Geri Schnell / Dieter Thom

Der Drang nach Freiheit


Скачать книгу

gut auf Mutti aufpassen. Wenn es ihr schlecht gehe, soll er sofort Frau Langer von unten rufen. Jetzt war Mutti wegen diesem blöden Sputnik allein zu Hause und machte sich sicher Sorgen, wo ihr Dieterchen blieb.

      Als er endlich seine Wurst erhielt, rannte er so schnell er konnte, nach Hause. Er war erleichtert. Die Mutti schlief und hatte nicht bemerkt, dass er zu lange weg war. Die nächsten Tage übernahm Vati die Einkäufe, so konnte Dieterchen auf seine Mutti aufpassen.

      Einige Tage später schien Mutti grosse Schmerzen zu haben. Dieterchen rannte zu Frau Langer.

      «Na Dieterchen!», sagte sie zu ihm, «ist es bald soweit? Bald wirst du einen neuen Bruder bekommen, dann kannst du mit ihm spielen. Freust du dich?»

      «Ich weiss nicht», Dieterchen wusste nicht, weshalb er sich freuen sollte. Für ihn zählte nur, dass es Mutti so schlecht ging.

      «Ich komme sofort nach oben», erklärte ihm Frau Langer, als er bei ihr anklopfte, «gehe zum Postamt, die sollen deinen Vati anrufen, er soll nach Hause kommen! - Machst du das?»

      «Bin schon weg.»

      Während Frau Langer nach oben ging, rannte Dieterchen so schnell er konnte zum Postamt. Die Frau am Schalter kannte ihn. Sie wusste, dass sie Herr Thom anrufen musste.

      «Danke Dieterchen, freust du dich auf deinen Bruder?»

      «Weiss nicht?», entgegnete Dieterchen, was soll er mit einem zweiten Bruder? Einer reicht ihm.

      Die Frau am Schalter erklärte ihm, dass sie Herr Thom erreicht hatte, er könne jetzt wieder nach Hause gehen. Dieterchen rannte den ganzen Weg zurück. Als er in die Strasse einbog, sah er vor dem Haus einen Krankenwagen stehen. Er kam noch rechtzeitig, um sich von Mutti zu verabschieden.

      «Du bleibst da», erklärte ihm Mutti mit schmerzverzerrtem Gesicht, «die Frau Langer kocht euch etwas zu Essen».

      Der Sanitäter drängte zur Eile, er wollte möglichst schnell losfahren. Eine Geburt im Krankentransporter wollte er nicht riskieren.

      Es war nach Mitternacht, als Vati nach Hause kam. Er schaute noch ins Kinderzimmer. Beide Buben waren schnell wach.

      «Es ist ein Mädchen!», erklärte ihnen Vati, «sie heisst Monika und ist gesund! Ein richtiger Schatz! Ihr habt jetzt ein Schwesterchen. Mutti geht es ebenfalls gut, sie wird in zwei Tagen wieder nach Hause kommen.»

      «Ein Schwesterchen?», fragten beide Buben fast gleichzeitig. Mehr hatten sie nicht zu sagen. Sie konnten das Gehörte noch nicht einordnen. Alle hatten immer von einem Bruder gesprochen und jetzt das, ein Mädchen in der Familie, wenn das nur gut ging!

      Zwei Tage später holte Vati die beiden im Krankenhaus ab, er leistete sich ein Taxi, um die beiden nach Hause zu bringen. Die beiden Buben schauten aus dem Fenster und rannten durchs Treppenhaus. Sie hatten sich mittlerweile damit abgefunden, dass das neue Familienmitglied ein Mädchen war. Beide freuten sich, endlich war Mutti wieder zu Hause.

      Besuch bei den Grosseltern

      Der 31. Oktober 1957 fiel auf einen Donnerstag. Vati hatte noch einige Tage Urlaub zu gut. So fuhr die ganze Familie Thom am Reformationstag nach Zörbig. Die kleine Monika musste unbedingt den Grosseltern vorgestellt werden. Die Fahrt mit der Strassenbahn zum Bahnhof dauerte fünfundvierzig Minuten. Danach noch eine ganze Stunde mit dem Zug. Am Bahnhof in Zörbig wurde Familie Thom von der gesamten Verwandtschaft begrüsst.

      Monika war sofort der Star und wurde von einem zum andern weitergereicht. Als sie zu schreien anfing, nahm sie Mutti in Obhut, die Besichtigung war vorerst abgeschlossen. Man machte sich auf den Weg zum Haus der Grosseltern.

      Die wohnten in einem riesigen Herrenhaus. Im Gegensatz zu früher, als es die Herrenfamilie allein wohnte, teilen sich jetzt fünf Familien das Haus. Während Oma mit Mutti in der Küche verschwand, zeigte Opa das Zimmer, in dem er für Vati und Mutti ein Bett eingerichtet hatte. Anschliessend stiegen sie auf den Dachboden, dort lagen zwei Matratzen für die beiden Buben bereit.

      Nun war Mutti an der Reihe und erzählte ausführlich, wie das mit der Geburt ablief. Dazu folgten die technischen Daten von Monika, Länge und Gewicht wurden auf Zentimeter und Gramm genau angegeben. Die Buben waren mit dem Essen fertig und Opa erlaubte Florian, und Henri, dass sie Wolfgang und Dieterchen, die Scheune des Bauernhofs zeigen durften.

      Das war ein Erlebnis. Die Scheune war als Spielplatz ein Traum.

      Gegen Abend halfen sie dem Bauer beim füttern der Kühe. Dieterchen erhielt ein Becher Milch frisch ab Zitze. Es schmeckte ausgezeichnet, in Halle gab es nie frische Milch.

      Nach dem Nachtessen waren die Buben so müde, dass sie sogar gerne schlafen gingen, die Matratzen auf dem Estrich versprachen eine spannende Nacht.

      Am Samstagmorgen waren die Buben schon früh wach und halfen dem Bauer beim Melken der Kühe. Es gab wieder frische Milch, köstlich! Plötzlich war vor dem Stall Lärm zu hören. Natürlich rannten alle nach draussen. Mit einem lauten Gedröhne, fuhr ein Auto vor. Es war ein Verwandter von Familie Schmitt, welche eine Stockwerk unter Opa wohnte.

      Alle Bewohner des Hauses versammelten sich auf dem Vorplatz. Dort stellte der Ankömmling sein Auto, ein VW Käfer ab. Ein Auto, welche Sensation. Dazu noch eines aus dem Westen. Mit erhobenem Kopf stieg der Fahrer aus und begrüsste als erstes seine Tante.

      «Das ist Onkel Hubertus», erklärte das Mädchen mit den langen Zöpfen dem Dieterchen, «er wohnt in Dortmund und kommt uns besuchen. Er bleibt eine Woche.»

      «Aus Dortmund?», fragte Dieterchen, «wo liegt das?»

      «Das liegt in Westdeutschland», klärte ihn das Mädchen auf, «er ist mein Onkel und arbeitet in der Autofabrik».

      Inzwischen begrüsste Onkel Hubertus auch die andern Familienmitglieder. Auch seine Nichte wurde umarmt.

      «Hallo Hilde, du wirst ja immer grösser und hübscher! Da habe ich was für dich.»

      Er überreichte Hilde ein Paket mit Schokolade. Sie bedankte sich mit einem Kuss bei Onkel Hubertus.

      «Für die 450 Kilometer habe ich sieben Stunden gebraucht», erklärte er stolz, «hier im Osten konnte man noch nicht so schnell fahren wie im Westen. Da gibt es Autobahnen.»

      Angeber, denkt Dieterchen.

      Dieterchen stand immer noch direkt neben Hilde. Als sie wegen einem sich vordrängenden Nachbar einen kleinen Schritt zur Seite machte, berührten sich die Hände von Dieterchen und Hilde einen kurzen Augenblick. Dieterchen erschrak, zog aber die Hand nicht weg. Die Berührung dauerte nur einige Sekunden, doch Dieterchens Herz begann wild zu schlagen. Sie hatte nicht sofort zurückgezogen. Nach endlos langen drei Sekunden, war der Nachbar vorbei und Hilde stand wieder an ihrem alten Platz, immer noch nahe bei Dieterchen, doch sie berührten sich nicht mehr.

      Allmählich verzogen sich die Leute vom Hof und gingen zurück zu ihrer Arbeit. Auch Dieterchen musste noch im Kuhstall helfen.

      Die drei Tage in Zörbig vergingen wie im Flug. Dann musste Familie Thom zurück nach Halle. Das verlängerte Wochenende war vorüber, morgen musste Vati wieder arbeiten. Opa und Günter begleiteten sie noch zum Bahnhof. Dieterchen war traurig, weil er Hilde nicht mehr gesehen hatte.

      Die Einschulung

      Der Tag der Einschulung war endlich gekommen. Dieter freute sich riesig darauf. Am frühen Morgen musste er nochmals in den Kindergarten. Dort wurden die Kinder verabschiedet, welche in die Schule wechselten.

      Alle Kinder, die nun in die Schule mussten, begleitete Schwester Ruth zur Schule. Im Klassenzimmer wurde jedem eine Schulbank zugeteilt. Danach verabschiedete sich Schwester Ruth, mit einer Träne in den Augen, von ihren Kleinen. Es war alle Jahre dasselbe, immer wenn ihr die Kinder ans Herz gewachsen sind, muss sie diese ziehen lassen.

      Die Lehrerin bedankte sich noch bei Schwester Ruth. Dann stellte sie sich