nicht weit von Sadonsk übernommen hatte, in der sich früher eine Kinderstrafkolonie befunden hatte, wollte es ihm trotz aller Beharrlichkeit nicht gelingen, die Ruine mit Leben zu erfüllen. Nach fünf Jahren schlafloser Mühe hatte er so gut wie resigniert. Es mangelte an allen Ecken und Enden, und die Unterstützung durch das Patriarchat ließ zu wünschen übrig. Die hiesigen Geschäftsleute waren allesamt Gangster mit Händen voller Blut. Sie bekreuzigten sich zwar stets eifrig vor der Ikonenwand, spendeten jedoch in mehreren Jahren lediglich eine Kircheglocke, dazu noch mit der unverschämten Widmung: “Von der Sadonsker Gang für die unschuldig ermordeten Jungens, die Heiligen Boris und Gleb. Betet für uns.“ Nun schmückte sie den wiedererrichteten Kirchenturm, zum Glück war die Aufschrift von unten nicht zu erkennen.

      Am schlimmsten waren jedoch die Perestroika-Mönche: verwirrte, einfältige Männer, die vor dem Krieg in Transnistrien geflohen waren und im Kloster Unterschlupf gefunden hatten. Sie verstanden nicht zu beten, und selbst von den Zehn Geboten kannten sie auswendig nur „Du sollst nicht töten“. Ausgerechnet diesen unchristlichen Wunsch verspürte Aristarch manchmal, wenn er die Männer herumhängen und trinken sah, während eine Unmenge Arbeit auf sie wartete.

      Gerade schwang sich vom Hügel ein Knallkörper in den Himmel hinauf und zerfiel über dem Kirchturm in rote Funken. Der Abt seufzte. Plötzlich durchzuckte ihn ein Geistesblitz: Er hatte verstanden, was mit Golgatha und den Touristen zu tun war. Der Bach war ein Geschenk des Himmels.

      Die Zeit, die General Dawydow zur Begleichung seiner Schulden geblieben war, schmolz dahin, aber er fand immer noch keine Lösung. Nach Jahren in Untersuchungshaft und einem zermürbenden Strafverfahren war er auf Bewährung freigekommen. Doch von seinem millionenschweren Vermögen war kaum etwas übrig geblieben, einstige Gönner und Untergebene hatten ihm den Rücken zugekehrt. Sascha Zapok, ein Provinzbursche mit schrecklichen Manieren aus einem Banditennest im Ural, den er selbst zu seinem Stellvertreter erhoben, ihm eine Villa in Nizza, ein Chalet in der Schweiz und ein dickes Tarnkonto auf Zypern verschafft hatte, dieser Sascha hatte einfach geduldig auf seine Stunde gewartet, darauf, dass der Boss das Gefühl für die Gefahr verlieren und zu stolpern beginnen würde.

      „Das passiert uns allen mit der Zeit und insbesondere im Zenit unserer Macht“, wälzte Dawydow düstere Gedanken in seinem abgewetzten Hirn. „Da kannst du noch so scharfsinnig sein und wirst trotzdem Gefangener deiner Handlanger. Sie filtern für dich die Wirklichkeit, sie täuschen dich über die Lage, nutzen deine Schwächen aus. Als ob du nicht gewusst hättest, dass du von Arschkriechern umgeben bist, dass keinem zu trauen ist und dass das gierige Rudel schon lange geifernd die Raubtierzähne fletscht.“

      So sah die Bilanz seines Aufstiegs und Absturzes aus.

      „Na, Alter, hast du nicht genug gelebt, nicht genug gehabt, nicht alle Weiber flachgelegt, nicht alle Weine gekostet, nicht alle Feinde zur Strecke gebracht?“ grinste ihn der sonnengebräunte