Erhard Scherner

Geschichten vom LaoWai


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wegen.

      Auch in einem Nebengelass des Glockentempels, selbst am Himmelstempel magst du der Pekingoper über den Weg laufen, wenn sich Enthusiasten, Männer mit schütterem Haar, Kälte oder Wind nicht fürchtend, zwischen den roten Holzsäulen niederlassen, sorgfältig die Zwei-Saiten-Geige und ein paar Klanghölzer aus der Tasche zaubern und inbrünstig, ohne aufgeschminkte Maske, ohne Kostüm, einen langen Part improvisieren, ganz Stimme, schrill und scharf für sich hin und zur Freude der Umstehenden. Geld wollen sie nicht.

      Du wirst die Pekingoper nicht kennenlernen, wenn du auf die jungen smarten Fremdenführer angewiesen bist. Da hilft dir auch nicht die in Deutschland mit deinem Reisebüro verabredete Agenda, auf der ohnehin vorsorglich vermerkt ist: Dritter Abend: Pekingoper oder Akrobatik-Show. Mit bewegten Worten werden sie dir weismachen: "Pekingoper ist unverständlich für den Europäer, unerträglich für seine Ohren. Und dauert fünf Stunden. Gehen wir lieber zu den Artisten!"

      Die Wahrheit: Sie, die jungen smarten Männer, haben sich nie in die Pekingoper verlaufen, sie mögen sie nicht, wie die meisten ihrer Generation, lieben und kennen weder den Gehalt der alten Fabeln noch die feine künstlerische Interpretation, auf die sie, als Begleiter, kundig eingehen müssten, wenn auch nur zwei Stunden lang, nicht fünf. Wenn unumgänglich, laden sie dich in der Nobeloper des Nobelhotels ab und erwarten dich am Ende der Vorstellung im Foyer. "Na, hab ich's nicht gesagt?"

      Aber auch dort noch wird stimmgewaltig und mit Präzision Staunenswertes geleistet: Orchester, Farbe, Tanz, Maske, Kostüm, das ganze Zusammenspiel fantastisch, freilich eine Spur gröber, auf das Verständnis und den Geschmack der fernhergereisten Ausländer zielend. Entbehren musst du hier die geeigneten Mitspieler - das kundige Publikum.

      Selbst an seiner Arbeitsstelle hat LaoWai in den Pausen von einem selbstvergessen singenden Kollegen manche Arie vernommen, treppab oder zwischen dem Grün des Hofes. Gewiss, auch eine Belehrung durch den Abteilungsleiter hatte opernhafte Züge - inszenierter Theaterdonner. Sonst hat LaoWai keine Gelegenheit versäumt, Pekingoper in sich aufzunehmen, auch auf Reisen tief ins Land, wo sich gelegentlich eine Messlatte am Eingangspfosten fand: Für Kinder unter 120 Zentimetern Eintritt frei! Mit seiner Mutter gehörte auch der Säugling in die Oper. LaoWai erinnert sich, selbst in dem Stück Die trunkene Schönheit, in dem Mei Lanfang die Hauptrolle spielte, die Jüngsten im Theatersaal gesehen und vor allem gehört zu haben. Er hat den Nestor der Mimen und großen Neuerer der Pekingoper mehrfach in seinen Glanzrollen erlebt, sehr oft in Gestalt des Mädchens, auf das das Leid der Welt hereinzubrechen droht - in dem bis zum letzten Platz gefüllten Saal hat manches Kind in den Armen seiner Mutter den Klagegesang wie ein Echo begleitet, bis es, unmerklich, von der einen Wunderwelt in die andere hinüberglitt.

      Nein, LaoWai hat keine Bedenken, Veneta in die Pekingoper mitzunehmen, sitzt mit ihr in der vorderen Reihe, dass ihr nichts entgeht. Es ist des Mädchens erster Opernabend, und nun ist der Großvater überrascht, weil das Kind zweimal weint, laut genug, dass sich ihr die Opernfreunde rundum teilnehmend zuwenden: Zu Beginn des Abends, als unter dem schrillen Klang der Flöten und Holzfische ein gewaltiger Krieger mit seinem Schwert zur Rampe tritt. Ach, sie weiß ja nicht, dass der im Gesicht rotbemalte General ein gutmütiger, jedenfalls gerechter Kerl ist. Zum zweiten Mal fließen die Tränen am Ende der Aufführung, als der letzte der Schauspieler die Bühne verlässt, ohne Wiederkehr.

      (September 1991)

      Als er ihr ein Kästchen mit alter chinesischer Medizin reichte

      Keine Zwingen. Keine Schrauben.

      Nur Natur.

      Ich erfuhr:

      Schlucken heißt, du musst dran glauben.

      (Peking, den 15.4.1992)

      Einmal noch nach Hangzhou

       Für Dietmar Beetz und Werner Heiduczek

      Die unbekannte Gottheit achte ohne Arg, vor allem wünsche und erhoffe dir nichts. LaoWai weiß es inzwischen, aber doch erst, seit der Himmel, gnädig und ungnädig, eine Sehnsucht gestillt hat: Hangzhou.

      Gewiss war es unbedarft, zumindest unbescheiden, die Leitung des chinesischen Schriftstellerverbandes zu bitten, neben den Metropolen am Perlfluss und am Ausgang des Yangzi auch Hangzhou in den Reiseplan zu setzen. Von dort waren erst vor Kurzem die Bilder eines Taifuns um die Welt gegangen, der die Stadt im Frühsommer streifte. Doch die neu geknüpften Bande, die Schriftsteller aus Peking, Shanghai und Kanton mit denen aus Berlin, Leipzig und Erfurt enger verbinden sollten, waren zu unerprobt, als dass der schon betagte Leiter der Auslandsabteilung den Wunsch der drei Deutschen hätte ablehnen wollen. "Schaut, und versucht euer Glück, wir helfen euch."

      Denkt LaoWai an Hangzhou, sieht er die Platanen am Ufer des Westsees zerschlagen und zerspellt, niedergebrochen mancher Pavillon, auch in der Altstadt geborstene Bäume, abgestützt und dick mit Hanfseilen umwickelt. Nur alle hundert Jahre kommt solch ein Sturm über die Stadt. Den geduckten Teefeldern unterhalb der Hügel konnte er nichts anhaben.

      Ganz still ist das Wasser des Westsees, noch stört der gleichförmige Ruderschlag den Kormoran nicht, im künstlichen See sitzt er auf einer künstlichen Klippe und hält Ausschau nach einem Fisch. Leb' wohl, Kormoran, wir werden dir nicht zu nahe kommen.

      Auf dringlichen Wunsch der Gäste - abends Oper. Gespielt wird in einem weiträumigen Saal, weiträumig auch die Bühne. Dreißig Jahre lang ist LaoWai nicht mehr in China gewesen, nun kann er es nicht fassen, dass sich der Zuschauerraum nicht recht füllen will, hier und dort Familien oder Freunde, zumeist aber alte Leute, die dem nicht besonders aufregenden Treiben auf der Bühne distanziert folgen, mit mäßigem Beifall jedenfalls, Verwechslungsgeschichte mit Liebe und Eifersucht, kunstvolle Arien, schmetterndes Holzfischgetrommel - bis sich der Himmel einmischt und ein Wasserschwall auf das Paar stürzt. Noch überlegt LaoWai, dass er solch naturalistischen Bühneneffekt noch nie in einer chinesischen Oper gesehen hat, als ein Raunen durch den Saal geht. Die umworbene Schönheit streift mit gewohnter Geste, nur umständlicher, die durchweichten langen Ärmel zurück, lächelt die Winzigkeit einer Sekunde - heftiger Beifall; LaoWai wendet sich in den Saal, auch dort, verschiedentlich, Wasser von oben. Nun weicht man in den Reihen aus, aber weicht nicht. Und Donnergrollen, der Drachenkönig kehrt zurück.

      Anderntags fahren die drei Deutschen im temperierten Gästeauto zum Kloster der Verborgenen Seelen; noch ehe sie in der Eingangshalle den aus einem Kampferstumpf geschnitzten Maitreya zu Gesicht bekommen, tauchen sie in das Geschrei zudringlicher Verkäufer; die bieten Gebetsketten, geschnitzte Buddhas, heiligen Krims an. Gut, einer alten Frau nehmen sie ein Bündelchen Räucherstäbe ab, das wird brüderlich zwischen Erfurt, Leipzig und Berlin geteilt. Schon halten sie die Stäbchen wie es sich gehört. Sie nähern sich der Haupthalle, wo, überwölbt von einem Baldachin, die Figur des Shakyamuni auf dem Sockel thront. Ein Mönch bietet Feuer für die Weihrauchstäbchen. "Nun sollten wir auch beten", sagt Werner H. dem Berliner. "Ja, du zuerst", bekräftigt Dietmar B., "du kennst dich aus".

      Weit - in Berlin, Leipzig, Erfurt - die Parteisekretäre (und Bischöfe). LaoWai kniet nieder vor dem riesigen Buddha, beugt sich zur Erde, tausend Gedanken jagen durch den Kopf, wie zufällig das alles, wie flüchtig, beugt sich ein zweites Mal. Werden die zerspellten Bäume je zusammenwachsen? Am End' ist es fast ein Gebet, inbrünstig und still: "Einmal noch nach Hangzhou!"

      Die temperierte Limousine bringt die drei rasch aus der Stadt, an Teeplantagen vorbei, Bambuswäldchen. Hinter Reisfeldern der Flugplatz. Abschied wie alle Abschiede. Aber der Flug nach Kanton wird nicht aufgerufen. Dann wird eine Verspätung gemeldet, die Ansage wird wiederholt und wird immer vager. Die es eilig haben, ziehen nervös an ihrer Zigarette, jemand fragt, was CAAC heiße und antwortet selbst: "China Airways always cancel!" Ein ägyptischer Physikprofessor mit Schweizer Pass, der immer mit CAAC fliegt, wenn er zu den Computerspezialisten unterwegs ist, die er ausbildet, ergänzt sarkastisch: "China Airways always crash!"

      Ein neues Gewitter zieht herauf. Es ist kein Flugzeug zerschellt,