Geri Schnell / Dieter Thom

Der Drang nach Freiheit


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mit der Frau hinter einer Tür verschwand. Aus dem Zimmer links hörte er Kinder ein Lied singen. Als Mutti weg war, bekam er Angst und begann still zu weinen.

      Nach kurzer Zeit kamen die beiden Frauen aus dem Büro, sie gaben sich die Hand: «Also Frau Thom, nicht vergessen, der Bub muss um 16 Uhr abgeholt werden.»

      «Mein Mann Siegfried wird pünktlich da sein», versicherte Frau Thom und verabschiedete sich. Nun setzte sie sich neben Dieterchen auf die Bank, strich ihn lieb übers Haar und gab ihm einen Kuss.

      «Dieterchen, du darfst jetzt nicht weinen», erklärte sie ihm liebevoll, «sonst denken die andern Kinder, du bist noch ganz klein, das willst du doch nicht, - oder?»

      «Welche Kinder?», fragte Dieterchen.

      «Hörst du nicht, wie sie schön singen?», besänftigte in Mutti, «es wird dir gefallen, die haben viele Spielsachen. Ich muss jetzt gehen. Papi wird dich am Nachmittag abholen. Bis dann darfst du mit den andern Kindern spielen. Freust du dich?»

      «Ja», murmelte Dieterchen kaum hörbar, aber man sah ihm an, dass er es gar nicht lustig fand und Freude hatte er schon gar nicht. Schon wieder kullerte eine grosse Träne über seine Wange, die Mutti schnell wegwischte.

      Dieterchen schaute ihr traurig nach, mit dem Ärmel wischte er sich nochmals das Gesicht sauber. Mit fragendem Blick schaute er zu Schwester Hildegard auf: Wie geht es jetzt weiter? Warum lässt ihm Mutti hier allein zurück, sonst war sie doch immer dabei, was soll er nur ohne sie machen.

      «Los Dieter, komm mit, die andern haben schon angefangen.»

      Schwester Hildegard nahm ihn bei der Hand und ging auf die Türe zu, aus der er die singenden Kinder hörte. Als sie die Türe öffnete, verstummten die Sänger. Unter den Kindern entstand Aufregung, alle tuschelten miteinander.

      «Ruhe!», rief Schwester Hildegard, «habt ihr keinen Respekt, wenn eine erwachsene Person den Raum betritt?» mit einem vorwurfsvollen Blick, schaute sie zur andern Schwester, es wäre ihre Aufgabe, für Ruhe zu sorgen.

      «Dieter, das ist Schwester Ruth», erklärte sie, «das ist Dieter Thom, er gehört jetzt zu eurer Klasse, bitte zeigt ihm, an welche Regeln er sich halten muss!», erklärte sie an die staunenden Kinder gewannt, dann verliess sie das Zimmer.

      Jetzt stand Dieterchen alleine vor den andern Kindern.

      «Das wird jetzt dein Platz», sie zeigte auf einen Stuhl.

      Langsam setzte sich Dieterchen und schaute sich um. Die andern Kinder waren etwa gleich alt wie er. Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, wurde wieder gesungen. Dieterchen kannte das Lied nicht und sang deshalb nicht mit. Schwester Ruth warf ihm einen verärgerten Blick zu, sagte aber nichts, sie gab ihm Zeit. Er würde es schon noch lernen.

      Später nahm Schwester Ruth eine kleine Glocke in die Hand und läutete. Kaum war der erste Glockenton erklungen, stürmten die andern Kinder zur Türe. Dieterchen folgte ihnen etwas unsicher. Die andern Kinder rannten auf den Platz vor dem Kindergarten. Die Buben spielten mit einem Ball und die Mädchen hüpften mit einem Springseil. Dieterchen rannte den Buben nach und beteiligte sich am Fussballspiel.

      Schwester Ruth läutete schon wieder mit der Glocke. Widerwillig versammelten sich die Kinder wieder im Zimmer. Schon mussten sie wieder still sitzen.

      Dann lass sie aus einem Buch und nach unendlich langer Zeit, griff sie wieder nach der Glocke. Dieterchen wollte schon nach draussen rennen. Doch die andern Kinder erhoben sich nur langsam und statt nach draussen, schlenderten sie in einen grossen Saal. An einem langen Tisch waren Teller aufgereiht. Es war Essenszeit.

      Schwester Ruth wies Dieterchen einen Platz zu. Vor Dieterchen stand ein Teller Gemüsesuppe. Er tauchte bereits seinen Löffel in den Teller und erntete dafür missbilligende Blicke von den anderen Kindern. Zum Glück hatte Schwester Ruth es nicht bemerkt. Er legte den Löffel wieder neben den Teller und wartete. Als alle Kinder vor ihrem Teller sassen, begann Schwester Ruth zu sprechen. Mit erhobener Stimme bedankte sie sich bei einem Herrn und erzählte weitere Dinge, welche Dieterchen fremd vorkamen. Die andern Kinder sassen mit gefalteten Händen am Tisch und warteten, bis Schwester Ruth mit einem andächtigen, «Amen» ihre Rede beendete. Jetzt löffelten die andern Kinder die Gemüsesuppe aus. Auch Dieterchen begann zu essen. Die Suppe schmeckte nicht wie die von Mutti. Er hatte jedoch grossen Hunger und löffelte die Suppe aus. Danach standen die Kinder auf und stellten sich mit ihrem Teller an. Schwester Ruth schöpfte jedem Schüler einen Löffel Maisbrei aus einem Topf. Vorsichtig brachten die Kinder ihren Teller zurück an ihren Platz und begannen zu essen.

      Nachdem jedes Kind seinen Teller ausgewaschen hatte, trafen sie sich wieder draussen auf dem Platz. Das Fussballspiel ging weiter.

      Etwas später läutete Schwester Ruth wieder mit der Glocke. Sie mussten zurück ins Zimmer. Diesmal wurde gezeichnet. Jedes Kind erhielt ein Blatt Papier und einen Bleistift. Sie sollten ihre Eltern zeichnen. Der Vorteil beim Zeichen war, dass man nicht so still sitzen musste. Jetzt durften die Kinder miteinander reden. So erfuhr Dieterchen, dass sein Banknachbar Helmut hiess und am Falkenweg wohnte. Auf der andern Seite sass Hans, der am Fliederweg wohnte. Als die Glocke von Schwester Ruth läutete, war Dieterchen mit seiner Zeichnung noch nicht fertig.

      Hans zeigte ihm, wo er seine Zeichnung und den Bleistift wegräumen konnte. Alles kam in einen Schrank, welcher von Schwester Ruth abgeschlossen wurde. Danach rannten die ersten Kinder nach draussen.

      Einige wurden von ihren Müttern erwartet. Dieterchen war enttäuscht, er konnte seine Mutti nirgends entdecken. Die meisten Kinder waren schon weg, als er die Uniform von seinem Vater erkannte, welcher sich mit schnellen Schritten dem Kindergarten näherte.

      «Hallo Dieterchen, - wie war es?», fragte ihn Vater, erhielt aber keine verständliche Antwort.

      «Hallo Dieterchen! – kriegt Mutti keinen Kuss?», fragt Mutti, als sie nach Hause kam.

      Dieterchen erschrak. Er schaute vorsichtig auf, dann sah er Mutti. Er sprang auf und umarmte sie.

      «Das hast du gut gemacht, Dieterchen», lobte ihn Mutti, «ich bin stolz auf dich, nun bist du schon ein grosser Bub.»

      Es dauerte einige Wochen, danach hatte sie endlich das Gefühl, dass es Dieterchen im Kindergarten gefiel. Inzwischen war er an seiner Aufgabe gewachsen und selbständig geworden.

      Die Brille

      Als Mutti die Hosen von Vati flickte, gab sie wie immer Didi die Nadel zum durchziehen des Faden. Doch der hatte plötzlich enorme Probleme, den Faden durch das Nadelöhr zu ziehen. Immer wieder versuchte er es, doch es ging nicht, er verfehlte das Öhr.

      «Dieterchen», sagte Mutti, «schau mich mal an.»

      «Wieso?»

      «Mit deinen Augen war etwas nicht in Ordnung, du schielst plötzlich. Das ist sicher noch die Folge der Masernerkrankung von letzter Woche.»

      «Ich kann das Loch in der Nadel nicht sehen», bestätigte Dieterchen, «etwas stimmt nicht mehr, ich sehe alles doppelt.»

      Als Vati nach Hause kam, beschlossen sie, dass man mit Dieterchen zum Augenarzt musste. Am nächsten Tag konnten sie einen Termin für die folgende Woche vereinbaren. Das Schielen war immer noch da, es wurde eher noch schlimmer.

      Mit gemischten Gefühlen folgte Dieterchen der Mutti zum Augenarzt. Sie mussten mit der Strassenbahn in die Stadt fahren.

      «Die Masern hatten offensichtlich die Augen von Dieterchen angegriffen», stellte der Augenarzt, an Mutti gewannt, fest, «wir müssen es mit einer Brille versuchen.»

      «Eine Brille?», fragte Mutti.

      «Ja, ich gebe ihnen einen Termin beim staatlichen Optiker, der wird die Stärke der Brille festlegen und alles weitere erklären.»

      Vom Augenarzt gingen die beiden direkt zum Optiker. Mit einigen Tests bestimmte der die Stärke der Brille. Es war eine scheussliche Brille. Die Gläser waren dick und das Gestell passte überhaupt nicht zu Dieterchens Gesicht.