Erhard Scherner

Geschichten vom LaoWai


Скачать книгу

sie eine kosmische Erscheinung: "Taucht wie ein Komet auf, hinter den Bergen draußen, taucht ebenso unter, unberechenbar". - "Ist mit einer Papiermühle hier hängen geblieben, die die Finnen vor zehn, zwölf Jahren gebaut haben. Liebt'n Chinesen, einen vornehmen, scheuen, ausgerechnet einen Chinesen." - "Die beiden Kinder musst du gesehen haben, Zwillinge, Mädchen und Junge, so was hast du nicht gesehen."

      Nun schwärmt ihm nicht von der Schönheit eurochinesischer Kinder. - LaoWai ahnt doch, dass die trauliche Vereinigung des Ungleichen alle Lebenskräfte, Körper wie Geist, immens zu steigern vermag, mögen die Kleingeister hier wie dort die Stirn runzeln und murmeln: "Weiß und gelb, das passt nicht zueinander", und: "Es kann nicht gut gehen!"

      Zöge man aus allem Gehörten ein Fazit - Hilja, die Finnin, hieße es, ist eine überaus schöne, kluge, gewiss wohlhabende Frau, das mochte hingehen, und eine vollkommen glückliche. Letzteres war's denn wohl, was LaoWai, ihm selbst noch unbewusst, bestimmte, sich auf die Suche zu machen. Er kennt keine vollkommen glücklichen Menschen, glaubt fest, es gibt sie nicht. So hat er kreuz und quer die alten Viertel der Stadt durchstreift, vergeblich.

      Doch denkt nicht schlecht von LaoWai, wenn er nun, um einer schönen Frau oder einer verrückten Idee willen, mal im überfüllten Bus, mal in einer der gelben Billigtaxen in die Berge aufbricht, wann immer sich ein freier Tag auftut, um zwischen den verfallenden und den inzwischen restaurierten Klöstern und Grabpagoden einherzuwandern - er ist lang nicht hier gewesen. Freut sich über die waghalsig angepflanzten Latschenkiefern und Wacholdersträucher, die die Hänge mühsam hinaufklettern, wo einmal kräftige Wälder gestanden haben, ehe all die Kaiser, Äbte und Vögte für ihre Paläste, Klöster, Befestigungen, ihre Häuser und Schiffe die Pracht herunterschlagen ließen. Fragt auch mal einen Tempelwächter oder Mönch nach einer schönen jungen Frau mit hellem Haar, die Chinesisch spricht und Zwillinge mit sich führt, ein Mädchen, einen Jungen, schön und zart wie sie selbst, doch mit fast schwarzem Haar.

      Denkt nicht böse vom ihm, der einfach neugierig ist nach all dem Gewäsch an den Bars, er will niemanden kränken oder betrüben, schon gar nicht einen freundlichen, herzlichen Menschen, mit dem ein kleiner Schwatz lohnte. Da wird er seine Worte nicht auf der Goldwaage wägen. Sollte er aber.

      An einem freundlichen Herbstnachmittag ist LaoWai, abseits der Touristenströme, in den Westbergen zu einem recht verfallenen Tempelgelände aufgestiegen, das in den alten Prospekten gerade noch, in den neuen noch nicht erwähnt wird. Ist, an den grimmig dreinblickenden, überdimensionalen Torhütern vorbei, in den Vorhof getreten. Unter einem Persimonenbaum, um den sich, wie um alles übrige, niemand zu kümmern schien, sieht er zwei Kinder ungeniert nach den faustgroßen Früchten langen, während sich in einiger Entfernung eine Europäerin vor einer Stele Notizen macht, die auf dem Rücken einer gewaltigen Steinschildkröte ruht.

      Wie LaoWai näher tritt, schaut die Frau auf, streicht sich das helle Haar aus dem Gesicht. "Verzeihen Sie", sagt LaoWai, "sind Sie nicht Frau Hilja?" - "Und Sie sind der Deutsche, der Geschichtenmacher, der mir in die Klöster nachfolgt, ich habe davon gehört", entgegnet sie spöttisch. - "Ich mache keine Geschichten", sagt LaoWai verlegen, während sie eine Steintreppe erklettern, um eine bessere Aussicht zu gewinnen, "aber es ist wahr, ich wollte Sie gern einmal sehen".

      "Lasst die Persimonen, erst muss der Frost in die Früchte", ruft die Mutter, "vorher schmecken sie nicht". Aber da kommen die zwei schon, der Mund, die Hände vom Saft verschmiert. Und nun wollen sie auf die Brüstung gehoben sein. Weithin kahle Felswände, fern an einem Hang leuchtet roter Ahorn auf. Die Bergzüge strecken sich in herber Schönheit. Unten tief im weiten Kessel liegt Peking, man kann es nur ahnen angesichts der vagen Konturen unter der flimmernden Glocke von Rauch und Staub. "Es ist schön hier draußen", sagt LaoWai, noch immer verlegen, "eine karge Landschaft; Sie, gewiss, sind anderes gewohnt - tiefe Wälder, stille Seen ... "

      Da bricht ein Schluchzen aus der Frau, Tränen stürzen, die Kinder fahren herum, LaoWai steht gelähmt, Frau Hilja setzt die Zwillinge auf die Erde, packt sie an den Händen, stürzt der Steintreppe zu.

      "So warten Sie doch", ruft der Deutsche.

      Das Gesicht verlieren

      Eine Freundin fragt LaoWai, was es in China auf sich habe, sein Gesicht zu verlieren. Umständlich sucht LaoWai nach einer Antwort:

      Dasjenige, was in der physischen Realität schlechthin unverlierbar ist (von ein paar schrecklichen Sonderfällen abgesehen), kann im Geistigen in China (und rundum) ziemlich rasch geschehen. Wohl jeder im Mittereich fürchtet sich, sein Gesicht zu verlieren, jeder sucht es unbedingt zu vermeiden, und gefährdet bereits dadurch das also gehütete Antlitz. Wer kann es bis zu End' erklären, was das eigentlich ist - das Gesicht verlieren? Zwischen Wirklichkeit und Anschein tritt dieses Phänomen in zehntausend Varianten und Unmöglichkeiten zutage, und allein die Frage nach seinem Wesen macht jeden Chinesen verlegen. So habe ich mir Zurückhaltung auferlegt, sagt LaoWai, suchte die von meinem Gesprächspartner ausgesandten Signale, bewusste wie unbewusste, recht aufzunehmen und zu verstehen. Dann gerate ich nicht in die Gefahr, jemandem unzumutbar zu nahe zu treten. Ich suche es zu unterlassen, mein Gegenüber, im Namen gründlicher Klärung, zum Äußersten zu treiben, ihm Ausweg oder Rückzug zu versperren. Wer dies recht verstünde und beherzigte, dem eröffne sich eine reiche Skala von Schattierungen zwischen preußischem JA und preußischem NEIN.

      "Du sprichst reichlich abstrakt!“ hört LaoWai die Freundin einwenden. So rettet er sich in ein Beispiel, aber eines nur: In der auch sonntags viel befahrenen Ausfallstraße Richtung Sommerpalast, noch vor der modernen Stahlplastik, die aussieht Wie ein "Mahnmal für den unbekannten Korkenzieher", stehen an den größeren Kreuzungen und würdig in Weiß, so Kopfbedeckung wie Handschuhe, Polizisten, um den Strom der Fahrräder und Autos recht zu regulieren. Da kommt, voll des Sommerglücks und getreu der Devise: Ein Rad und Rückenwind, die Freundin hintendrauf - da ist gut fahren! ein Pärchen daher geradelt. Solch gravierende Missachtung der Staatsautorität ist für den Polizisten, der die zwei sogleich entdeckt, ein starkes Stück. Er winkt sie zu sich heran, nimmt kurz die Hand an den Schirm und zieht den Block mit den Strafzetteln. Aber eh noch der verlegene Augenblick der Belehrung plus Entrichtung des Bußgeldes kommt, springt die junge Frau kokett vom Gepäckständer und erklärt mit sanftem Augenaufschlag: "Entschuldigen Sie bitte, Herr Verkehrspolizist, aber wir hatten Sie nicht gesehen, tatsächlich nicht.“

      Unverzüglich winkt der Polizist die zwei in den Strom der Verkehrsteilnehmer zurück und tippt die Hand an den Mützenschirm. - Ahnst du, liebste Freundin, wie schön es ist, sein Gesicht nicht verloren zu haben?

      Die Eselspeitsche

      Als LaoWai unter der Mittagssonne eine alte Eselspeitsche aus dem Straßenstaub hob, war er ein gutmütiger Mensch, unbescholten und sanft. Umsichtig war er von seinem Fahrrad gestiegen, hatte den grad armlangen, fingerstarken Weidenknüppel aufgenommen, an dessen Ende, mit zwei Eisendrähten fest verklammert, der dicke, sich mählich verjüngende Hartgummiriemen befestigt war, Pfennigware der Zweiten Pekinger Gummifabrik für die hauptstädtische Eseltreibergilde.

      Wie oft hatte LaoWai einem Esel und seiner Last hinterdrein geschaut, aber erst jetzt wird ihm bewusst, was für ein geringes Peitschchen es mitunter ist, das Bruder Langohr gegebenenfalls derb aus dem schläfrigen Gang reißt.

      Wenn LaoWai sich jetzt beeilte, vielleicht würde er den Mann noch einholen, der hier in Haidian die Peitsche verloren hat und mit seinem Gefährt die Straße der Weißen Brücke gemächlich nordwärts zottelte. Und tatsächlich, vor ihm tauchen schon nach wenigen hundert Metern mehrere Eselskarren auf, heute mäßig mit Pappen beladen. Und niemand, der was entbehrte - müde die Esel, kraftlos dösend die Treiber auf ihren Karren. Wen sollte er fragen? Und wie? Den ganzen eingespielten Trott zum Erliegen bringen? Der Esel wird die Peitsche nicht missen ... Muss LaoWai stören in der flirrenden Sonne? Lügen heraufbeschwören und dann den Richter spielen?

      Und da merkt LaoWai, dass er sich belügt. Seit sieben Minuten besitzt er eine alte Eselspeitsche, die ihm nicht gehört. Wird sie unbedingt