Ulrich Pätzold

Führung durch den Roman "Sonnenfinsternis-Im Hinterhof der Politik"


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erfüllt in Athen eine „diplomatische Rolle“ während der angespannten Finanzkrise und erlebt auf der wilden Mani die archaischen Kräfte der spröden Landschaft und ihrer Menschen wie eine Reise in die eigene Vergangenheit. Ein Flüchtling vor sich selbst, kommt er an einen Strand, an den Flüchtlinge aus Syrien angeschwemmt worden sind. Das Thema Flüchtlinge wird intuitiv zu seinem neuen politischen Schwerpunkt.

      Zurück in seinem Wahlkreis, erlebt er das krachende Zusammenbrechen seines großen Lebensprojekts, einem gigantischen Brückenbau. Seine politischen Wurzeln dörren aus. Nun wagt er den Ausflug zum Anfang seines Lebens auf die NS-Ordensburg Vogelsang, die von den Nazis als Eliteschule für die SS gebaut worden war. Er weiß, hier auf der Burg wurde er gezeugt, geboren und dann von seiner Mutter ausgesetzt. Der Anfang seines Lebens ist zutiefst mit den schlimmsten Entmenschlichungen der Nazizeit verstrickt.

      Im dritten Teil des Romans, nun wieder in Berlin und im Bundestag, arbeitet sich M in sein Thema Flüchtlinge ein und lernt dabei, wie verzahnt Islamismus und Rechtsextremismus geworden sind und die Demokratie herausfordern. Rationale Konzepte des politischen Gestaltungswillens und die intuitiv irrationalen Vorstellungswelten von M prallen aufeinander. M scheitert mit dem Anspruch, im Bundestag in der Flüchtlingspolitik zum Sprecher eines „Dritten Wegs“ zu werden. Mit einem Nervenzusammenbruch verlässt er die Bühne des Bundestages.

      Der Schlussteil ist voller Zerrissenheit und Wolken. M bekommt schließlich, was er ersehnt hat. Die Wahrsagerin zieht ihn auf ihre Weise aus der Schlinge. Wir verlieren M auf der Straße nach Nirgendwo.

      Weitere Informationen:

      Roman Sonnenfinsternis-Im Hinterhof der Macht: https://www.neobooks.com/ebooks/ulrich-paetzold-sonnenfinsternis-ebook-neobooks-AXZnNJvFII_DljQnknKY

      Webseite von Ulrich Pätzold: www.uli-paetzold.de

      Kapitel 1 – Große und kleine Zeichen

       Es beginnt alles sehr harmlos, und wir lernen M als einen Menschen kennen, der durchaus gewissenhaft seine Arbeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag zu erfüllen versucht. Man merkt sehr schnell, dass M nicht gerade einer der ganz großen Politiker auf der Berliner Bühne ist. Aber er ist in seiner Unauffälligkeit nicht unsympathisch. Die Sonnenfinsternis erlebt er als Privatmensch. Er glaubt an den Gang der Sterne, wenngleich er sie nicht zu deuten versteht. Dazu hat er eine Wahrsagerin. Die Spannungen im Roman bauen sich auf, weil M seine Karriere als Politiker zu verschränken beginnt mit seiner Neigung, aus den Deutungen der Wahrsagerin Orientierungen für seine Arbeit als Abgeordneter zu gewinnen.

       M verschläft die Stunden der partiellen Sonnenfinsternis am 20. März 2015. Solche Ereignisse erzeugen in ihm panische Ängste:

      „Am 20. März lag über Mitteleuropa ein kräftiges Hoch. Am Vormittag gab es keine Wolken über dem Himmel von Berlin. Mit viel Sonne war eine freundliche Frühlingswoche angebrochen. Auf den Bürgersteigen war mit dem hellen Licht zunehmend Betriebsamkeit und buntes Leben zurückgekehrt. Obwohl die Luft noch kühl war, füllten sich schon am Morgen die Tische auf den breiten Bürgersteigen mit Gästen, die lächelnd den wärmenden Strahlen vom Himmel entgegen blinzelten und die ersten Versuche gelassener Freundlichkeit im aufziehenden Frühsommer demonstrierten, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder verspielt ihre individuelle Korrespondenz mit dem Allgemeinen, Hellen und Schönen zu pflegen. So startete der Freitagmorgen gelassen heiter, wärmend und sonnig. Es war ein normaler Freitagmorgen in Berlin, der allerdings mit der Zeit immer ruhiger, aber auch angespannter zu werden schien.“

       M ist in dieser Zeit in seinem Appartement in Berlin-Charlottenburg, nahe dem Karl-August-Platz. Hätte er von seinem Balkon im Dachgeschoss auf die Straße geschaut, hätte er beobachten können, wie das helle Morgenlicht sich verdüstert und die Menschen leicht erschauern. Das Leben von M verläuft zunächst ohne Dramatik. Kurz wird sein Arbeitsumfeld im Bundestag beschrieben. Dazu gehören vor allem, wichtig für den weiteren Verlauf des Romans, seine wissenschaftliche Mitarbeiterin und seine Sekretärin. Sie werden wie folgt vorgestellt:

      „Über seine Sekretärin spricht M meistens in warmherzigeren Worten als über seine Mitarbeiterin. Im Alltagsbetrieb nennt er sie immer Schatz. Schatz ist mit 55 Jahren ungefähr genauso alt wie er, eine durchaus attraktive Frau, unauffällig, aber stilvoll gekleidet, bestens vernetzt vor allem in der Verwaltung des Bundestages. Schatz führt seinen Terminkalender mit den vielen offiziellen und halboffiziellen Treffen, Veranstaltungen, Gesprächen, Sitzungen und Unterhaltungen. Sie macht die Ablage, die Korrespondenz, räumt auf, telefoniert, mailt im Namen des Abgeordneten. Ohne Schatz, das weiß M, wäre er völlig hilflos dem politischen Stressbetrieb ausgesetzt und nicht in der Lage, auf den Bühnen der Gesellschaft des politischen Berlin mitzuspielen.

      Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin nennt er ausschließlich Madame. Mit 37 Jahren ist sie jünger als M. Die studierte Soziologin arbeitet auf der Grundlage eines privatwirtschaftlichen Arbeitsvertrags mit M, der für eine Legislaturperiode mit gegenseitigen Kündigungsrechten abgeschlossen worden ist, und wird aus dem ihm zustehenden Personalbudget finanziert. Bevor sie ihre Arbeit bei M begann, hatte Madame bereits für zwei andere Abgeordnete aus seiner Fraktion gearbeitet, kennt sich also in der Büroleitung, dem Redenschreiben und den Anforderungen an die Öffentlichkeitsarbeit aus. Madame hatte sich durchaus auf M gefreut, da er vergleichsweise jung und als neues MdB auf ihre Zuarbeit besonders angewiesen war. Sie hatte allerdings schnell gemerkt, dass mit ihrem neuen Arbeitgeber keine großen politischen Sprünge zu machen sein würden. Das demotivierte sie aber nicht in ihrem Arbeitseifer. M war ihr in einer Weise sympathisch, die außerhalb des Politischen lag. Manchmal sitzt Madame vor ihrem Computer und baut an den Sätzen eines politischen Textes. Dann denkt sie an M, lächelt, weil sie ahnt, dass M den Inhalt ihrer Sätze nie verstehen wird.“

      Die Astrologin ist zu Beginn des Romans nur schwer in ihren menschlichen Eigenschaften zu erkennen. Sie ist das Medium des Irrationalen im Hintergrund. M spürt sie in sich als Macht, die er sucht, um für sich von dieser Macht profitieren zu können. Sie arbeitet, wie es anfangs kurz protokolliert wird, in Berlin-Friedrichshain „in einer ziemlich verborgenen Hinterhofwohnung in der Sonntagstraße nahe dem Ostkreuz.“ Der Untertitel „Im Hinterhof der Politik“ hat also den doppelten Bezug zur realen Politik und zu diesem Zentrum des Irrationalen in der Astrologie. Schon vor der Sonnenfinsternis werden in M die Weichen für die Durchdringung dieser beiden Hinterhof-Bedeutungen gestellt:

      „Vor dem Tag der Sonnenfinsternis beginnt am Montag eine weitere Sitzungswoche in Berlin. Mittags steht für ihn fest, dass er an diesem Tag nicht mehr gebraucht wird. Die Zeit bis 16.00 Uhr verbringt er mit seinen beiden Mitarbeiterinnen im Büro. Dann verlassen sie ihre Räume. M verabschiedet sich und fährt nach Friedrichshain in die Sonntagstraße. Die Wahrsagerin pendelt ihn in eine tiefe Trance und er vernimmt eine klare Botschaft: Du wirst am 20. März, dem Tag der Sonnenfinsternis, nicht zur Arbeit gehen. Du wirst Zeuge einer starken Verwirrung sein, die du nicht verstehst. Du wirst am Nachmittag jenes Tages erregt zu mir kommen und wirst Zeuge einer Katastrophe sein, die sich hier in der Nähe abspielen wird. Du wirst den Mythos der Sonnenfinsternis wieder entdecken, der in dir tief verborgen ist. Aufziehende Panik begleitet ihn durch die weitere Woche.“

       M lebt in Berlin in einer ihm fremden Stadt. Er wittert dort ungesunde Entwicklungen, die ihm erklären, warum Anarchismus und Terrorismus die Hauptgefahren für die Gesellschaft geworden sind. Terrorismus ist deshalb das Schlagwort, hinter dem M seine politische Karriere zu befördern versucht. Dazu braucht er Informationen und Deutungen, die er sich aus den normalen Quellen der Politik, aber eben auch aus den darüber schwebenden Andeutungen zusammenbastelt, die seine Wahrsagerin im Trancezustand erzeugt. Die Bilder, die M aus der Stadt aufnimmt, vermischen sich mit seinen emotionalen Ängsten vor der die Politik zerstörenden Gewalttätigkeit der Menschen. So zum Beispiel sein Erleben des Ostkreuzes, das damals noch eine riesige unwirtliche Baustelle war:

      „Die Umgebung vom Ostkreuz