Rainer M. Rupp

Der Corona-Mann


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die ein triumphales Fenstersitzen über lange Zeit erst ermöglicht. Meine Nachbarn sitzen ohne Unterarmschutz mit Dolce & Gabbana T-Shirts am Fenster. Das kann nichts werden. Das sind Amateure, die sich jetzt während der Seuche notgedrungen ein neues Betätigungsfeld haben suchen müssen. Sie erledigen diese Aufgabe nicht aus Berufung und mit einer positiven inneren Einstellung. Sie haben überhaupt kein Gespür für die Aufgabe des Fenstersitzens. Sie kennen die Anforderungen und die Geheimnisse erfolgreichen Fenstersitzens nicht im Mindesten.

      »Was wollt ihr eigentlich, ihr Amateure – habt ihr nix Besseres zu tun?« Meine Abneigung gegen diesen fahrlässigen Dilettantismus kennt inzwischen keine Grenzen. Glücklicherweise ist noch kein Amateur an der Häuserfront gegenüber am Fenster zu sehen, wenn ich am Morgen meine Arbeit aufnehme. Wenn ich mich bereit mache, ist die Luft noch rein, mein Revier liegt noch frei und unbefleckt vor mir. Während ich die Unterarmpolster anlege, gehe ich im Geiste noch einmal alles durch: wie ich es schaffe, ohne Verspannungen im Rücken und ohne Konzentrationsschwäche durch den Tag zu kommen. Wenn das Kissen am offenen Fenster richtig auf dem Fensterbrett liegt und die Unterarmpolster angelegt sind, bereite ich mich auch körperlich auf die bevorstehende Herausforderung vor. Körper und Geist müssen eine Einheit bilden, das ist der Schlüssel zu einem gelungenen Tag am Fensterbrett. Ich muss Körper und Geist in guter Form halten, nur so kann ich in einem langen Arbeitstag bestehen. Bevor ich also starte und ans Brett gehe, stelle ich mich vor das geöffnete Fenster und atme mehrmals tief durch, bewege meine Arme beim Einatmen wie ein indischer Yogi nach oben, über dem Kopf berühren sich die Handflächen, dann atme ich ganz ruhig aus und die Arme senken sich langsam wieder, die Ellbogen nach außen gedreht, die Unterarme kommen in eine waagrechte Position vor der Brust. Das ist die ideale Ausgangsposition zum Fenstersitzen. Erst dann gehe ich ans Fensterbrett und starte in den Arbeitstag. Jetzt bin ich optimal vorbereitet und fühle mich jeder Herausforderung gewachsen. Selbst Wind und Wetter können mich nicht davon abhalten, meinen Platz am Fenster einzunehmen und die Arbeit gewissenhaft und konzentriert auszuführen. Wenn der Regen schräg aufs Haus prasselt, dann schütze ich mich durch eine spezielle, Wind und Regen abweisende Arbeitsjacke. Auch das Kissen erhält dann einen wasserfesten Bezug. Natürlich ist an solchen Tagen viel weniger los auf der Straße, es gibt nur wenig zu beobachten. Jetzt, während der Seuche, ist das ganz unabhängig vom Wetter immer der Fall. Das heißt jedoch nicht, dass ich in meiner Motivation und Konzentration nachlassen darf. Es ist durchaus möglich, dass selbst bei einem Hundewetter oder in der Krisensituation, wenn alle Menschen in den sicheren vier Wänden ausharren, etwas vorfällt auf der Straße. Dann muss man als Fenstersitzer aufmerksam und voll bei der Sache sein. Eine kleine Nachlässigkeit, eine kleine Unaufmerksamkeit kann den Erfolg eines ganzen Tages zunichtemachen.

      »Nicht nachdenken und abschweifen, sondern konzentriert beobachten!«, so feuere ich mich immer wieder selbst an. Auch Eiseskälte im Winter ist für mich kein Grund, meine Arbeit zu quittieren und blau zu machen, die Arbeit Arbeit sein zu lassen und eine schöne Zeit in der warmen, gemütlichen Stube zu verbringen. Das kommt nicht in Frage. Denn zu den Eigenschaften eines ernsthaften Fenstersitzers zählen vor allem ein hohes Pflichtbewusstsein und ein starkes Verantwortungsgefühl. Ich könnte es mir sehr wohl auch einfach machen und den einen oder anderen Tag den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und sagen: »Sollen doch die anderen mal für alles sorgen und aufpassen!« Das widerstrebt mir zutiefst. Eine solche Einstellung wäre untragbar, das könnte ich vor mir selbst nicht verantworten. Ich könnte morgens nicht mehr in den Spiegel schauen, die Schuldgefühle würden mich innerlich zerreißen. Hinzu kommt noch, dass über die Jahre eine besondere Beziehung zu meiner Arbeit entstanden ist, eine besondere Beziehung zu der Straße, für die ich Verantwortung trage – es ist MEINE Straße, die Straße ist zu einem Teil von mir geworden, ihr guter Zustand und die Ruhe und Ordnung, die auf ihr herrschen, liegen mir am Herzen. Natürlich muss man dann höllisch aufpassen, über die Jahre nicht auszubrennen. Man muss eine innere Balance finden, die es einem erlaubt, auch eine so fordernde Aufgabe wie die des Fenstersitzens, eine Aufgabe, welche die Geduldsfähigkeit jeden Tag auf eine harte Probe stellt, voll und ganz anzunehmen und schließlich zu meistern.

      Bevor ich ans Fensterbrett gehe und den Tag beginne, überprüfe ich noch einmal routinemäßig den korrekten Stand des Schemels vor der Fensterbank. Er muss exakt 26 cm vor dem Heizkörper stehen, damit ich noch bequem meine Oberschenkel zwischen Hocker und Heizkörper klemmen kann und die Kniescheiben in die Windungen des Heizkörpers einrasten. Zu viel Spiel darf dabei aber nicht sein, denn sonst rasten die Kniescheiben nicht richtig ein. Ich prüfe auch die korrekte Lage der beiden Sitzkissen auf dem Schemel, ein etwas größeres kommt direkt auf dem Hocker zu liegen, darauf ein kleineres, strafferes. Es hat sich im Laufe der Zeit herausgestellt, dass diese Kombination die beste ist, um nicht zu schnell zu ermüden und gleichzeitig die Rückenmuskulatur nicht zu sehr zu unterstützen und ihr dadurch alle Arbeit abzunehmen. Wenn alles seine Ordnung hat, schwinge ich mich in einer eleganten, mir ganz natürlichen Bewegung auf den Hocker, lasse die Kniescheiben einrasten und beginne meinen Tag an der Fensterbank. Ich habe die Unterarme vor die Brust genommen und die Ellbogen auf das Kopfkissen gestützt, das auf der Fensterbank platziert ist. Breitbeinig sitze ich nun auf dem Hocker, die Sitzhöhe stimmt exakt, über Stunden kann ich jetzt Augen und Ohren offenhalten.

      Meistens erstelle ich eine Tagesliste beim Fenstersitzen. Ich führe genau Buch darüber, wie viele Menschen auf der Straße vorübergeeilt, wie viele LKW, Autos, Motorräder und andere Fahrzeuge an diesem Tag an meinem Fenster vorbeigerauscht sind. Mein Rekord steht bei 189 Fußgängern und 5169 Fahrzeugen – davon 3843 PKW, 1218 motorisierte Zweiräder, 37 Fahrräder, 49 LKW und 22 Busse. Es erfordert viel Geschick und eine vortreffliche Koordination zwischen Augen-, Kopf- und Schreibbewegungen, um alles unter Kontrolle zu haben, keine Fehler zu machen und trotzdem noch auf ein ungewöhnliches Ereignis vorbereitet zu sein und sich nicht davon überrumpeln und aus der Ruhe bringen zu lassen. Natürlicherweise hat sich bei mir dadurch über die Zeit eine starke Nackenmuskulatur entwickelt, denn ich muss, bin ich beispielsweise einem Motorradfahrer mit den Augen gefolgt, sofort umschalten und in der Gegenrichtung ein Auto ins Visier nehmen können, das gerade in meine Straße einbiegt. Unter Umständen öffnet dann im selben Moment noch jemand im Gebäude gegenüber im 5. Stock die Balkontür und ich muss blitzschnell den Kopf anheben, um das zu beobachten, gleichzeitig könnte direkt unter mir jemand aus dem Haus treten und die Straße überqueren, obwohl das gerade eingebogene Auto beschleunigt und auf den Fußgänger zurast. Ich muss also in der Lage sein, aus dem Stand heraus meine Blickrichtung zu ändern, die Kopfposition neu zu justieren, mich vor- und wieder zurückzubeugen – auch das Ende der Straße muss ich immer im Blick behalten, sowohl links als auch rechts. Deshalb kommt meiner Nackenmuskulatur eine wichtige Rolle bei der Ausübung meiner Tätigkeit zu. Sie schützt die Halswirbel, die durch die ständigen Drehbewegungen stark gefordert sind, vor einer verfrühten Abnutzung. Kommt es beispielsweise zu einer abrupten Drehbewegung von rechts nach links, weil vielleicht auf der linken Seite eine Person plötzlich aufgeschrien hat, dann kann die Nackenmuskulatur die unwillkürliche Drehung meines Halses abfedern und ein mögliches Schleudertrauma verhindern. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Lockerheit. Man darf es nicht zu Muskelverspannungen kommen lassen, sonst ermüdet man zu schnell, der Nacken verkrampft sich und man bekommt Probleme, die im schlimmsten Fall – arbeitet man nicht rechtzeitig dagegen an – zu einer Berufsunfähigkeit führen können. Eine lockere, gut ausgebildete Nackenmuskulatur ist das Erfolgsgeheimnis. So verfüge ich über eine ausgesprochen entspannte und gleichzeitig kräftige Nackenmuskulatur wie sie auch ein Schiedsrichter beim Tennis besitzt. Tatsächlich ist meine Tätigkeit mit der eines Tennisschiedsrichters vergleichbar. Auch ein Schiedsrichter beim Tennis muss in Bezug auf seine körperliche Fitness immer auf der Höhe sein und die Nackenmuskulatur auch abseits des Tennisplatzes im Training halten. Denn er muss, wenn das Spiel beginnt, sofort in der Lage sein, den Ballwechsel akribisch zu verfolgen und schnelle Drehbewegungen zu machen. Mit den Augen alleine schafft man das nicht, der ganze Kopf muss sich mit dem Ball mitbewegen. Wenn man bedenkt, dass ein Tennisspieler von hoher Qualität einen Tennisball auf bis zu 260 km/h beschleunigt, so kann man sich leicht vorstellen, wie sehr die Nackenmuskulatur des Schiedsrichters gefordert ist, wie schnell er reagieren muss. Im Grunde genommen muss er dem Ball immer einen Deut voraus sein, sein Gehirn berechnet den Punkt, an dem der Ball auf den Platz aufschlagen wird, schon im Voraus und seine Augen haben dort den Punkt bereits im Visier, wenn der Ball noch unterwegs ist, damit sie präzise