Sonja Margolina

KALTZEIT


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Ihr Anti-Atom-Zelt auf der Bühne aufschlagen.“

      Der Unsichtbare ließ das Transparent fallen und ergriff die Flucht. Der Professor hob es auf und lehnte es lächelnd an das Pult. Ein grob karikierter Castorp thronte auf einem Atompilz wie Herrgott auf einer Wolke. Die Unterschrift lautete: „Sofortige Abschaltung!“ Er schmunzelte, nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort.

      „Wie kann man eine ganze Großstadt fünf Jahre lang mit 170 g Materie fast ohne jeden Umwelteinfluss mit Strom versorgen? Das liegt fast jenseits unserer Vorstellungskraft. Es scheint so unbegreiflich zu sein, dass wir nur auf die Probleme starren oder diese sogar erfinden, um alles wieder normal aussehen zu lassen: Ein Reaktor sei eine Bombe, die darauf wartet zu explodieren. Der Abfall lagere ewig, was werden wir je damit tun können?

      Ja, es mag etwas Unheimliches darin liegen, Energie aus dem Atomkern zu erzeugen. Aber die Technologie liegt nicht jenseits der menschlichen Beherrschbarkeit, gerade wenn man die jüngste Forschung mit in Betracht zieht. Dann ist auch nichts Furchterregendes mehr an der Kernkraft. Probleme, die wir jetzt noch sehen, werden von der Wissenschaft bald gelöst werden. Der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit wird ohne das friedliche Atom eine Utopie bleiben.“

      Beim letzten Satz spürte Castorp einen kräftigen Schlag an der linken Schulter. Irgend jemand hatte einen Apfel nach ihm geworfen. Er hörte Gepfeife und Geschrei: „Reaktionäres Atomschwein! Atomausstieg sofort!“ Studenten strömten auf die Bühne. Robert und einige seiner Kommilitonen stellten sich vor dem Pult auf, um die Atom-Gegner von ihm fernzuhalten.

      Castorp, der hinter der aufgebrachten Menge kaum zu sehen war, ließ sich von dem Tumult nicht einschüchtern und streckte seine Hand in den Saal hinaus. Für einen Augenblick schien der kleine Professor sich in einen Volkstribun verwandelt zu haben.

      „Unsere Universität hat eine gediegene aufklärerische Tradition. Und doch wurden auch auf dem Platz vor diesen Fenstern Bücher verbrannt, unter anderem die „Allgemeine Relativitätstheorie“ von Albert Einstein. Die Täter waren angehende Ärzte, Physiker, Biologen – sie haben Fächer studiert, in denen es auf Kritik und experimentelle Bestätigung für allerlei Hypothesen ankommt. Dennoch haben sich viele von ihnen durch pseudowissenschaftliche Theorien blenden lassen: Rassenlehre, Eugenik, Anthroposophie – was da alles an Geistern in wissenschaftlichem Gewand herum spukte. Manch ein Naturfreund, der von Nachhaltigkeit und Naturverbundenheit träumte, hat sich als Menschenhasser entpuppt und sich des Massenverbrechens schuldig gemacht.“

      Er hörte Buh-Rufe und Geklatsche aus dem Publikum, manche sprangen von ihren Plätzen auf und riefen wütend „Lüge!“ Doch Castorp fuhr unbeirrt fort.

      „Ihnen gefällt der Vergleich nicht? Ich frage Sie: Was hätten die Rebellen von heute damals getan? Hätten unsere wütenden AKW-Gegner“, – er zeigte auf das Plakat mit dem Atompilz – „den Mut gehabt, gegen den Strom zu schwimmen, oder hätten sie brav mitgemacht? Der junge Mann, der mich als Kriegstreiber verunglimpfen wollte, darf seine Meinung weiter frei und öffentlich zum Ausdruck bringen. Die Frage ist, ob er fundiertes Wissen besitzt, um sich ein eigenes Urteil überhaupt bilden zu können oder ob er lediglich ein Mitläufer ist?

      Ich sehe hier im Saal unseren Nachwuchs, künftige Wissenschaftler, die sich der Wahrheit verschrieben haben. Ich warne Sie vor einer Dämonisierung der Kernenergie. Das friedliche Atom ist eine verlässliche Lösung für die Energie- und Umweltprobleme der Zukunft!“ Castorps Stimme wurde heiser. „Was hat es mit dem radioaktiven Abfall auf sich, dessen Lagerung die ganze Nation um den Verstand bringt? Forscher sehen bereits die Zeit kommen, in der Atommüll als Brennstoff für Kernreaktoren der nächsten Generation verwendet wird. Das Problem der Endlager ist obsolet!“

      Die Studenten trampelten mit den Füßen auf dem Boden und johlten. Castorp verstummte erschöpft. Die Zuhörer beeilten sich zum Ausgang.

      Nach diesem Eklat kam die Universität nicht mehr zu Ruhe. Der Rektor sagte die Vorlesungsreihe wegen Gefahr für die öffentliche Ordnung ab. Castorp war über solchen Kleinmut frustriert. Eine moderne Gesellschaft, davon war er fest überzeugt, war auf dem Holzweg, wenn sie sich der Kernenergie verweigerte. Ohne sie würde der Westen in eine bedenkliche Abhängigkeit von üblen Diktaturen geraten. Gerade die sowjetische Gaspipeline führte das Dilemma plastisch vor Augen.

      Noch schlimmer war, dass die Kollegen am Lehrstuhl ihm die Unterstützung verweigerten. Man wollte keine Konfrontationen mit den Studenten. Nach all den politischen Fehlern der Vergangenheit, argumentierten sie, sollte man sich über den Widerstand gegen die Kernkraft nicht wundern. Auf die Ölkrise mit dem Bau von 55 Leichtwasserreaktoren zu reagieren, und das in einem dicht besiedelten Land wie der Bundesrepublik, sei gelinde gesagt übertrieben gewesen. Wer wollte auch schon einen so furchterregenden AKW-Bunker vor seinem Gartenzaun haben? Rechts Marschflugkörper, links Biblis – da müssen ja bei manchen die Sicherungen durchbrennen. Die Nachrüstung hätte den Protesten erst recht Auftrieb gegeben. Castorp bestritt das nicht. Vor allem sei es politisch unklug gewesen, sich für einen einzigen Reaktortyp zu entscheiden und die Entwicklung kerntechnischer Alternativen dadurch behindert zu haben, gab er bereitwillig zu. Fehler gehörten auf den Prüfstand. Aber anstatt die Fehlentwicklungen zu korrigieren, werde Kernenergie als solche in Frage gestellt. Am Lehrstuhl herrschte gedrückte Stimmung.

      Die Wanduhr schlug 10.00 Uhr. Seit einer halben Stunde saß Castorp in der Lotos-Pose in seinem Wohnzimmer, aber sein Geist machte nicht mit. Anstatt sich auf den Atem zu konzentrieren, musste er wieder an seinen Doktorvater denken: einen ausgewiesenen Forscher und Gelehrten, der sich ganz und gar der Suche nach Wahrheit verschrieben hatte. Manche behaupteten, einen Heiligenschein um seinen Kopf gesehen zu haben, als ob er höhere Weihen erhalten hätte. Aus Entsetzen über seine Kollegen, die sich den schrillen Straßenprotesten wider besseres Wissen zu beugen schienen, hatte er die Enquete-Kommission verlassen und sich aus der Forschung zurückgezogen. Bald darauf war er völlig vereinsamt in seinem Haus gestorben, und zu seiner Bestattung waren nur eine Handvoll Verwandter und ein Schulfreund erschienen. Wissenschaftler dieses Schlages sind heute rar geworden. Nun ja. Einst war man für seine Überzeugungen auf den Scheiterhaufen gestiegen. Auch Verbrechen werden aus Überzeugung begangen. Das ist die verfluchte Dialektik der Wahrheit. In der Sache hatte der Lehrer mit seiner erhabenen Geste nichts bewegen können. Für seine Gegner war es ohne ihn nur noch leichter geworden. So gesehen war der Rücktritt des Unbestechlichen nichts anderes als Kapitulation.

      In einer Stunde würde das Fachseminar in der Uni anfangen. Castorp zog sich um und trat vor die Tür. Junge Menschen, arbeitete es in seinem Hirn weiter, vergeudeten ihre Energie in dogmatischen Debatten oder legten sich auf die Gleise vor Gorleben. Sie bekämpften vermeintliche Feinde und glaubten dabei, die einzig richtige Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft parat zu haben.

      An einem Zeitungskiosk blieb sein Blick auf der Schlagzeile „Tod im Treibhaus“ hängen. Der Artikel warnte vor den Gefahren, die von wachsenden Emissionen von Treibhausgasen für das Klima ausgehen sollten. Das fehlte gerade noch, grinste er. Rund herum nichts als tödliche Gefahren und unkalkulierbare Risiken. Gestern wurde über den Albtraum einer nahenden Eiszeit berichtet. Nun wittern die Medien die nächste Sensation. Und morgen schon würde ein neuer Schadstoff Schlagzeilen machen. Der Mensch ist ein ängstliches Wesen. Das ist in seinem Erbgut angelegt. Einst lauerten hinter jedem Baum Gefahren. Heute lebt er so gesund und sicher wie noch nie zuvor. Aber die Angstgefühle sind geblieben, sie finden immer neue Nahrung.

      Vor den aufmüpfigen Studenten war ihm keineswegs Bange. Es war die Angst selbst, die ihm ein Unbehagen bereitete, eine deprimierendes Risikoscheu mit großen Augen, aber einem kleinen Hirn. Nein, er würde nicht klein beigeben. Er würde in die Offensive gehen.

      In Gedanken versunken steckte er die Zeitung in die Tasche und machte sich auf den Weg in die Fakultät. Similia similibus curentur, las Castorp in der silbernen Vignette, die im Schaufenster einer Apotheke hing: Möge Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden.

      „Die Treibhausgase, vor allem Kohlendioxid, heizen die Erdatmosphäre auf. Habt ihr das schon mitbekommen?“ Castorp hielt den verblüfften Studenten die Zeitung vor die Nase. „Wächst der Verbrauch fossiler Brennstoffe mit der gegenwärtigen Beschleunigung weiter, wird dies in wenigen Jahrzehnten eine bislang