Sonja Margolina

KALTZEIT


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auch nicht mehr. Wie viele Seelen hast du auslöschen lassen – aus Rache und einfach aus Spaß, mit dem Leben anderer zu spielen? Nein, die tun dir nicht leid. Mir auch nicht. Nur ist jetzt meine Zeit gekommen, jetzt sitze ich am Ruder, Alter. Aber ich bin nicht wie du, ich mache deine Fehler nicht, die Du im Hochmut begangen hast. Ich werde nicht abwarten, bis Hungrige und Potentere, die ganz und gar ergeben tun, mich schließlich um meinen Besitz bringen, mich zum Verbrecher erklären und einsperren lassen. Ich habe für den Fall des Falles einen Flugplatz in Reserve, auf dem ich sicher landen werde, bevor mein Stellvertreter mein Dossier an die Konkurrenz verkauft.“

      Dawydow ächzte, erhob sich vom Sessel und trat ans Fenster, das auf eine ruhige Sackgasse inmitten des Moskauer Zentrums hinausging. Im Volksmund war diese Gegend als „Goldene Meile“ verschrien, weil die Immobilien dort inzwischen horrende Preise erzielten und eine entsprechende Klientel anzogen. Insbesondere bei korrupten Staatsbeamten waren die Luxusapartments in diesem Viertel gefragt, um Bestechungsgelder sicher und legal anzulegen. Dawydow war es im letzten Augenblick gelungen, seine herrschaftliche Wohnung, die er Anfang der 90er Jahre für lächerliche 10.000 Dollar erworben hatte, vor der Beschlagnahmung zu retten. Sie fiel nun unter den Verjährungsparagrafen.

      Abends wirkte das ganze Viertel wie ausgestorben: kein Licht in den Fenstern, keine Menschenseele auf der Straße. Lediglich riesige Limousinen mit getönten Fensterscheiben rauschten durch die toten Gassen.

      Auf der anderen Straßenseite sah Dawydow eine Frau auf dem Bürgersteig liegen. Sie reckte ihren Arm in die Höhe und jammerte, aber die wenigen Passanten machten einen Bogen um sie wie um ein Häuflein Hundekot. Wie viele in diesen Tagen, an denen die Temperatur auf +40°C im Schatten stieg, war sie Opfer eines Hitzschlags geworden. Solche Halbtoten lagen immer wieder auf den Straßen herum. Sie krochen aus den Häusern in der Hoffnung, in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden. Doch die Notambulanz anzurufen war sinnlos. Deren Telefone waren dauernd besetzt oder abgeschaltet. Was sich erst in den Wohnsilos abspielte, die von der gnadenlosen Sonne aufgeheizt wurden, wollte man sich gar nicht ausmalen.

      Seit zwei Wochen nun wurden die Torfmoore und Wälder des Moskauer Gebiets von schweren Feuern heimgesucht. In Dawydows Wohnung staute sich der Brandgeruch, der von der Klimaanlage angesaugt wurde. Der General schwitzte, ihm schmerzten die Augen, und in den Schläfen hämmerte es wie bei einer Migräne. Ausgerechnet an diesem extremen Wetterereignis zu krepieren, dachte er grimmig, wäre vollkommen absurd. Es war höchste Zeit, diesem Glutofen den Rücken zu zukehren. Doch zunächst musste er eine Entscheidung treffen, eine Lösung finden. Dawydow war alt, übergewichtig, und das zermürbende Strafverfahren war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Tatsächlich fiel es bei seinem Anblick schwer, sich vorzustellen, dass einst ein Wink von ihm, der eine Zeit lang einer der mächtigsten Männer im Staat gewesen war, über Leben und Tod entscheiden konnte.

      Seine Karriere hatte in der Moskauer Zentrale für Auslandsaufklärung in den 70er Jahren begonnen. Dort war der junge Geheimdienstler auf einen verschworenen Männerbund gestoßen, dessen Mitglieder sich als neuer sowjetischer Adel verstanden. Sie nahmen ihn in ihren inneren Kreis auf. „Wir sind ein Rätsel, in einem Geheimnis versteckt“, witzelte sein erster Chef, ein alter Aufklärungshase. Hätte damals jemand deren Zusammenkünfte abhören können, hätte er sich nicht schlecht gewundert, wie sehr ihre Gespräche dem Geplänkel der Regimegegner in den Moskauer Küchen ähnelten, mit dem Unterschied freilich, dass die Küchenphilosophen das System nur zu interpretieren versuchten, während der Geheimdienstadel nichts Geringeres vorhatte, als es zu verändern.

      Der auf einem Geheimtreffen ausgearbeitete Zehnpunkteplan war ein Wagnis: Absetzung des senilen Politbüros, Beförderung einer Kreatur aus den eigenen Reihen auf den Posten des Generalssekretärs, Privatisierung von Grund und Boden bis 50 Hektar, Gründung von Privatunternehmen, Übergabe der Rohstoffkonzessionen an die Vertreter aus Spezialdiensten und Militär, Geheimverträge mit dem Westen zur Beilegung der Konfrontation. Der Preis für die Aufgabe des Wettrüstens wurde auf 200 Milliarden Dollar veranschlagt: Die Amis sollten bitteschön einen Abstand zahlen. Geplant war weiterhin die Aufrechterhaltung der Medienkontrolle durch den KGB und die Wiedergeburt der Orthodoxen Kirche.

      Wie naiv es einmal mehr gewesen war, das unermessliche Weltreich nach einem Plan umgestalten zu wollen, musste Dawydow sich später eingestehen. Stattdessen wurden sie von den Ereignissen überrumpelt, an den Rand des Zusammenbruchs gedrängt, von Oligarchen erniedrigt und abhängig gemacht.

      An seinen Boss, einen Neuen Russen, für dessen Sicherheit der General anfangs zuständig gewesen war, hatte er sich in der Haft fast wehmütig erinnert. Der Kleinkriminelle hatte mit Schutzgelderpressungen ein Vermögen gemacht und die Kontrolle über die Moskauer Baumärkte an sich gerissen. Vielleicht hätte der General es ihm später nicht so grob heimgezahlt, wäre diesem Ganoven das Geld nicht dermaßen zu Kopf gestiegen. Er, der Aufklärer, der Adlige, hatte ihm Mädchen zu besorgen und auf seinen Orgien wie der letzte Eunuch Wache zu schieben. Diese Erniedrigung, die der General von solch einem Lumpen über sich hatte ergehen lassen müssen, schrie nach Rache. Und als endlich die Zeit gekommen war, alte Rechnungen zu begleichen, da stürmte eine schwer bewaffnete Sondereinheit das Anwesen des Emporkömmlings. Er wurde nackt und zitternd in seinen Gemächern auf den Marmorboden geworfen, getreten, Handschellen knackten an seinen verdrehten Handgelenken. Konkubinen huschten kreischend auseinander, nach deren runden Hintern Dawydows Männer lachend und gierig ihre Hände ausstreckten.

      Das Vermögen, das der General sich dabei unter den Nagel gerissen hatte, betrachtete er als Schmerzensgeld. Das arme Schwein, dessen Harem er eben noch bewachen musste, hatte nun nicht einmal mehr Mittel, um sich anständige Haft-Bedingungen zu leisten. Kein Wunder, dass er im Straflager schon am ersten Tag von den Mitgefangenen zum Pico degradiert wurde und fortan seinen Schlafplatz an der Latrine hatte.

      In den darauffolgenden Jahren hatte Dawydow etliche Unternehmer, die sich in den 90ern „Volksvermögen“ angeeignet hatten, an ihre Sünden erinnert und sein eigenes Geschäftsimperium aufgebaut. Nun war der General selbst Oligarch geworden und hatte alle Mühe, nicht auf der Forbes-Liste der reichsten Männer Russlands aufzutauchen. Denn das Geld vermehrt sich am schnellsten in der Stille, und schmutziges Geld ist in sauberen Händen am besten aufgehoben. Naturgemäß zog es sein Bares ins Ausland.

      Die Idee eines Investitionsprojekts in Deutschland kam ihm spontan bei einem festlichen Gottesdienst in der gerade frisch wiederaufgebauten Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Er stand in der Nähe des Staatspräsidenten und fühlte sich exponiert: Mit seiner Bärengestalt überragte er die ganze Gefolgschaft um einen Kopf. Die Fernsehkameras, welche die feierliche Liturgie auf allen Kanälen übertrugen, schienen es auf ihn abgesehen zu haben. Ihm war heiß. Hinter seinem Rücken beschwerten sich zwei Deutsche, dass sie seinetwegen den Patriarchen nicht sehen könnten. Er starrte auf die Goldstickereien auf dem Gewand des Kirchenoberhaupts, und durch eine unerfindliche Assoziationskette durchzuckte ihn plötzlich ein Geistesblitz: Es müsste doch eigentlich ein Leichtes sein, in Deutschland ein orthodoxes Kloster zu gründen. Die Vorzüge lagen auf der Hand: blühende Landschaften, geografische Nähe zu Russland, Steuerprivilegien für gemeinnützige Einrichtungen, – kurzum Narrenfreiheit.

      Ginge sein Plan auf, würde – als Wallfahrtsort getarnt – eine der größten Geldwäscheanlagen für seine sprudelnden Einkünfte entstehen. Für die Umsetzung des Projekts brauchte er einen ortskundigen Manager, und ihm war sofort sein alter Agent Nikolaj Platonow eingefallen. Der Mann war der beste Absolvent der KGB-Nachrichtenschule aus dem Jahrgang 1984 – die Zeit lag tatsächlich ein halbes Leben zurück – und stand mit einem Bein bereits in der Bundesrepublik, wo der angehende Aufklärer unter diplomatischer Deckung als Resident tätig werden sollte. Doch stattdessen wurde er prompt in eine Militärgarnison im Osten eingewiesen. Die DDR galt bei Geheimdienstlern als ein Abschiebeplatz für Minderbemittelte, und Platonow war brüskiert. „Hab Geduld, schon sehr bald könnte sich vieles ändern“, suchte Dawydow seinen enttäuschten Untergebenen zu beschwichtigen. „Ein neues Big Game ist im Kommen, in dem du unentbehrlich sein wirst!“ Von wegen Big Game. Platonow hatte Pech und wurde arbeitsloser Agent. Kein Wunder, dass er nach dem Fall der Mauer in den Waffenhandel geriet und sich schließlich mit dem Geld auf und davon machte. Anscheinend bildete er sich ein, man würde ihn im Chaos vergessen.

      Darin hatte er sich