Rainer M. Rupp

Der Corona-Mann


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als eine Meisterleistung des Schiedsrichters werten. Die Fähigkeit zu schnellen Kopf- und Augenbewegungen, eine starke Nackenmuskulatur, eine entspannte Haltung, äußerst bewegliche Halswirbel, vorausschauendes Denken und ein hohes Konzentrationsvermögen sind die Kennzeichen, die einen ausgezeichneten Tennisschiedsrichter genauso charakterisieren wie einen herausragenden Fenstersitzer.

      Aber nicht nur der Kopf bewegt sich, mein ganzer Körper ist in ständiger Bewegung, sogar mehr als bei einem Tennisschiedsrichter. Im Grunde hat das Fenstersitzen als eine Sportart zu gelten. Anders als beispielsweise beim Schachspielen ist auch der Körper immer in Bewegung, würde man bewegungslos bleiben, wäre man schon nach kurzer Zeit ein körperliches Wrack, man könnte nicht mehr arbeiten. Man kann das Konzentrationsvermögen eines Fenstersitzers dem eines Schachspielers gleichsetzen, aber der Fenstersitzer ist dem Schachspieler, was die Physis angeht, weit überlegen. Durch eine bestimmte Technik, indem ich mein Körpergewicht im Sitzen auf die eine Seite des Musculus gluteus maximus verlagere und nach einer gewissen Zeit auf die andere Seite, vermeide ich eine auf Dauer schädliche einseitige Belastung durch unbewusstes, unkontrolliertes Sitzen. Der Körper darf beim Fenstersitzen niemals in eine Routine verfallen und über Stunden in nur einer Stellung verharren. Der Körper muss immer in Bewegung bleiben. Natürlich sieht man anhand meiner Kopfbewegungen, die für einen guten Fenstersitzer ja charakteristisch sind – der Kopf befindet sich immer in einer Drehbewegung –, dass ich noch am Leben bin. Aber auch der Rest des Körpers ist ständig in Bewegung, selbst wenn das ein Außenstehender nicht ohne Weiteres wahrnehmen würde. Ein schlechter Fenstersitzer ist vor allem daran zu erkennen, dass er wie leblos am Fenster sitzt und auf eine Stelle starrt – er wirkt wie ein ausgestopftes Tier an der Fensterbank. Würde mich jemand von hinten bei der Arbeit beobachten, beispielsweise am Türrahmen meiner Wohnungstür lehnend – was eine absurde Vorstellung ist, da niemals jemand meine Wohnung betritt –, so würde er, wäre er aufmerksam genug, die minimalen, aber entscheidenden Bewegungen meines Körpers bemerken – winzige Gewichtsverlagerungen im Musculus gluteus maximus oder ein leichtes Anspannen und wieder Entspannen der Oberschenkelmuskulatur. Selbst wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Mein Körper ist ständig in Bewegung. Das ist das Beste, um auch einer möglichen Analthrombose vorzubeugen. Eine Analthrombose ist die Berufskrankheit des Fenstersitzers. Wenn man nicht aufpasst und seinen Körper nicht ständig in Bewegung hält, dann kann es zu einer Analthrombose kommen. Ehe man sich’s versieht, ist man berufsunfähig und kann nicht mehr sitzen. Natürlich lässt sich meine Tätigkeit dann immer noch im Stehen ausführen, das wäre denkbar. Manchmal leiste ich das Fenstersitzen kurzzeitig auch im Stehen, um etwas Abwechslung in den Alltag zu bringen und einer Venenthrombose in den Beinen vorzubeugen. Aber es hat sich herausgestellt, dass ein Fenstersitzen im Stehen nicht dieselben Ergebnisse bringt wie das klassische Fenstersitzen. Die Konzentrationsfähigkeit leidet, wenn man zu lange steht. Das mag damit zusammenhängen, dass man nur im Sitzen die nötige innere Ruhe aufbauen kann, die für das Fenstersitzen unbedingt erforderlich ist. Im Stehen wird man fahrig und nervös, man ist immer irgendwie auf dem Sprung, während man im Sitzen seine innere Balance finden kann und viel mehr bei der Sache ist. Es gibt ja schließlich auch keinen stehenden Buddha. Einen echten Buddha stellt man sich immer als einen sitzenden Buddha vor. Außerdem gehört es zur Berufsehre, dass man als Fenstersitzer am Fensterbrett sitzt und nicht steht. Umso wichtiger ist es, während des Sitzens den Körper ständig in Bewegung zu halten und diese kleinen Bewegungen in den unterschiedlichsten Muskelgruppen zu einer Gewohnheit werden zu lassen, sie zu verinnerlichen, so dass man überhaupt nicht mehr darüber nachdenken muss und sich allein auf das Fenstersitzen konzentrieren kann. So ist es auch mit der Nackenmuskulatur. Man muss sie während der Arbeit immer wieder lockern, das geschieht bei einem erfahrenen Fenstersitzer ganz automatisch. Natürlich ist meine Nackenmuskulatur während der Seuche weniger gefordert als sonst, denn aufgrund der Kontaktsperre sind weniger Menschen auf der Straße unterwegs. Ich muss deshalb gerade jetzt darauf achten, nicht aus der Übung zu kommen und die Nackenmuskulatur in Form zu halten. Manchmal ist man versucht, sich einen faulen Lenz zu machen, die Nackenmuskulatur bildet sich zurück und plötzlich passiert etwas auf der Straße und man kann dem Geschehen nicht schnell genug folgen. Man fühlt sich dann wie jemand, der nach sechs Wochen den Gips an seinem Bein abgenommen bekommt und dieses dann nicht mehr zum Laufen einsetzen kann, weil es fast die Hälfte seiner Muskulatur eingebüßt hat. Deshalb darf man als Fenstersitzer bei weniger Aufkommen auf der Straße nicht nachlässig werden und die Sache schleifen lassen. Wenn wenig passiert, könnte man sich in trügerischer Sicherheit wiegen und wäre versucht, unaufmerksam zu werden. Das ist ein typischer Anfängerfehler beim Fenstersitzen.

       Die Stuhlgänger

      Gerade vor ein paar Tagen ist es vorgekommen, dass plötzlich eine 12er-Toilettenpapierpackung, 4-lagig, direkt unter meinem Fenster vorbeigeschwebt ist. Fast zu spät habe ich sie bemerkt. Aus dem Nichts heraus war sie von links aufgetaucht und als sie mein Fenster passiert hatte, bemerkte ich erst die zwei Beine unter dem Toilettenpapier. Sie gehörtem jemandem mit dicken Waden, der auf dem Kopf gleich drei übereinandergeschichtete 12er-Toilettenpapierpackungen balancierte, wie ich dann bemerkte. Die Packungen hingen nach hinten runter und verdeckten seinen Rücken, so dass ich tatsächlich nur die Füße und Waden des Hamsterkäufers sehen konnte. Als ich den federnden Gang der Person musterte, fiel mir automatisch das Wort ‚Stuhlgang‘ ein und ich rief der Person hinterher: »Wünsche einen guten, von Erfolg gekrönten Stuhlgang!« Die Person drehte sich kurz zur anderen Straßenseite, konnte aber aufgrund des vorne überragenden Toilettenpapierdachs nicht nach oben schauen, entdeckte niemanden und setzte ihren Gang beschleunigt fort. Ich vermute, dass eine schwere Diarrhoe ihr Eile gebot. Wenn es demnächst vielleicht tatsächlich kein Toilettenpapier mehr zu kaufen gibt – trotz aller Gegenbeteuerungen der Regierenden, die man im Fernsehen hören kann –, könnte das den Untergang des Abendlandes noch beschleunigen. Ich habe schon darüber nachgedacht, mir bei einem eklatanten Toilettenpapier-Engpass ein Zubrot zu verdienen und ein Schild außen ans Fensterbrett zu hängen, für jeden auf der Straße gut sichtbar: ‚Klopapier günstig abzugeben, nur einmal benutzt, 1 Euro pro Blatt.‘ Allerdings befürchte ich, dass mich dann sehr viele Leute von der Straße hoch mit Bestellungen zubrüllen würden. Es könnte sogar zu einem Massenauflauf kommen. Die Leute würden bei so einem Angebot alle Abstandsregelungen vergessen, nur noch die eigene Gier nach Toilettenpapier würde sie antreiben. Dann müsste ich natürlich die Polizei einschalten, die mir die zukünftige Verwendung des Schildes jedoch untersagen würde. Im schlimmsten Falle könnte sie mir sogar die Ausübung des Fenstersitzens verbieten. Ich würde mich damit also selbst ruinieren. Das Risiko ist zu groß und deshalb verzichte ich lieber auf das Zubrot. Die Nachbarin am Fenster unter mir, Frau Holderbach, hatte meine Reaktion auf den Toilettenpapierhamsterkäufer mitbekommen, beugte sich über ihr Fensterbrett nach vorne und überstreckte den Hals, indem sie den Kopf nach oben drehte und zu mir hochkreischte:

      »Das ist ja eine Scheiße mit dem Klopapier – was sind das für Leute, die Klopapier hamstern?« Ich antwortete ihr, indem ich mich ebenfalls vorbeugte: »Das sind Leute wie Sie und ich – aber regen Sie sich nicht auf, Frau Holderbach, wenn so ein Arschloch Klopapier hortet. Denn Sie wissen doch: Arschlöcher müssen immer zuerst mit Klopapier versorgt werden! Nein, im Ernst, Frau Holderbach, es ist einfach so, dass die Seuche die Persönlichkeit eines Menschen deutlich zum Vorschein bringt und offenbart, dass viele in der analen Phase steckengeblieben und auf anale Ereignisse fixiert sind und diesen Ereignissen mit einer gewissen Faszination, mit Staunen oder sogar Vorfreude entgegensehen, andererseits aber große Angst vor einem unkontrollierten Stuhlgang haben. Dieser Widerspruch stellt für viele Zeitgenossen eine unüberbrückbare Ambivalenz in ihrer Existenz dar, die durch den unmäßigen Kauf von Toilettenpapier nicht zu lösen, sondern allenfalls zu vertuschen wäre. Die Vorstellung, dass sich ein Stuhlgang ankündigt und es kein Toilettenpapier im Haus gibt, bedeutet für die meisten Menschen, die in der analen Phase steckengeblieben sind, ein echtes Horrorszenario, denn sie können den Widerspruch zwischen Begeisterung und Angst nicht auflösen. Sie sind innerlich Zerrissene. Im Grunde liegt diesem Phänomen ein Paradoxon zugrunde. Wenn man das als eine Geschichte erzählen wollte, so würde sie in einer Aporie enden!«

      Der vollkommen sprachlosen Frau Holderbach stand der Mund offen und ich habe noch Sekunden nach meiner Rede in ihren weit geöffneten Rachen blicken können und