Stefanie Purle

Hexenseele


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haben. Falls ihrer auch nur annähernd so unheimlich und verlassen ist wie meiner, dann frage ich mich wirklich, wie sie das all die Jahrhunderte über ausgehalten haben.

      „Du bist in deinem Limbus, weil der Inviolabilem-Zauber verhindert, dass deine Seele weiterwandert. Nur so kann dein Tod aufgehalten werden. Du bist zu wichtig für die magische Welt, deswegen haben wir dafür gesorgt, dass du unsere Grimoires erhältst und den Unversehrtheitszauber anwendest.“

      „Wusstet ihr, dass Ebraxas Zaballa Chris und mich erschießen wird?“, frage ich und spüre einen Kloß in meinem Hals bei dem Gedanken an meinen geliebten Gefährten.

      Sie antworten nicht direkt, doch ich sehe in ihren Augen, dass sie Bescheid wussten.

      „Wäre es nicht einfacher gewesen, Chris und meinen Tod von vornherein zu verhindern?“ Meine Stimme bricht und der leere Raum hinter meinem Brustbein zieht sich zusammen.

      Die Älteste schüttelt mit dem Kopf. „Wir brauchten deinen Tod, Scarlett, so leid es uns auch tut.“

      „Was?“, krächze ich räuspernd und schlucke den Kloß herunter. „Ihr braucht meinen Tod?“

      Jetzt nickt sie. „Ja. Deine Tode sind unsere einzigen Auswege aus dem Limbus.“

      „Und was ist mit Chris?“ Sein Name verlässt nur als elendiges Krächzen meinen Mund. Ich schnappe nach Luft und lege die Hand auf das große schwarze Loch hinter meinem Brustbein. „Habt ihr seinen Tod einfach in Kauf genommen? Als Ticket ins Jenseits? Eine Art Kollateralschaden?“

      Eine eiskalte transparente Geisterhand legt sich auf meinen Unterarm und ich blicke durch den Schleier meiner Tränen zur jüngeren Hexe neben mir. „Scarlett, ihr seid Gefährten! Unserer Ansicht nach müsste der Unversehrtheitszauber auch für ihn gelten, denn im magischen Sinne seid ihr eins.“

      Ich reiße die Augen auf und heiße Tränen laufen über meine Wangen. „Was?“, frage ich blinzelt und verwirrt. „Aber… Ich habe ihn sterben sehen! Die Kugel ist durch seinen Schädel hindurch, sein ganzer Hinterkopf war…“ Ich kann nicht weitersprechen.

      „Als wir den Zauber niederschrieben, gab es noch keine Waffen wie die, die eure Generation heute benutzt“, sagt die Zweitälteste. „Trotzdem wirkt der Zauber und das Fleisch wird heilen.“

      Ich springe auf und der Stuhl auf dem ich saß kippt nach hinten, doch das kümmert mich nicht. „Wo ist er? Wenn er nicht tot ist, wo ist er dann?“, schreie ich die sieben schemenhaften Geisterhexen an, die mit großen Augen zu mir aufsehen.

      Die Älteste deutet mir an, mich wieder zu setzen, doch ich kann nicht. „Wahrscheinlich ist er in seinem eigenen Limbus, Scarlett! Aber nun beruhige dich! Wir müssen noch einiges besprechen. Du wirst schneller wieder bei ihm sein, wenn du uns zuhörst!“

      Mein keuchender Atem füllt die erwartungsvolle Stille, die sich nun ausbreitet. Besteht wirklich die Möglichkeit, dass Chris noch lebt? Hat unsere Gefährtenverbindung und der Inviolabilem-Zauber ihn gerettet?

      Diese kleine Flamme der Hoffnung flackert in diesem leeren Raum hinter meinem Brustbein, beginnt ihn zu erhellen und mich dabei wieder mit Lebenswillen zu erfüllen. Ich stelle meinen Stuhl wieder auf und setze mich. „Was soll ich machen?“

      Die Älteste lächelt zufrieden und auch die übrigen wirken erleichtert. „Du kannst den Limbus durch den See der Tränen hindurch wieder verlassen und in dein altes Leben zurückkehren. Aber dafür musst du eine von uns mitnehmen. Wenn eine von uns als Geistererscheinung mit dir reist, wird ihre Seele auf die nächste Ebene katapultiert und ist frei. Nur so können unsere Seelen Frieden finden. Du jedoch wirst aus dem See der Tränen in deinen Körper zurückkehren.“

      Ich reibe mir die Schläfen und versuche ihre Worte zu verarbeiten. Hätte ich mich doch nur früher schonmal mit dem Thema beschäftigt, dann wären mir Dinge wie Limbus, See der Tränen und die magischen Gesetze der Seelenwanderung vielleicht geläufig.

      „See der Tränen? Wo und was soll das sein?“, hake ich nach und setze schon zu einer weiteren Frage an, doch die Älteste unterbricht mich, indem sie den Finger hebt.

      „Du wirst uns einfach vertrauen müssen. Du hast nicht die Zeit, um alles bei deinem ersten Tod zu hinterfragen. Du wirst zurückreisen müssen, bevor sie dich beerdigt haben.“

      „Was?“, schreie ich auf und ein grausames Bild von mir in einem Sarg tief unter der Erde erfüllt meine Gedanken. „Bevor sie mich beerdigen? Oh mein Gott, wie lange bin ich denn schon hier?“

      Aus Gewohnheit blicke ich auf meine Armbanduhr, doch die Zeiger darin drehen sich wild in verschiedene Richtungen. Die Angst, dass mein Körper bereits beerdigt worden ist und ich in einem Sarg erwache, bringt mein Herz zum Rasen.

      Die Älteste schaut zur jüngsten Hexe herüber und ihr Gesichtsausdruck wird milde. „Es ist an der Zeit“, sagt sie und erhebt ihren geisterhaft transparenten Körper.

      Auch die übrigen stehen auf und wenden ihre Blicke zur Jüngsten neben mir. Sie nicken ihr zu, klopfen ihr aufmunternd auf die Schulter, während sie zu Schluchzen beginnt.

      „Ihr werdet mir fehlen“, wimmert sie und ihre transparente Erscheinung flackert.

      Dann wendet sich die Älteste erneut an mich. „Scarlett, versuche niemals mehr über uns herauszufinden, vor allem nicht unsere Namen! Du darfst unsere Namen nicht kennen, denn allein der Gedanke an uns kann an unseren Seelen zerren und sie zurück in den Limbus reißen! Denke noch nicht einmal an uns! Verstanden?!“

      Mit großen Augen sehe ich sie an, dann nicke ich. „Okay.“ Meine Hände zittern, mein Herz poltert in meiner Brust und vor lauter Aufregung wird mir übel.

      Die jüngste Hexe ergreift meine Hand. Ich spüre einen leichten Druck aus kaltem Nebel an meinen Fingern. „Ich danke dir, Scarlett“, sagt sie und sieht mich aus müden, tränenunterlaufenen Augen heraus an. „Danke, dass du mir mit deinem Tod den ewigen Frieden schenkst.“

      Ich zucke mit den Schultern und vor lauter Nervosität dringt ein kurzes Kichern aus meiner Kehle. Sie braucht sich nicht zu bedanken. Ohne die sieben Hexen wäre mein Leben bereits vorbei. Außerdem wirkt es nicht so, als hätte ich unbedingt eine Wahl. Natürlich nehme ich ihre Geisterseele mit mir, wenn das bedeutet, dass ich dann wieder in meinem alten Leben und bei Chris bin.

      „Ich muss mich bedanken“, sage ich nun und schaue sie nacheinander an. „Ohne euer Grimoire wäre ich jetzt tot, für immer. Und Chris ebenfalls.“ Die letzten Worte kommen nur gebrochen aus meinem Mund und schon wieder weine ich.

      Sie begleiten die jüngste Hexe und mich hinaus und hinunter zum See. Wir gehen allesamt schweigend. Meine Hand, die die Jüngste noch immer fest umklammert hält, ist mittlerweile eiskalt und taub, doch ich beschwere mich nicht. Ich brauche ihren Halt ebenso wie sie meinen.

      Als wir am Ufer stehenbleiben, sehe ich sie fragend an. „Das soll der See der Tränen sein?“, will ich wissen und schaue über die schwarz glänzende Wasseroberfläche.

      Die zweitälteste tritt vor. „Du hast ihn dazu gemacht, ja.“

      Ich soll diesen See in den See der Tränen verwandelt haben? „Wie?“

      „Auf seinem Grund hast du ein magisches Wesen getötet, den Wendigo. Danach hast du ihn instinktiv wieder mit neuem Leben gefüllt, als du die Fische hineingesetzt hast. Und schließlich hast du den Inviolabilem-Zauber an seinem Ufer und in seinen Tiefen vollzogen. So wurde er zu deinem persönlichen See der Tränen.“

      Ich denke an den Kampf mit dem menschenfressendem Wendigo, den ich mit dem Knochen eines seiner Opfer getötet habe, und an meine wunderschönen Fische, die ich danach hineingesetzt habe. Eigentlich war ich der Überzeugung, dass ich dem See damit etwas Gutes tue, doch offensichtlich habe ich damit unbewusst auch meine Rückfahrkarte ins Leben erschaffen.

      Die Älteste tritt an meine Seite und sieht mich an. „Ihr müsst gehen“, sagt sie und blickt dann an mir vorbei zur Jüngsten. „Wir kommen nach, meine Liebe. Irgendwann sind wir alle wieder zusammen. Bis dahin wirst