Sonja Margolina

KALTZEIT


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Taxi“, rief der Fahrer, „wir bedienen nur getaufte Gäste.“

      „Fahr nur“, befahl Dawydow und wedelte drohend mit dem Stock vor seiner Nase.

      „Reg dich ab, Alter!“ schrie ihn der Fahrer an, „sonst wirst du hier auf dem Asphalt braten.“ Dawydow gab klein bei. Er hatte es gerade noch geschafft, in den Zug zu steigen, und fiel schweißgebadet und entkräftet auf einen Sitz. Im Waggon gab es nur eine Handvoll Fahrgäste. Als der Zug losfuhr, heulte die Klimaanlage auf. Dawydow schöpfte Atem.

      Der Zug kroch langsam durch Moskau. Im Fenster zeigten sich in gelben Smog gehüllte Hochhäuser. Der Anblick des glühenden Molochs drückte Dawydow auf die Brust. Langsam ließ der Zug die Stadt hinter sich und ratterte durch den abgebrannten Wald. Bald zischte er und hielt an. Die Klimaanlage fiel aus. Nach wenigen Minuten verwandelte sich der Waggon in einen glühenden Ofen. Das Thermometer an der Tür zeigte +50°C. Der Schweiß strömte an ihm hinab auf den Sitz.

      Dawydow stand auf und taumelte zur Tür. Im selben Augenblick öffnete sich diese, und ein Schaffner mit klebrigem Haarschopf schrie wie betrunken in den Raum:

      „Der Zug fährt nicht mehr weiter, alles aussteigen.“

      Eine Frau schluchzte. Männer fluchten.

      „Was heißt hier aussteigen?“ rief ihm Dawydow aufgebracht zu. „Wir sind praktisch im Niemandsland, es gibt nicht einmal einen Bahnsteig.“

      „Der Zug fährt nicht, das Hochspannungsnetz ist zusammengebrochen. Vorne brennt es.“

      Dabei riss er die Tür auf: „Raus mit euch.“ Dawydow sprang ungelenk auf den Bahndamm und landete auf seinem Hinterteil. „Wo sind wir überhaupt?“ wandte er sich an den Schaffner.

      „Eichenhain!“

      Die Fahrgäste wanderten nun durch einen bereits ausgebrannten Wald. Verkohlte Äste und Tierkadaver zeugten von der Heftigkeit des Feuersturms, aber auch davon, dass der Brand nicht mehr wiederkehren würde. Dawydow atmete erleichtert auf, als sie sich nach einiger Zeit auf einer asphaltierten Landstraße wiederfanden. Ihm blieb nun nichts anderes übrig, als Aristarch anzurufen, damit er ihn hier herausholte. Auf eigene Faust würde er es nicht einmal bis in die nächste Siedlung schaffen. Er erreichte den Abt sofort und erklärte ihm, wo er ungefähr gestrandet war.

      Die Gruppe der Reisenden belebte sich, als sie eine Stunde später ein Fahrzeug näher kommen sah. Doch dann erkannten sie in dem Auto einen Bonzenwagen, wichen apathisch zurück und ließen sich ratlos am Straßenrand nieder. Dawydow stieg erleichtert in Aristarchs Maybach ein.

      Die goldenen Kuppeln des Boris-und-Gleb-Klosters strahlten wie in einem Werbeprospekt. Das Gelände war nicht wieder zu erkennen. Aus der einstigen notdürftig renovierten Ruine war eine florierende Pilgerstätte geworden. Die Zahl der Mönche hatte sich verdreifacht, im Dormitorium war ein Luxus-Hotel für VIP-Pilger eingerichtet worden. Jahr für Jahr suchten Abertausende die heilige Quelle auf, deren Wasser Wunder tat. Reisebusse säumten die Einfahrtstraße. Eine Kilometer lange Schlange von Mühseligen und Beladenen bildete sich vor der Kapelle, die über dem Bach errichtet worden war. Die einen brachten leere Plastikflaschen und Kanister mit, um sich Wasser mitzunehmen, die anderen wollten ein Reinigungsritual vollziehen.

      Auf dem Klostergelände und in den umliegenden Dörfern hielten sich im Sommer zeitgleich bis zu dreitausend Pilger auf. Die Infrastruktur stand vor dem Kollaps. Pilger prügelten sich um einen Platz in der Schlange zum Heilwasser. Dem Abt blieb nichts anderes übrig, als der zu Neige gehenden Quelle diskret Leitungswasser zuzuführen. Doch in diesem bestialisch heißen Sommer gab es Pannen bei der Stromversorgung, und der Bach trocknete immer wieder aus. Dann bestrafte Gott diese gebeutelte, dürstende Erde mit dem Brand. In der Stadtverwaltung hatte man ihm versichert, das Feuer würde vor dem Kloster Halt machen, denn die Böden in der Gegend seien schwer, und es gebe keinen Torf mehr in unmittelbarer Nähe. Aber Aristarch hatte zur Genüge Erfahrungen mit Behörden gesammelt und misstraute deren Beschwichtigungen.

      Der Himmel war von Rauchwolken überzogen. Rauch drang in die Lungen. Der Siebzigjährige fand wie so oft in letzter Zeit keine innere Ruhe. Bislang war ausgerechnet der General der einzige Mensch, mit dem er offen über sich selbst, über ihre Vergangenheit, über ihre Frauengeschichten reden konnte. Der Abt, der im bürgerlichen Leben Anton Filonow hieß, hatte drei uneheliche Kinder von zwei Frauen. Zwei Töchter, die er mit einer Schauspielerin gezeugt hatte, waren längst ins Ausland gezogen. Der letzte Sprössling aber, der von seiner reumütigen Mutter im festen Glauben erzogen worden war und ein Priesterseminar besuchte, hatte sich das Leben genommen, nachdem er das Geheimnis seiner Herkunft erfuhr. So zündete er an seinem Namenstag eine Kerze vor der Ikone der Gottesmutter von Wladimir an, die er im Stadtmuseum hatte konfiszieren lassen, kniete nieder und murmelte: „Vater unser im Himmel, verzeih Deinem sündigen Knecht.“

      Als Dawydow im Kloster eingetroffen war, sah er, wie Aristarch seine Mönche herumkommandierte. Auf dem Gelände rund um die Anlage hielten sich erschöpfte Pilger im Freien auf, die nicht fort konnten. An ihren aufgesprungenen Lippen konnte er ablesen, dass es kein Wasser mehr gab.

      „Geh ins Büro“, winkte ihm der Abt zu, „ich habe keine Zeit zu verlieren. Die Wasserpumpe hat den Geist aufgegeben, hier sind Hunderte von Menschen, die nichts zu trinken haben.“ Dawydow machte eine Geste „kümmere dich nicht um mich“ und trat vor das Tor.

      Hinter den Mauern des Klosters lag ein Weizenfeld. Er sah die Ähren trocken und schwarz hinabhängen. Der Wind wirbelte Staub auf. Pilger und Opfer der Feuerkatastrophe lagen entkräftet auf dem Boden. Am gegenüberliegenden Feldrand bewegte sich eine Kreuzprozession mit Kirchenfahnen und Ikonen. Der Abt hatte Anweisung erteilt, Bittgebete um Regen zu organisieren.

      Ein Volontär aus der Stadt in durchschwitztem T-Shirt und Shorts, dem Aussehen nach ein Student, stand am Golgathahügel und hielt eine flammende Rede.

      „Wonach schreien verrückt gewordene Kühe, Wild, Vögel, Insekten? Sie rufen nach Gerechtigkeit! Erhebt euch gegen die Partei der Diebe und Ganoven!“ schrie der Student mit einer dünnen brechenden Stimme, „Nieder mit der Polizei, die unsere Brüder foltert! Jagt die fetten Kater aus den Ämtern! Jagt die Speichellecker und Arschkriecher, die die Wolken auseinander treiben und das Klima vernichten! Nieder mit der Geheimdienstmafia! Alle Macht den Nerds!“

      Dawydow hörte nur einzelne Phrasenfetzen, die der Junge sich von der Seele schrie. Der Student schien den Mob aufzuwiegeln. Doch die Menge lauschte ihm apathisch, ohne zu verstehen, was er von ihr wollte. Einzelne Stimmen stöhnten: „Wasser, gib uns Wasser!“

       Doch Wasser gab es nicht. Der Wind wurde stärker, der Staub drang in Augen und Nase. Es war später Nachmittag, aber es herrschte Dunkelheit wie bei einer Sonnenfinsternis.

      „Wo bin ich? Was tue ich hier eigentlich?“ erschauderte Dawydow. „Das ist doch Mittelalter: Die Pest, die Brandopfer, der Kreuzumzug... was hat das alles mit mir zu tun?“

      Auch die Nacht brachte keine Erleichterung. Die beiden Alten saßen erschöpft im Büro und tranken Wasser. Ein Gespräch wollte sich nicht richtig einstellen. Der Abt ahnte, dass der Besuch seines niedergeschlagenen Freundes zur Unzeit nicht einer plötzlich erwachten Sentimentalität zu verdanken war. Der General bildete sich anscheinend ein, mit dem geliehenen Geld würde er es schaffen, sich auf und davon zu machen, denn den Betrag hätte er niemals zurück zahlen können. Also spielte er auf Zeit. Aristarch nahm ihm das nicht einmal übel. In der Tiefe seiner Seele übte er sogar Nachsicht mit dem gestürzten Paten. Immerhin gehörten beide derselben Generation an und zogen früher gemeinsam an einem Strang. Aber von dieser Generation – musste er nun einsehen – war nichts Gutes mehr zu erwarten. An ihr war etwas faul. Und nachdem sie das Ruder an sich gerissen hatten, ging es mit dem Land immer weiter bergab.

      Als das Feuer ausgebrochen war, fehlte es am Nötigsten: an Feuerlöschgeräten, Baggern, Transportfahrzeugen und vor allem an Behörden, die gewillt waren, Verantwortung zu übernehmen. Da sollte ihm jemand erzählen, der Brand sei Folge der Erderwärmung. „Früher sagte man, es bräche eine Eiszeit an, darum bringe es sowieso nichts, den Schnee wegzuräumen. Man hat den Staat bis auf den letzten Tropfen Blut ausgesaugt, und plötzlich