Sonja Margolina

KALTZEIT


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ja“, erwiderte Robert etwas unsicher. „Physikalisch betrachtet wären eigentlich Zweifel angebracht, ob Kohlendioxid wirklich einen derart verheerenden Einfluss auf das Klima entfalten kann. Treibhausgase haben das Leben auf dem Planeten erst möglich gemacht. Sonst würde die Temperatur der Atmosphäre von +15°C auf – 18°C sinken. Das ist Schulwissen. Das wichtigste Treibhausgas ist bekanntlich Wasserdampf. Auch CO2 absorbiert die Wärmestrahlung, die von der Erde abgestrahlt wird. In vorindustrieller Zeit betrug der Gehalt des Kohlendioxids in der Luft zirka 0,025-0,030 %, im letzten Jahrhundert stieg er auf 0,04 %. Das sind 400 Moleküle auf eine Million Luftteilchen. Dass ausgerechnet ein paar Hundert Moleküle für eine nie da gewesene Klimaerwärmung verantwortlich sein sollen, dafür fehlt mir die Fantasie. Dazu ist die Vorstellung vom Planeten als einem Gewächshaus physikalisch falsch. Die Atmosphäre ist keine Glaskuppel, und die Erde ist kein geschlossenes System. Sie gibt einen Teil ihrer Energie an das Weltall ab.“

      Danach meldete sich ein Kommilitone zum Wort.

      „Die Hypothese, dass der Anstieg von CO2 die Atmosphäre aufheizen könnte, ist bereits vor mehr als hundert Jahren geäußert worden. Unter Ausblendung aller anderen Faktoren, die das Klima beeinflussen, könnte sich die Temperatur mit der wachsenden CO2-Konzentration in der Tat erhöhen, aber nicht linear, sondern nur regressiv logarithmisch. Bei der Verdopplung des CO2 - Gehalts in der Luft würde die globale Temperatur dann um 1°C ansteigen. Doch das ist eine rein theoretische Annahme. In Wirklichkeit müssen auch andere Antriebe und Rückkopplungen in den Berechnungen berücksichtigt werden. Das Klima ist ein Chaossystem und...“

      „Nun gut“, unterbrach ihn Castorp. „Ihr beide habt unterschiedliche Unsicherheiten angesprochen. Tatsächlich wissen wir vom Klima noch zu wenig. Mir geht es jetzt vor allem darum, welche Bedeutung der vermeintliche Einfluss des CO2 auf die Erderwärmung für uns als Nuklearforscher haben könnte?“

      Robert kratzte sich am Nacken. „Keine, weil wir uns mit der Kernspaltung beschäftigen, bei den Treibhausgasen wie Kohlendioxid oder Methan geht es aber um die Absorption der Infrarotstrahlung durch Moleküle.“

      „Das ist nicht falsch, aber das meinte ich nicht“, entgegnete Castorp. „Wer hat einen Vorschlag?“

      Ein anderer Kommilitone hob seine Hand. „Ich denke, es geht im Wesentlichen, na ja, um den sol perpetuus.“ Das Seminar brach in Gelächter aus. Auch Castorp war sichtlich erheitert, sagte dann aber ernsthaft: „Und wie wäre das zu verstehen? Dass die Sonne uns nicht ausgehen wird, ist eine Binsenwahrheit.“

      Der Student fuhr munter fort. „Sie haben das Problem bereits in Ihrer Vorlesung angesprochen. Laut den Prognosen des Club of Rome sollen die fossilen Brennstoffe spätestens in fünfzig Jahren erschöpft sein. Bereits die schiere Geschwindigkeit, mit der die Kohlenwasserstoffe verbraucht werden, mutet unheimlich an. Da fällt es einem nicht schwer, an gravierende Folgen wie den Treibhauseffekt zu glauben. Darum ist die Kernenergie ein Ausweg aus der Sackgasse der Energiearmut und eine ökologische Alternative. Auf den Begriff des sol perpetuus bringe ich das, was in der Sonne oder im Erdinneren geschieht: eine zeitlose Erzeugung von Energie mit Hilfe der Kernfusion. Würde die kontrollierte Kernfusion jemals gelingen, bekämen wir so eine gezähmte Sonne auf der Erde.“

      „Sehr gut!“ nickte Castorp. „Tatsächlich fürchten manche Forscher die gravierenden Folgen der wachsenden Emissionen von Treibhausgasen, die zu einer Erderwärmung beitragen. Wie kann man aber unser Wissen über die Kernreaktionen mit der Wirkung des CO2 auf das Klima in Verbindung bringen?“

      „Weiß ich nicht“, erwiderte der Student verdutzt. „Kernreaktionen haben, wie gesagt, mit dem CO2 nichts zu tun. Dabei entstehen keine Treibhausgase. Von daher ist die Atomenergie sauber.“

      „Endlich“, seufzte Castorp erleichtert. „Das Schlüsselwort lautet `sauber`. Uns wird stets vorgeworfen, wir arbeiteten an einer gefährlichen Technologie. Aber im Unterschied zu Kohle und Öl ist die Kernspaltung klimaneutral.“

      „Und was folgt daraus?“ fragte Robert befremdet.

      “Wer einer Dekarbonisierung der Wirtschaft das Wort redet, darf die Atomenergie nicht verteufeln.“

      Zu Hause erzählte Robert seiner Freundin, die Umwelttechnik studierte, von dem neuen Einfall seines Professors. Castorp schien vom menschengemachten Treibhauseffekt nicht wirklich überzeugt zu sein, aber die Angst vor der drohenden Klimakatastrophe könne die Sache der Kernenergie voranbringen.

      „Was heißt hier `nicht überzeugt`?" fauchte sofort seine Freundin.„Verstehst du denn nicht? Der Raubtierkapitalismus ist dabei, die ganze Erde zu verwüsten. Die fossilen Bodenschätze haben sich in Hundertmillionen von Jahren herausgebildet, und jetzt werden sie für den Scheißkonsum in ein paar Jahrzehnten verfeuert. Klar doch, wenn der ganze Kohlenstoff, der in der Kohle und im Erdöl gespeichert war, auf einmal freigesetzt wird, wird es mit dem Klimagleichgewicht bald vorüber sein.“

      „Das CO2 kehrt doch aber in den Kohlenstoffkreislauf, in Pflanzen und Ozeane wieder zurück.“

      „Gar nicht! Die schaffen das nicht mehr. Die Erde ist Gaia, ein lebendiger Organismus. Sie reguliert sich selbst, aber wenn der Kapitalismus ihre Selbstregulierung außer Kraft setzt, wird Gaia krank und stirbt. Das hat James Lovelock gesagt, und der ist cool“, schloss sie im Brustton der Überzeugung.

      „Wenn du meinst, dass ausgerechnet das CO2 für den Treibhauseffekt verantwortlich ist, sollten wir erst recht die Kohlekraftwerke durch Atomkraftwerke ersetzen. Genau das schlägt Castorp vor. Nur bei der Gewinnung von Kernenergie entsteht kein CO2“, erwiderte er nicht ohne Genugtuung. Sie schaute ihn verärgert an.

      „Wir werden Sonnenkollektoren für die ganze Welt bauen.“

      „Die Photovoltaik“, entgegnete er, „ist nicht effizient und kann keinen stabilen Strom produzieren.“

      Als sie sich schlafen legten, kehrte sie ihm trotzig den Rücken zu.

      Castorp brauchte nicht viel Zeit, um seinen Fachkollegen nahe zu legen, wie sie aus der Defensive herauskommen könnten. Kohlendioxid war ein Geschenk des Himmels.

      Der Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft verfasste ein Memorandum „Warnung vor einer drohenden Klimakatastrophe“.

      “Um die drohende Klimakatastrophe zu vermeiden, muss bereits jetzt wirkungsvoll damit begonnen werden, eine weitere Emission der genannten Spurengase drastisch einzuschränken.“ Klimaverträglich sei lediglich Kernkraft, und ohne einen langfristigen Ausbau der Atomenergie könne eine globale Katastrophe nicht abgewendet werden. Diese Stellungnahme schlug wie eine Bombe in der Öffentlichkeit ein. Die mittlere globale Temperatur, las Castorp bald im Interview eines CDU-Politikers, würde in 50 Jahren um bis zu 4,5°C steigen. Unwetter, Hunger, Elend und Ströme von Umweltflüchtlingen wären die Folgen. Er fühlte sich wie in einer Geisterbahn.

      Als Wissenschaftler war Castorp gewohnt, an den Verstand und die Logik zu appellieren, und es war bislang nicht seine Art, Katastrophen heraufzubeschwören. Immer wieder war er über die Panikwogen, die die Gesellschaft heimsuchten, entrüstet. Das Kriegstrauma schien tiefer in der deutschen Gesellschaft zu sitzen, als man wahr haben wollte. Es hatte eine erstaunlich lange Halbwertzeit und wirkte in der jungen Generation weiter. Aber wie konnten Physiker, musste er sich fragen, die Öffentlichkeit von der Zukunft der Kernkraft überzeugen, wenn die Anti-Atom-Bewegung Ängste schürte, die Medien Panik schoben und die Politik vor sich hertrieben? Ihm war klar bewusst, dass Klimaforschung noch in den Kinderschuhen steckte. Man bräuchte Jahrzehnte, um die Auswirkungen anthropogener Emissionen vor dem Hintergrund natürlicher Faktoren zu verstehen. Vielleicht hatten sie in dem „Memorandum“ doch zu dick aufgetragen. Man sollte lieber nicht vor einer Klimakatastrophe, sondern von den drohenden weltweiten Klimaänderungen durch die Menschen warnen.

      Aus diesen verworrenen Gedanken wurde er durch schrilles Telefonklingeln herausgerissen.

      „Wie viel Röntgen?“ Castorp sank in den Lehnstuhl und schloss die Augen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt kommen würde: Demos, nieder mit dem Atomstaat,