Michael Haderer

FREMDKÖRPER


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      01

      Damals in den Achtzigern gab es noch die alten Wählscheibentelefone, deren durchdringenden Klingelton man weder ändern noch leiser schalten konnte. Wenn man nicht das Glück hatte, einen Anrufbeantworter zu besitzen, der sich nach ein paar Tönen dazwischenschaltete und der akustischen Tortur ein Ende bereitete, war man arm dran nach einer durchzechten Nacht.

      Herbs alter Apparat erzeugte besonders bösartige Laute, weil sich wohl irgendwo eine Schraube gelockert hatte, die mit jedem Klingeln vibrierte und schepperte. Scharfe metallische Töne, die ohne einen Funken Mitgefühl sein Hirn aus der tiefen Bewusstlosigkeit rüttelten, in die er es am Abend zuvor mit zumindest drei Litern Bier und einer Flasche billigen serbischen Obstbrandes befördert hatte.

      Sechs Uhr morgens.

      Herb hob die Augenlider ein klein wenig an und blinzelte auf die grünlich schimmernde Tritium-Anzeige seines Weckers.

      »Wer zum Teufel …? Nichts kann so wichtig sein!« Er presste den Polster auf seinen Kopf und fluchte darunter weiter.

      Mit jedem neuen Klingeln brandeten Wellen unaussprechlichen Schmerzes an seine Frontallappen und schwemmten das Treibgut vager Erinnerungen an die letzte, in Schnaps versenkte Nacht an:

      Das Wettcafé Cojones. Der etwas heruntergekommene Spielplatz für mutige Glücksritter und Hasardeure.

      Das Fußballteam der dritten italienischen Liga, das schon wie der sichere Sieger ausgesehen hatte, ehe der Schiedsrichter der Partie eine Reihe unfassbarer Fehlentscheidungen getroffen und so den Ausgang des Spieles massiv zu Herbs Ungunsten beeinflusst hatte.

      Der kleine Beleg, auf dem in wenigen Worten und Ziffern die große Hoffnung auf das schnelle Geld geschrieben stand, bis Herb ihn – wie schon so oft – aus Enttäuschung in winzige Teile zerrissen und diese auf dem von verschütteten Getränken klebrig gewordenen Boden der Spelunke verstreut hatte.

      Das wissende, überhebliche Lächeln des lungenkranken Lokalbesitzers, den alle nur den Landauer nannten und der sich mit Wetten, vor allem aber mit Wettbetrügereien, bestens auskannte.

      Die obdachlosen Seelen, die halb eingeschneit auf den Stufen des Tegetthoff-Denkmals auf dem Vorplatz des Wiener Nordbahnhofs saßen und ihm zuwinkten, als wäre er schon einer von ihnen, während er sich spätnachts durch den eisigen Schneesturm nach Hause arbeitete.

      Die Huren vom Max-Winter-Platz, die gleich unter seinem Schlafzimmerfenster ihre letzten Kunden abfertigten, um sich danach rasch in ihre kleinen Bleiben zurückzuziehen und sich den Dreck der Nacht abzuwaschen.

      Die pflichtbewussten Hausbesorger, wie sie aus ihren Erdgeschosswohnungen in die Dunkelheit schwärmten und damit begannen, den ersten Schnee im November von den Gehsteigen zu schaben, weil er dort nichts zu suchen hatte – schon gar nicht so früh im Jahr.

      Herb griff sich die leere Schnapsflasche vom Boden und schleuderte sie aus dem Handgelenk. Zu kraftlos. Zu ungenau. Der Apparat schepperte gehässig weiter.

      Heute war IHR Tag. Der eine Tag. Sein Geburtstag. Den würde sie sich nicht so einfach nehmen lassen.

      »Was ist nur aus dir geworden, warum nur bist du so herzlos?«, dröhnte es aus der Leitung, als Herb es endlich fertiggebracht hatte, sich auf die andere Seite des Zimmers zu schleppen und das unvermeidliche Gespräch anzunehmen.

      »Herbert Kratochvil, ich habe dir unter unmenschlichen Qualen das Leben geschenkt. Ich habe mich aufgerissen, damit du mit deinem Dickschädel in diese Welt gepasst hast. Bedeutet das denn gar nichts? Wenn ich morgen sterbe, würdest du es frühestens in einem Jahr bemerken. So lange müsste ich in meiner Wohnung verfaulen, weil mein Herr Sohn sich einen Dreck um mich schert!«

      Herbs Mutter hatte es nie verwunden, dass er von ihr weggegangen war. Dass er sie alleingelassen und ihr obendrein verboten hatte, ihn zu besuchen. Welch Unverfrorenheit! Wie konnte er sich so etwas erlauben? Einmal im Jahr, an seinem Geburtstag, durfte sie ihn anrufen. Mehr nicht. Und sogar das musste sie ihm auf Knien abtrotzen, sich erniedrigen und ihn darum anflehen. Wie erbärmlich!

      »Die Nachbarn würden dich finden und mich dann verständigen, da bin ich sicher, Mutter«, versuchte Herb zu beschwichtigen. Tatsächlich würde sie niemand, der sie persönlich kannte, ernsthaft vermissen oder gar suchen gehen, sollte sie eines Tages nicht mehr keifend im Stiegenhaus des Mietshauses stehen und die Nachbarn beschimpfen. Die Frau war böse und gemein und keiner in ihrem Haus mochte sie leiden.

      »Die Nachbarn? Du hast ja keine Ahnung! Im Haus sind schon so viele Türken eingezogen, man kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein als alleinstehende Frau. Du musst wieder zu mir kommen. Du musst mich beschützen! Nicht auszudenken, wenn mich einer von denen …!«, sie sprach den Satz nicht zu Ende oder Herb hörte ihn einfach nicht mehr. Die infernalischen Kopfschmerzen forderten seine volle Aufmerksamkeit.

      »Wenn du wieder bei mir wohnen würdest …« Sie machte eine kleine Pause, um ihrem Sohn Zeit zu geben, die Vorteile zu bedenken. Herb bedachte gar nichts in der Richtung. Er sehnte sich nach seinem Bett und nach einer ordentlichen Dosis Aspirin.

      Sie versuchte es mit der milden, verständnisvollen Tour.

      »Ich verzeihe dir. Du wolltest dir die Hörner abstoßen, wie man so sagt. Dir deine Männlichkeit beweisen. Das verstehe ich doch. Ich bin dir auch nicht mehr böse. Wenn du deinen Fehler jetzt einsiehst, wirst du es nicht bereuen. Ich werde dich schon nicht beißen, du musst mir nur versprechen, dass du von nun an ein braver Junge sein wirst.« Er durfte zurückkommen und wieder bei ihr einziehen, wenn er sich zu hundert Prozent unterwarf.

      »Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es ist«, erwiderte Herb ungerührt. »Ich werde nicht wieder bei dir wohnen.«

      »Ich meine es ja nur gut!« Sie schluchzte laut auf. Sein Widerstand würde sich in der Säure ihrer Tränen auflösen, die Schuldgefühle würden ihn weichkochen. Weinen war ihre schärfste Waffe. Der hatte er unter normalen Umständen nicht viel entgegenzusetzen.

      »Das zieht heute nicht mehr, Mutter! Ich falle auf die Mitleidstour nicht mehr herein. Ich hasse es, wenn du weinst, aber ich werde unter keinen Umständen mehr zu dir zurückkommen!«

      Weil auch dieser Plan fehlschlug, geriet sie derart in Wut und begann so laut zu schreien, dass es Herb vorkam, als hielte er sein Ohr direkt an den Schallbecher einer von einem manischen Volksmusikanten geblasenen Trompete. Für einen kurzen Moment zogen sich sogar seine Kopfschmerzen verschüchtert zurück. Sein Gehirn geriet bei diesem Lärm in gefährliche Schwingungen. Die Mutter wollte sich mit aller Macht durch die Telefonleitung direkt in seinen Kopf pressen, sein System sozusagen von innen heraus angreifen.

      Plötzlich spürte er, dass etwas in ihn eindrang. Zuerst war es nur ein seltsames Kitzeln, so ähnlich wie Ohrentropfen einen ein wenig kitzeln, sobald die Flüssigkeit in den Gehörgang einläuft. Nicht einmal unangenehm. Herb schaute verdutzt. Er hatte wegen des Überraschungsmoments noch keine vernünftige Theorie parat.

      »Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt kriecht mir die alte Hexe in mein Hirn!«

      Er schleuderte den Hörer samt Mutter gegen die Wand, sodass er in seine Einzelteile zerbarst.

      »Geh raus aus mir«, klagte Herb.

      Es dauerte ein wenig, bis er begriff, dass nicht die Mutter, sondern ein Insekt in ihn hineingekrochen war. Es hatte wohl im Telefonhörer gewohnt und war vom Geschrei der Frau in die Flucht getrieben worden. Nun versuchte es, sich in Herbs Gehörgang ein gemütliches neues Nest einzurichten.

      Eine Ameise? Eine Spinne? Eine Raupe, die sich an seinem Gehirn satt fraß, bis sie schließlich, in eine fette Motte verwandelt, durch eine seiner leeren Augenhöhlen in die Welt hinaus surrte? Oder vielleicht ein Mistkäfer?

      Ein Mistkäfer war denkbar. Herb war nicht eben pingelig, wenn es um häusliche Sauberkeit ging.

      »Um Himmels willen! Bitte, bloß keine Kakerlake!« Der widerlichste aller möglichen Gedanken.

      Das