Stefanie Purle

Hexenseele


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mir und nickt.

      „Die Gefährtenverbindung wird deine Begleiterin automatisch zur Seele deines Gefährten ziehen. Sie wird ihn ebenfalls durch den See der Tränen führen, danach ist sie frei“, erklärt die Älteste. „Dein Inviolabilem-Zauber ist an uns gebunden, deswegen können du und Chris nur noch sechs weitere Male sterben. Und nur wenn ihr gleichzeitig sterbt, so wie dieses Mal, reicht eine einzelne unserer Seelen aus, um euch beide zurückzubringen.“

      „Ich… Ich habe nicht vor, in nächster Zeit erneut zu sterben, und Chris ebenso wenig“, sage ich mit einem unguten Gefühl im Bauch. „Werdet ihr solange warten können?“

      Sie lächelt und in ihren gräulich durchschimmernden Augen sehe ich ein Wissen, vor dem ich mich instinktiv fürchte. „Wir werden uns wiedersehen, früher oder später. Die Zeit im Limbus vergeht anders, musst du wissen, und wenn man eh in der Lage ist, seinen Geist durch Raum und Zeit zu schicken, hat Zeit keine große Bedeutung mehr.“

      Mit zitternder Unterlippe nicke ich. Ich habe Angst. Angst vor dem, was gleich passieren wird und Angst davor, noch viele weitere Male zu sterben.

      „Aber nun geht. Für uns mag Zeit keine Bedeutung haben, aber in deiner Realität läuft sie weiter, Scarlett. Haltet einander an den Händen und lauft durch das Wasser. Alles weitere wird von selbst geschehen.“

      Der Griff der Geisterhand verstärkt sich und ein eisiger Schauer läuft an meinen Arm hoch. Ich blicke auf unsere Füße hinab, die nur wenige Zentimeter vom stillen Wasser entfernt sind. Die Hexe neben mir tut den ersten Schritt und ich mache es ihr nach. Geräuschlos taucht mein Fuß ins Wasser, dann ziehe ich den anderen nach. Weder Kälte noch Nässe sind zu spüren. Ich schaue die junge Hexe neben mir an, ihr Gesicht ist erwartungsvoll und freudig, doch in ihren Augen liegt auch ein Hauch von Angst vor der Ungewissheit.

      Wir gehen weiter und tiefer hinein, bis das tiefschwarze Wasser uns fast bis zum Hals geht. Dann umschließt das Wasser uns ganz und ich bin nicht mehr im See, sondern in einem großen schwarzen Nichts.

      Kapitel 3

      Die Hand der jüngsten Hexe wird mir entrissen und sie ist verschwunden, bevor ich sie noch ein letztes Mal anschauen kann. Ich taumle durch tiefdunkle Schwärze und dann befinde ich mich wieder in meinem menschlichen Körper. Meine Augen sind geschlossen, die Hände liegen gefaltet auf meinem Bauch. Ich schnappe nach Luft, sauge den Sauerstoff in meine Lungen wie ein Ertrinkender. Hustend reiße ich die Augen auf und sehe nichts als Dunkelheit.

      Von Panik ergriffen reiße ich die Arme hoch und taste meine Umgebung ab. Weicher Stoff umgibt mich, unter meinem Kopf ist ein Kissen und mein Körper liegt auf einem harten Untergrund. Ich will schreien, doch es kommt kein Ton aus meiner Kehle.

      Mein schlimmster Albtraum ist wahr geworden: Ich wurde lebendig begraben!

      Meine Finger tasten die Decke ab, sie ist ebenfalls mit Stoff bezogen und ich suche verzweifelt nach einem Hebel oder einem Riegel, auch wenn ich bezweifle, dass Särge innen mit Öffnungsmechanismen ausgestattet sind. Panisch trommle ich mit den Beinen, strample um mich, in dem Versuch, irgendwie dieser Kiste zu entkommen. Vom lauten Pochen meines Herzschlages erkenne ich zuerst meinen eigenen Schrei gar nicht, doch als er endlich an mein Ohr dringt, verstumme ich und zwinge mich zur Ruhe.

      Ich muss hier raus, ich muss schnell hier raus!

      Die Vorstellung von meterdicken Erdschichten über mir raubt mir die Luft zum Atmen.

      Dann endlich besinne ich mich meiner Magie und durch die Panik befeuert rauschen die Elemente zu mir, wie von einem Magneten angezogen. Wind rauscht durch die kleine Kammer über meinen liegenden Körper hinweg, ich spüre den Strom des Grundwassers unter meinem Rücken und kleine Feuerfunken beleuchten nun den Innenraum.

      Ich liege tatsächlich in einem Sarg!

      Nicht durchdrehen, Scarlett, dreh jetzt nicht durch! Immer wieder rede ich mir selbst gut zu und überlege, wie ich hier rauskommen kann. Ich lasse Blitze an meiner rechten Hand entstehen und feuere, ohne groß zu überlegen, gegen den Deckel über mir. Ein lauter Knall ertönt, Holz bricht und die Hälfte des Sargdeckels springt offen. Ich mache mich für die Erdmassen bereit, die nun auf mich herabfallen müssten, doch es passiert nichts. Stattdessen blicke ich nun auf eine von schwachem Lichtschein beschienene Zimmerdecke.

      Ich richte meinen Oberkörper auf uns linse über den Rand des Sarges. Man hat mich noch nicht beerdigt, ich stehe in einer kleinen Kapelle und neben meinem Sarg steht noch ein weiterer.

      „Chris!“, schreie ich und klettere aus dem gesprengten Loch im Sargdeckel hinaus. Der Sarg kippt und ich lande mit einem lauten Krachen, samt Sarg, auf dem Boden. „Chris!“

      Immer wieder rufe ich seinen Namen, während ich den Sarg von meinen Beinen streife, wie einen hölzernen Reifrock. Der Duft von Rosen und angesengtem Holz steigt in meine Nase, während ich mich keuchend aufrapple und um den zweiten Sarg herumgehe. Meine Finger tasten über das polierte Kiefernholz und fingern nach der losen Verriegelung. Als ich sie endlich gelöst bekomme und den Deckel aufschiebe, reißt mir Chris´ Anblick den Boden unter den Füßen weg. Aus meinem Mund kommt ein Schrei, der dem Kreischen eines verwundeten Tieres ähnelt.

      Ich lege die Hände um sein wachsartiges Gesicht, streiche über die Bartstoppeln an seinem Kinn und klopfe sacht gegen seine Wange. „Chris… Bitte, komm zurück! Chris, ich flehe dich an!“

      Mein Kopf sackt nach hinten und ich schluchze gen Himmel, bevor mein Oberkörper über seinem offenen Sarg zusammensackt. Meine Knie geben nach, der Schmerz ist einfach zu viel, dies ist mehr als ich ertragen kann.

      Meine Finger krallen sich an seinem hellblauen Hemdskragen fest und ich beginne an seinem Körper zu rütteln, doch er reagiert nicht. Er öffnet die Augen nicht. Mein Gefährte wirkt wie ein Crash-Test-Dummy, eine leblose Puppe, ohne Körperspannung und ohne ein einziges Lebenszeichen.

      „Das kann nicht sein… Chris, du musst leben! Du musst!“, flehe ich seinen schlaffen Körper an, während meine Finger ihn abtasten. „Wir sind Gefährten, der Zauber muss auch bei dir gewirkt haben! Werde wach! Wach endlich auf! Lauf durch den See der Tränen und komm zu mir zurück!“

      Ich fasse an seinen Hinterkopf und ertaste einen Verband aus Vlies. Auf seiner Stirn klebt ein hautfarbenes Pflaster, dort wo ihn die Kugel traf. Mit einem wachsartigen Material haben sie die Wunde zugespachtelt und sein blasses Gesicht mit Puder bestäubt, um seine blutleere Blässe zu verbergen. Er trägt ein weißes Shirt und darüber ein hellblaues Hemd, das ihm viel zu formell gewesen wäre und ich niemals für ihn ausgesucht hätte. Sein Haar ist mit Gel streng nach hinten gekämmt worden und die welligen Strähnen sind mit Haarklammern am Hinterkopf über dem riesigen Pflaster befestigt.

      Ich löse seine gefalteten Hände und führe seine Finger an mein Gesicht. Seine Haut ist kühl und ich drücke meine Lippen gegen seine Handinnenfläche. Er riecht nach Talkum-Puder und Desinfektionsmitteln.

      „Chris, bitte…“, flüstere ich nun leiser. „Wach doch bitte auf.“

      Doch er wacht nicht auf.

      Verzweifelt sehe ich mich in dem kleinen Raum um. Wir befinden uns in einer Kapelle, nahe dem Friedhof. Unsere Särge stehen nebeneinander vor einem kleinen Altar, auf dem gerahmte Fotos von uns beiden zwischen Unmengen von Blumen stehen. Ich frage mich, wer die Blumen niedergelegt hat und wer alles bereits unseren Tod betrauert hat. War Carmen hier? Jason, Kitty, Naomi, Fletcher, Jo und Berny? Waren sie hier und haben uns die letzte Ehre erwiesen? Was ist mit Mama und Elvira? Arturo, Bianca und Riva? Die Gedanken an unsere Lieben schnüren mir die Kehle zu und ich fühle mich schuldig.

      Wer war alles hier, wer hat unsere Leichen gesehen? Wie können wir in unser altes Leben zurück, wenn alle uns für tot halten?

      Wir müssen dringend von hier weg. Auch wenn Chris gerade alles andere als lebendig aussieht, kann ich ihn nicht hierlassen. Ich kann nicht zulassen, dass man seinen Körper beerdigt! Irgendwie hole ich ihn ins Leben zurück, ich muss auf die Worte der Kräuterfrauen vertrauen! Vielleicht kann ich irgendeinen Zauber wirken,