Sonja Margolina

KALTZEIT


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Das Kind brauchte die Mutter, entschied Robert. Deshalb war er schweren Herzens bereit, das Sorgerecht für Marlene mit Claire zu teilen. So durfte sie in Deutschland bleiben.

      Das änderte nichts daran, dass sie flugs zu ihrem Galan nach Belgien verschwand und Robert – ohne Arbeit und zur Untermiete bei einem Freund wohnend – das Kind allein versorgen musste. Bald ging ihre neue Beziehung in die Brüche, sie trudelte wieder in Berlin ein und fand einen Job in einem Nachtklub. Er hatte aufgehört, die Männerstimmen an ihrem Telefon zu zählen. Nun war Marlene jede zweite Woche bei ihrer Mutter, und wenn sie in der Potsdamer Straße übernachtete, suchten ihn böse Gedanken heim.

      Robert hatte überhaupt keine Lust, sein Versagen zu analysieren. Er hasste diesen typisch deutschen Psycho-Quatsch: Familiengeschichten mit schweigenden Nazi-Vätern, Suchen nach jüdischen Vorfahren, Bohren in den eigenen Traumata. Er war nicht am schlechtesten Fleck der Erde zur Welt gekommen und hatte eine halbwegs gewöhnliche Kindheit verlebt.

      Ilma und ihre jüngere Schwester – seine Mutter Gudrun hatte es aus Ostpreußen nach Schwaben verschlagen. Ilma war damals 17 und Gudrun erst 12. Ihre ganze restliche Familie war auf der Flucht umgekommen – das wusste Robert schon als kleines Kind. Gudrun schaffte es nicht, die Schule zu beenden und arbeitete an einer Tankstelle. Wer sie geschwängert hatte, konnte Ilma nicht aus ihr herausbekommen. Ein Jahr nach seiner Geburt musste sie in die Psychiatrie, die sie nur selten verlassen durfte. Dass den Geschwistern noch andere üble Dinge angetan wurden, hatte Ilma ihm aber erst nach dem Abitur verraten. Im Nachhinein fand er es absurd, dass sie ihn schonen wollte.

      Ilma erkannte früh, dass Robert eine schnelle Auffassungsgabe hatte und schickte ihn auf ein Gymnasium der Benediktiner. Der Lehrer für Physik und Biologie – ein Kriegsversehrter aus Breslau – gab Robert zu verstehen, dass er ihn schätzte. Er ließ ihn die schwierigsten Aufgaben lösen. Lange vor der Pause war Robert damit fertig, blickte von seinem Heft auf und wartete, dass der Lehrer ihn anschaute. Seine Augen wurden dann sanft, er trat an Roberts Tisch, warf einen kurzen Blick auf den Lösungsweg und strich ihm über die Haare: „Einwandfrei, mein Junge.“

      In der Pause half er dem Lehrer, der eine Handprothese trug, sich eine Zigarette zu drehen. Sein Traum war, gemeinsam mit ihm auf die Zugspitze zu fahren und die Gestirne durch ein Fernrohr zu beobachten. Am liebsten aber hätte Robert seinen Lehrer zum Vater gehabt. So aber durfte er lediglich bei Demonstrationsexperimenten helfen. Tagelang bastelte er an farbigen Protonen und Neutronen, die er aneinander klebte. Nur die Elektronen fielen ihm immer wieder vom Draht der Umlaufbahn ab.

      Nach dem Abitur schrieb sich Robert für ein Studium der Nuklearphysik ein. Doch gleich am Anfang fiel ihm auf, dass seine Begeisterung für dieses Fach nicht von allen Kommilitonen an der Universität geteilt wurde. Die meisten nahmen an Antiatomdemos teil, und als er sich für ein Zimmer in einer WG bewarb, wurde ihm als „Atomschwein“ sogar eine harsche Abfuhr erteilt. Er musste auf einem Bauernhof unterkommen.

      Bereits in der ersten Semesterwoche stürmten protestierende Studenten der Philosophischen Fakultät in die Vorlesung, die vom Leiter des Lehrstuhls für Festkörperphysik, Professor Siegfried von Castorp gehalten wurde. Sie wedelten mit Transparenten „Atomkraft? Nein, danke!“ und schrieen „Atom ist Krieg!“ An der Uni brodelte es.

      „Die Jugend versteht einfach nicht“, beklagte Castorp sich bei seinen Kollegen, „wie ungeheuer wichtig kontrollierte Kernspaltung für den Fortschritt der Menschheit ist. Zukunftsforscher schlagen wegen der Bevölkerungsexplosion und der Überbelastung der gesamten Biosphäre Alarm. Man kann doch nicht in einem Atemzug vor einer Erschöpfung der natürlichen Ressourcen warnen und die Kernenergie verdammen.“

      Der engagierte Professor regte deshalb eine öffentliche Vorlesungsreihe zum Thema „Energie und Fortschritt“ an. Der erste Vortrag war betitelt „Zukunft der Energie“ und wurde von ihm selbst gehalten. Neben bürgerlichem Publikum aus der Stadt waren im überfüllten Audimax die vielen Studenten mit ihren Anti-AKW-Buttons nicht zu übersehen. Nicht einmal vor seiner Antrittsvorlesung hatte Castorp eine solche Aufregung verspürt. Er nahm sich zusammen.

      „Es sei daran erinnert, meine Damen und Herren, dass der Großteil der Welt bis in das 19. Jahrhundert hinein von Naturalwirtschaft lebte. Anders ausgedrückt, Menschen waren in hohem Maße auf regenerative Ressourcen angewiesen. Biomasse diente als Nahrung sowie als Futtermittel für Tiere. Reisen war ohne die Muskelkraft von Mensch und Tier, Heizung und Kochen ohne Holz schlecht möglich. Aber die Energiedichte von Holz ist gering, und so führte die industrielle Revolution zu wachsendem Holzbedarf. Dieser wiederum hatte eine dramatische Dezimierung der europäischen Wälder zur Folge.

      Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts wurde in Europa wegen einer drohenden Holznot Alarm geschlagen. Das Verschwinden des Waldes schien unmittelbar bevorzustehen. Kaum zu glauben, aber bei der Einberufung der französischen Generalstände 1789 hatte die Frage der Holznot oberste Priorität. Der sich abzeichnende Mangel an verfügbarer Energie setzte, so schien es, dem Höhenflug des aufstrebenden Kapitalismus enge Grenzen. Wegen der Holznot, so fürchtete Karl Marx, liefe der Kapitalismus Gefahr, in eine tiefe Krise zu stürzen, noch ehe das Proletariat seine Ketten verlöre.“

      Aus dem Publikum ertönten aufmunternder Applaus und Gekicher.

      „Leider war der Prophet des Kommunismus nicht auf dem neuesten Stand der Entwicklung seiner Zeit. Er übersah schlicht den sich damals vollziehenden Paradigmenwechsel: Kohle war im Begriff, Holz als Treibstoff des Fortschritts zu ersetzen, bereits im Jahr 1885 übertraf der Kohleverbrauch denjenigen des nachwachsenden Rohstoffs, während Erdöl im Jahr 1950 zur wichtigsten Ressource wurde.

      Die Welt ging von den regenerativen, aber knapp gewordenen Rohstoffen zu Kohle, Öl und Erdgas über, und das aus guten physikalischen und mathematischen Gründen.

      Wind besitzt nur ein Zehntel der Energiedichte von Holz, Holz die Hälfte der Energiedichte von Kohle und Kohle die Hälfte der Energiedichte von Kohlewasserstoff. Alle zusammen unterscheiden sie sich voneinander um einen Faktor von etwa 50. Anders ausgedruckt: Die gleiche Masse Kohle kann in deutlich mehr Energie und Arbeit umgewandelt werden als die von Holz, während Öl noch energiereicher ist als Kohle.

      Fossile Brennstoffe haben der industriellen Revolution einen ungeahnten Auftrieb gegeben. Der Übergang von Holz zu Kohle, Öl und Gas als Energiequelle war auch der Grund, warum uns der Wald erhalten blieb und in einigen Ländern seinen Raum sogar zurückerobern konnte. Und doch stieß diese Form der Energiegewinnung an ihre Grenzen. Stellen wir uns vor: Um die Stromversorgung von London oder Los Angeles zu gewährleisten, werden tagtäglich Tausende von Zügen mit Kohle in die Heizkraftwerke geschickt. Ein 1000-Megawatt-Kohlekraftwerk benötigt bei vollem Betrieb alle 30 Stunden einen Güterzug mit 110 Waggons voll Kohle – 300 mal im Jahr. Tausende mit Rohöl beladene Tanker durchpflügen die Ozeane, um unsere Mobilität und unseren Wohlstand zu sichern.

      Wir wähnen uns modern, glauben auf der Höhe des Fortschritts zu sein. Doch zugleich ist unsere Form der extensiven Energiewirtschaft immer noch eigentümlich archaisch. Dabei gibt es bereits eine neue Form von Technologie, die fast unbegrenzt Energie mit einem verschwindend geringen Einfluss auf die Umwelt produzieren kann. Es besteht kaum ein Zweifel, dass sie mit der Zeit fossile Brennstoffe ersetzen wird.

      Natürlich ist die Rede von der verfemten Kernkraft. Sie besitzt etwa 2 Millionen Mal die Energiedichte von Benzin. Unsere Energiezukunft hängt großenteils davon ab, die Bedeutung dieser Differenz zu erfassen. Ein Kernreaktor wird versorgt, indem eine Flotte von sechs Sattelschleppern mit einer Ladung von Brennstäben einmal alle 18 Monate in diesem Kraftwerk eintrifft. Die Brennstäbe sind nur schwach radioaktiv und können mit Handschuhen angefasst werden. Sie verbleiben dann fünf Jahre in dem Reaktor. Nach diesen fünf Jahren werden sich etwa 170 g Materie vollständig in Energie verwandelt haben. Diese Menge reicht aus, um eine Stadt mit 2 Millionen Einwohnern fünf Jahre lang mit Strom zu versorgen. Das ist es, was uns Sterblichen so schwer fällt zu verstehen.“

      Castorp hörte die Stühle klappern und schaute verwundert in den Saal. In den hinteren Reihen rumorte es, die Zuhörer reckten ihre Hälse in die Höhe. Vorne war ein unterdrücktes Gekicher zu hören. Er verlor den Faden und drehte sich um. Hinter dem Vorhang versuchte jemand, ein Transparent auf die Bühne