Sonja Margolina

KALTZEIT


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Jahre, bis der Pate höchstpersönlich seinem missratenen Agenten einen unangekündigten Besuch abstattete. „Erinnerst du dich noch an unseren Eid?“ überraschte er Platonow an seiner Garage und klopfte ihn väterlich an der Schulter: „Einer für alle, alle für einen – bis dass der Tod uns scheidet.“ Platonows Gesicht blieb reglos, nur an seinen erweiterten Pupillen war der Schock des Wiedersehens zu erkennen. Der Mann hatte offensichtlich verstanden, was für ihn auf dem Spiel stand, wenn er auf die Idee käme, das Angebot abzulehnen.

      Ein orthodoxes Kloster war in dieser Gegend ein kurioses Novum. Es ging das Gerücht um, dass hier eine Residentur für russische Spione im Entstehen war und die Mönche und all das Glaubenszeug lediglich als Tarnung fungierten. Bald fingen Journalisten an, um die Baustelle herum zu schnüffeln, und als Geschäftsführer musste Platonow ihre penetranten Fragen beantworten. Eine operative Aufnahme hielt eine kleine zierliche Frau mittleren Alters fest, die eines Tages das Tor des Klostergeländes betrat. Das mitgeschnittene Gespräch der beiden versetzte Dawydow in Alarm: Sein Untergebener schien bereit zu sein, dieser Journalistin alles über das Kloster auszuplaudern, sicher, um sie auf diese Weise ins Bett zu kriegen.

      Es war ein unverzeihlicher Fehler, gab der General später selbstkritisch zu, diesem Nichtsnutz ein derart wichtiges Projekt anzuvertrauen. Nun war das arme Schwein lange tot, in Istanbul von Kugeln durchlöchert. Der Killer hatte ihm ein Foto als Beleg für den ausgeführten Auftrag geschickt. Platonow lag regungslos mit dem Gesicht zum Boden in einer Blutlache. Auch sah man eine Frau, die vor seinem Leichnam niedergekniet war.

      Im Geheimdienstrudel wurde die Pleite mit dem Kloster in Deutschland jedoch als Zeichen für Dawydows Führungsschwäche gedeutet. Man beschloss, ihn loszuwerden und sein Vermögen unter sich aufzuteilen. In einer Zeitung erschien nun ein reißerischer Artikel mit dem Titel „Werwolf mit Epauletten“. Dawydow kam in Haft. Doch all die besten Verteidiger konnten nicht verhindern, dass seine ausländischen Konten auf Geheiß der Generalstaatsanwaltschaft eingefroren wurden. Die Kosten für seine Verteidigung, Richter und Gefängniswärter beliefen sich auf mehrere Millionen. Nach über zwei Jahren Untersuchungsgefängnis hatte er zwar lediglich eine Strafe auf Bewährung bekommen, musste sich aber einfallen lassen, wie er seine Schulden wieder loswurde. Bekam er die Summe nicht irgendwie zusammen – die Frist war im Grunde genommen noch gnädig – würde er wie ein gewöhnlicher Krimineller auf offener Straße niedergestreckt oder in seiner Wohnung aufgehängt gefunden werden: Selbstmord ohne äußere Einwirkungen.

      „Wenn es bloß nicht so heiß und stickig wäre.“ Einen solchen Sommer hatte er bisher erst einmal erlebt. Im Juli 1972, als Moskau genau wie jetzt in Rauchschwaden gehüllt war, hatte seine zweite, unsichtbare Karriere begonnen. Er erinnerte sich sehr gut daran, wie sich das Leben damals angefühlt hatte. Aber er erkannte sich in diesem jungen Mann mit Goethes „Faust“ unter dem Kissen, mit dem Konzert-Abonnement, mit dem Glauben an seine Berufung und seinem Tatendrang nicht wieder. Ihm war seine eigene Vergangenheit fremd geworden.

      Natürlich ändert man sich mit dem Alter, man verliert Illusionen, man wird abgeklärt, grübelte er. Aber er war damals weder gierig noch nachtragend, er hatte Gefühle und konnte verzeihen. Wo und wann war ihm das alles abhanden gekommen? Wie kam er dazu, diese unzähligen Frauenschöße zu begehren, diese Raubkatzen zu begatten, die ihn schamlos rupften, sinnlos Villen anzuhäufen, um nun in der stickigen Hölle von Moskau zu hocken: ohne Stütze im Alter, ohne eine Menschenseele?

      Seine Gespielin, eine vierzigjährige Boutiquebesitzerin, hatte sich kurz vor seiner Festnahme mit einigen millionenschweren Antiquitäten aus dem Staub gemacht. Freilich hatte er auch nichts anderes erwartet, zu lange war er im Geschäft, zu gut kannte er die Spielregeln, um auf Loyalität oder gar Treue zu hoffen. Käme er jetzt auf wundersame Weise an Geld, er hätte ihr gerne eine unvergessliche Lektion erteilt.

      Nun brannten also die Wälder um Moskau herum, er musste hier so schnell wie nur möglich weg. Und der einzige Ort, zu dem zu fahren noch einen Sinn hatte, war das Boris-und-Gleb-Kloster. Aus dem ganzen Rudel hatte lediglich Aristarch, sein Altersgenosse und Vorsteher des Klosters, zu ihm gehalten, als er in U-Haft saß.

      Sie hatten einander von Anfang an gemocht. Der Abt hatte einen kräftigen Bariton, der General beherrschte die höheren Register, und bei ihren seltenen Begegnungen verzichteten sie selten auf das Vergnügen, zweistimmig alte russischen Romanzen und Opernarien zu singen.

      Seine geistliche Karriere hatte Aristarch im KGB-Referat für Konfessionsangelegenheiten angefangen und sich dabei als fähiger Mitarbeiter erwiesen. Nicht dass auf den Geheimdienstler in der Kutte eine göttliche Offenbarung niedergegangen wäre. Dennoch hatte Aristarch den Großteil seines Lebens mit der Kirche zu tun gehabt, und mit der Zeit lernte er, den erbaulichen Zustand zu schätzen, in den ihn das tagtägliche Ritual, der Gottesdienst und insbesondere der geistliche Gesang versetzten. Tatsächlich bezog er auch noch im Alter daraus Energie, die er in rege Geschäftigkeit zu verwandeln wusste.

      Eine Zeitlang war der Abt gar als ein aussichtsreicher Kandidat für das Metropolitenamt in Moskau gehandelt worden, letztendlich blieb er aber in seinem Kloster. Aristarch war vorsichtig und zurückhaltend. Früher gab es bei ihm stets Frauengeschichten. Dawydow hatte ihm immer wieder aus der Patsche helfen und gewisse Damen mit Schweigegeld zufrieden stellen müssen. Nun waren sie alte gestandene Freunde. Aristarch hatte ihn in der Haft als Beichtvater besucht – und ihn nach der Freilassung immer wieder angerufen. Dawydow sah die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen, in dem Klostervorsteher. Das hieß aber, dass er sich sofort zu diesem heiligen Ort auf den Weg machen musste, ohne Auto, ohne Begleitung.

      Wäre Dawydow imstande gewesen, nüchtern zu urteilen, hätte er die Idee, Aristarch aufzusuchen, fallen gelassen. Der Abt, das musste der General eigentlich wissen, konnte ihm keine Dollarmillionen aus dem Ärmel schütteln, selbst wenn er das Geld, welches das Kloster mit den Pilgern verdiente, lange nicht mehr angerührt hatte. Als Dawydow ihn – noch vor der Verhaftung – gefragt hatte, warum er sich eigentlich nicht bediene, antwortete der Geistliche ausweichend: Er hätte nicht genug Fantasie, wofür er es in seinem Alter ausgeben solle. Früher waren es wenigstens Frauen, schmunzelte er, nun sei er aber ein Single. „Wie witzig“, dachte sich der General irritiert, „wenn ein Geistlicher sich als Single bezeichnet.“ Im Rudel war es ungeschriebenes Gesetz, sich an den Ämtern zu bereichern. Andernfalls hätte die gegenseitige Deckung in Frage gestellt werden können, oder einem zu kurz Gekommenen wäre eingefallen, andere damit zu erpressen und die Führung an sich zu reißen. Allerdings zeigte Dawydow Nachsicht mit dem alten Freund. Der Vorsteher hatte ohnehin nicht vor, das Kloster jemals zu verlassen. Und gerade aus diesem Grund, glaubte nun der General, war es gerechtfertigt, Aristarch ein wenig bluten lassen.

      Da schien er die Rechnung ohne den Wirt gemacht zu haben. Vor allem war es unbegreiflich, wie Dawydow seine Aussage gegen den Abt im Strafverfahren hatte verdrängen können, die den Geistlichen stark belastete. Dem Ertrinkenden war damals alles recht, um seine Haut zu retten. Er hatte zu Protokoll gegeben, den zollfrei importierten Tabak ans Kloster unentgeltlich geliefert zu haben, als Spende. Tatsächlich wurde Aristarch vorgeladen und musste unangenehme Fragen beantworten. Er bestritt, von der Lieferung gewusst zu haben. Hätte Dawydow also nüchtern geurteilt, hätte er eingesehen, dass ihre alte Freundschaft nicht so ungetrübt war, wie er sich einbildete, und dass seine Hoffnung, das Geld bei Aristarch aufzutreiben – und das noch bei diesem höllischen Wetter –, kaum begründet war. Aber klar denken, das konnte er nicht mehr. Eine andere Lösung kam dem alten, aus schwindelerregenden Sphären der Macht gestürzten und vom System ausgestoßenen Paten auch gar nicht erst in den Sinn. Und einfach die Hände in den Schoß legen und dem Schlagen der Wanduhr zu lauschen, die ihn unbarmherzig an seine Galgenfrist erinnerte, konnte er ohnehin nicht. Aristarch war sein Strohhalm, an den er sich klammerte, und die fixe Idee, den einstigen Freund im Kloster aufzusuchen, war stärker als sein rationales Urteilsvermögen.

      Dawydow erhob sich und blickte noch einmal aus dem Fenster. Die Frau lag nicht mehr da. Würde er es bei diesem mörderischen Wetter mit dem Zug bis zu Aristarchs Schlupfwinkel schaffen? Er suchte sich im Internet einen Zug heraus und rief ein Taxi. Dann zog er sich ein einfaches Hemd an, packte eine Wasserflasche in den Rucksack, nahm seinen Strohhut und trat mit einem Gehstock ausgerüstet auf die glühende Strasse. Das Taxi stand bereits vor dem Eingang. Als er die Tür öffnete, krähte