Rainer M. Rupp

Der Corona-Mann


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dem Asphalt sind mir früher gar nicht aufgefallen. Sicher sind sie mir bisher nicht entgangen, ich habe sie nur nicht bewusst und in dieser Klarheit wahrgenommen. Mit diesen neuen Ansichten, die mir die Straße nun offenbart, die sie mir ohne Umschweife bereitwillig preisgibt, kann ich mich eine ganze Weile beschäftigen, ohne auf Bilder und Szenen in meinem Gedächtnis zurückgreifen zu müssen. Trotzdem haben die noch frischen gesetzlichen Anordnungen auf Grund der Seuche sehr vielfältige und tiefgehende Auswirkungen. Nicht nur die Straße selbst, ihr Erscheinungsbild, hat sich durch die Maskenpflicht und die Kontaktbeschränkungen gewandelt. Die Seuche hat das Leben, den Alltag der Menschen, stark verändert. Selbst für Charly sieht die Welt nun komplett anders aus. Trotz Maske ist Charly zwar immer noch sofort zu erkennen – sie hat nichts von ihrem Schauwert verloren –, allerdings muss sie sich nun damit abfinden, dass sie fast alle ihre Zuschauer verloren hat. Ihre Show muss nun ohne eine Woge der Begeisterung und ohne frenetischen Applaus stattfinden, höchstens ein vereinzeltes Klatschen ist zu hören. Das Verkehrschaos bleibt aus, wenn Charly jetzt die Bühne betritt. Alles ist viel ruhiger geworden, es sind nur noch wenige Leute unterwegs. Charly muss lernen, ein Leben ohne Verehrung und Anerkennung zu führen. Natürlich wird sie mich als treuesten Fan mit Logenplatz nicht verlieren, aber ich bezweifle, dass ihr meine nach wie vor ungebrochene Aufmerksamkeit auf Dauer genug sein wird. Vielleicht gefällt ihr dieses Leben aber auch besser als ihr früheres. Sie bleibt unbehelligt, niemand greift mehr in Gedanken nach ihrem Körper, die Wirkung ihrer schwarzen Lederhose verpufft unbemerkt im sozialen Vakuum. Wie ein wirkungsloses Medikament verfügt sie nun im besten Falle nur noch über einen Placebo-Effekt. Vielleicht liebt Charly jedoch dieses neue Leben ohne Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es das Leben, das sie schon immer führen wollte. Vielleicht ist es wie eine Befreiung für sie, eine Loslösung von einer alten, ihr überdrüssig gewordenen Rolle. Vielleicht kann Charly jetzt ihr wahres Selbst entdecken und ausspielen, vielleicht kann sie glücklich werden, ohne auf die ständige Bewunderung anderer angewiesen zu sein.

      So wie Charlys Leben einer einschneidenden Umgestaltung unterzogen wurde, so hat auch mein Leben als Fenstersitzer tiefgreifende Veränderungen erfahren. Es hat sich ebenfalls von Grund auf gewandelt. Die Welt scheint in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Die Menschen bleiben in ihren Wohnungen, das stellt mein Leben auf den Kopf. Nicht nur, weil es für mich als professionellem Fenstersitzer nun viel weniger zu sehen gibt als früher, obwohl dies nur scheinbar der Fall ist, denn in Wirklichkeit passiert jede Sekunde etwas auf meiner Straße – nein, was mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit bringt, ist nicht Ereignislosigkeit, es ist das plötzliche Aufkommen unzähliger Amateur-Fenstersitzer.

       Die Dilettanten

      Wie sie alle am Fenster sitzen und auf die Straße starren – als ob sie hofften, bald etwas Besonderes zu sehen. Nichts werden sie sehen. Sie kennen die Anforderungen erfolgreichen Fenstersitzens nicht im Mindesten. Sie sitzen da in ihrem unsäglichen Freizeitdress und stieren wie Ochsenfrösche. Manche nehmen dabei sogar Nahrung zu sich, obwohl man die Straße nicht aufmerksam beobachten und sich gleichzeitig mit der Nahrungsaufnahme befassen kann. Das ist unmöglich. Ein ekelerregender Anblick, wie sie am Fensterbrett wiederkäuen! Wie kommen sie überhaupt dazu, mir als gestandenem Fenstersitzer die Stirn bieten zu wollen? Es ist geradezu lächerlich, wie sie mich mit ihrem Dilettantentum konfrontieren. Nur weil die Seuche sie ans Fensterbrett gezwungen hat, sitzen sie da – nicht aus Leidenschaft oder einem Verantwortungsgefühl der Straße gegenüber. Die Seuche hat sie dazu genötigt. Sie wissen nicht, was es mit dem Fenstersitzen auf sich hat – welche Verantwortung man übernimmt, sobald man sich ans Fensterbrett begeben hat. Sie sind stumpf und ohne jedes Fingerspitzengefühl für diese Tätigkeit. Es ist noch nicht lange her, da nannten sie mich einen Taugenichts, jetzt sitzen sie selbst am Fenster. Dabei kennen sie nicht einmal die einfachsten Handlungsweisen, die dazu führen, dass das Fenstersitzen gelingt. Verzweifelt versuchen sie zu verbergen, dass sie keine Ahnung haben, dass sie mit der Situation überfordert sind, dass sie eingesehen haben, wie wenig sie für diese Tätigkeit taugen, dass sie nutzlose Wiederkäuer sind und sich auf die ungewohnte und im Grunde höchst anspruchsvolle Tätigkeit des Fenstersitzens nicht einlassen können. Ich sehe ihnen den Kampf an, den sie im Innern mit sich austragen. Ich sehe ihnen an, dass sie am liebsten jetzt schon, nach zwei Wochen Seuche, das Handtuch werfen möchten, dass sie nahe an der Kapitulation sind, dass sie bald – es ist nur eine Frage der Zeit – in Tränen ausbrechen und mich ergebenst von der anderen Straßenseite aus um Hilfe anflehen werden. Ich solle sie doch bitte vertraut machen mit der Kunst des Fenstersitzens und ihnen genau erklären, worauf es dabei ankommt.

      »Einen Teufel werd‘ ich tun. Ich lass‘ euch zappeln!«, murmle ich vor mich hin. Ich werde sie die Verzweiflung über ihre Unfähigkeit bis in jede Zelle ihres Körpers hinein spüren lassen. Sie sollen sehen, wie es ist, wenn man eine scheinbar leichte Tätigkeit wie die des Fenstersitzens jahrelang verlacht und ihr dann plötzlich ohnmächtig gegenübersteht, besser gesagt: gegenübersitzt. Sie sollen weinend zugeben, dass sie der Aufgabe in keiner Weise gewachsen sind.

      Im Übrigen lässt sich die Tätigkeit des Fenstersitzens nicht im Schnellverfahren erlernen. Ich kann nicht jemanden innerhalb von einer halben Stunde in etwas einweisen, in das ich mich selbst über viele Jahre hinweg mühsam hineinarbeiten musste. Als Autodidakt habe ich das Fenstersitzen durch jahrelanges Training und große Beharrlichkeit erlernt und mir meinen Platz als verantwortungsbewusster Fenstersitzer hart erarbeitet. Nach ersten stümperhaften Versuchen – so konnte ich am Anfang ein Sitzen an der Fensterbank nicht länger als 20 Minuten ertragen – habe ich diese Tätigkeit immer weiter entwickelt und verfeinert. Heute verfüge ich über eine große Ausdauer im Fenstersitzen. Natürlich muss man auch eine gewisse Begabung dafür haben. Selbst wenn man viel Eifer, unerschütterlichen Fleiß, ja Verbissenheit beim Fenstersitzen an den Tag legt, muss man doch, will man in seinem Metier zu den Besten gehören, von Natur aus ein gewisses Talent mitbringen und es mit großer Selbstdisziplin auch tatsächlich an sich ausbilden. Ich bin heute in der Lage, zehn Stunden an der Fensterbank auszuharren, ohne dass mir der Musculus gluteus maximus einschläft. Mein Steißbein ist durch das ständige Training an extreme Anforderungen gewöhnt. Aber entscheidend für den langfristigen Erfolg an der Fensterbank ist trotzdem die mentale Einstellung. Man muss sich auf diese Tätigkeit minutiös vorbereiten, man setzt sich nicht einfach ans Fensterbrett und legt los. Man muss sich innerlich darauf einstellen, dass man gleich viele Stunden scheinbar regungslos am Fenster sitzen wird. Das bedeutet eine große körperliche, aber auch mentale Belastung. Es wird zu einer Belastungsprobe für das Nervenkostüm. Seit vielen Jahren nehme ich deshalb täglich zwei Kapseln Vitamin-B-Komplex zu mir. Das hilft, die gleichförmige, aber anspruchsvolle Arbeit Tag für Tag zu bewältigen. Man darf diese Tätigkeit auf keinen Fall unterschätzen und auf die leichte Schulter nehmen, dann wird man bitter enttäuscht werden und läuft von Anfang an Gefahr, ein schlechtes Ergebnis zu erzielen. Man wird dann am Ende des Tages nicht befriedigend gearbeitet haben und eine innere Leere verspüren. Man muss tatsächlich mit großer Ernsthaftigkeit und Überzeugung an die Sache herangehen. Jede Sekunde am Fensterbrett muss man hochkonzentriert sein. Wie ein Hochleistungssportler stelle ich mich deshalb jeden Morgen ein paar Minuten auf die bevorstehende Aufgabe ein, ehe ich das Fenster öffne und das Kissen auf dem Fensterbrett in die richtige Position bringe. Ein gutes Kissen ist von großer Wichtigkeit für ein erfülltes Fenstersitzen. Überhaupt ist die richtige Ausrüstung das A und O beim Fenstersitzen. Ich bin für meine Tätigkeit an der Fensterbank perfekt ausgestattet. Wenn ich am Fenster sitze, trage ich Unterarmpolster an beiden Armen. Schließlich muss ich mich stundenlang auf die Unterarme aufstützen können. Ich verwende ein atmungsaktives Schaumstoffkopfkissen als Unterlage. Das Kissen liegt über der scharfkantigen Fenstersohle und wird doppelt von einem dicken Baumwollkissenbezug geschützt, damit der Schaumstoff keinen Schaden nimmt. Es kommt darauf an, gutes Handwerkszeug zu haben. Das ist wie in jedem anderen Beruf auch. Wenn man auf irgendeinem Gebiet Höchstleistungen erbringen will, braucht man anständige Arbeitsutensilien. Man muss sich optimal an die Arbeit anpassen, an die spezifischen Anforderungen. Immerhin bewegt man sich beim Fenstersitzen nicht wie ein Tier in seiner natürlichen Umgebung. Im Gegenteil, am Anfang fühlt man sich sehr fremd an der Fensterbank, man hat das Gefühl, dass man mit der Tätigkeit nicht warmwerden wird, man sieht sie womöglich nur als eine Übergangslösung an, bis man wieder etwas anderes machen wird. Aber das ist der Augenblick,