Michael Haderer

FREMDKÖRPER


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mit seinem Zeigefinger. Blut.

      »Es muss heraus! Jetzt. Sofort!«

      Herb bohrte seinen Zeigefinger so tief in seinen Gehörgang, wie es nur ging. Vielleicht konnte er es an einem seiner Füßchen greifen und herausziehen oder es mit seinen zu langen, ungepflegten Fingernägeln herauskratzen, wie überschüssiges Ohrenschmalz. Seine Finger waren für dieses Vorhaben allerdings um zwei Nummern zu dick. Selbst mit dem Kleinen kam er nicht einmal in die Nähe seines Widersachers. Er stellte sich vor, wie der verdammte Käfer sich über ihn lustig machte und ihn verspottete:

      »Du kriegst mich nicht! Mit deinen Wurstfingern!« Dass selbst ein so niederes Tier nicht die geringste Achtung vor ihm hatte, machte Herb rasend.

      Es erzeugte ein unerträgliches, kratzendes Dauergeräusch. Zermürbend, wie eine auf einem Nagel abgespielte Vinyl-Schallplatte, wie ein Song nach der zwanzigsten Wiederholung: Genervt bettelt man den Mann am Plattenspieler um etwas Abwechslung an. Aber er lässt sich in seine Performance nicht hineinpfuschen und bleibt unbeirrt auf seiner Linie.

      Herb versuchte sich unter diesen Bedingungen auf eine neue Strategie zu konzentrieren.

      »Wasser!« Er tippte sich selbst tadelnd auf die Stirn. »Warum ist mir das nicht gleich eingefallen? Das Ding herausspülen! Das muss klappen.« Er rannte in die kleine Küche, zur Sitzbadewanne, der einzigen Wasser spendenden Quelle in dieser Wohnung. Manchmal auch Behelfspissoir, wenn Herb für den Weg zum Gangklo zu faul oder zu betrunken war. Und heute die rituelle Hinrichtungsstätte dieses unerwünschten Mitbewohners.

      »Ich werde dich nicht ersäufen! Das hättest du wohl gerne. So einfach wird dein Tod nicht werden.« Er wollte das Tier noch leiden sehen, bevor er es in die Hölle schickte. Herb nahm das Haarsieb und platzierte es auf dem Abfluss. Die Wanne schien ihm der perfekte Auffangbehälter. Er drehte an den Armaturen, bis er die Wassertemperatur angenehm fand. Dann legte er den Kopf zur Seite und begann mit dem Fluten seines Hörorgans.

      »Ein wenig einwirken muss es natürlich. Ha!«, lachte Herb siegessicher. Die richtige Portion Zynismus zur richtigen Zeit. »Warte nur, ich werde meinen Spaß haben mit dir, das verspreche ich!«

      Nach einigen Momenten voreiliger Schadenfreude drehte Herb den Kopf ruckartig zurück, weil er hoffte, dass der so austretende Schwall das Tier mitreißen würde. Er malte sich aus, wie es schreiend in den Abgrund der Wanne stürzte und dort um Gnade winselte, weil eine Flucht aussichtslos war.

      Aber seine Wünsche blieben ungehört. Nur Wasser rann aus dem Ohr und strudelte langsam in den Abfluss. Kein Käfer blieb im Haarsieb hängen und auch sonst war nichts zu sehen. Herb prüfte jeden Zentimeter. Nichts. Er konzentrierte sich auf sein Ohr. Vielleicht war das Vieh ja wenigstens ertrunken. Ein wenig Hoffnung keimte auf, weil im Moment irgendwie Ruhe herrschte. Sowohl außen als auch innen. Als Herb sich schon daranmachte, die Befreiung von seinem Parasiten mit der letzten im Kühlfach verbliebenen Tiefkühl-Pizza zu feiern, hob der Käfer sein penetrantes Gesäusel von Neuem an. Vielleicht sogar noch gemeiner als zuvor. Als wollte er sagen: »Der zweite missglückte Versuch, hahaha, du kannst es nicht! Du bist ein Versager!«

      Herb ließ sich erschöpft und etwas entmutigt auf den alten Diwan fallen, den ihm der Vormieter hinterlassen hatte, weil er zu faul gewesen war, ihn ordnungsgemäß zu entsorgen. Wenn man die Rückenlehne zuerst etwas anhob und dann niederdrückte, ließ sich ein halbwegs vernünftiges Bett daraus zaubern. »Nicht wirklich für zwei geeignet.« Herb versuchte schon lange, eine potenzielle Kandidatin für den Platz neben ihm zu finden.

      »Sie müsste schon ziemlich dünn sein. Und klein. Und sie müsste ziemlich verliebt an mir kleben, sonst ginge sich das nie aus.« Schöner Gedanke. Aber er kannte keine, die die Bedingungen auch nur annähernd erfüllt hätte. Vor allem an der letzten Hürde scheiterten sie alle. Die Einzigen, die sich hartnäckig an ihn klammerten, waren zum einen seine Mutter und neuerdings das lästige Getier in seinem Ohr. Die Mutter war für dieses Mal erfolgreich abgewehrt. Der Telefonhörer lag immer noch kaputt auf dem Boden. Kein Ton kam mehr aus seiner Richtung. Allem Anschein nach hatte die dominante Herrscherin klein beigegeben. Nun galt es noch den kleinen Eindringling loszuwerden, der immer noch zirpend in seinem Ohr saß. Der Tag war noch zu retten.

      Der Staub der letzten Wochen, wenn nicht Monate, der sich auf Herbs rissigem Parkettboden angesammelt hatte, brachte ihn auf eine neue Idee. Zugegeben, der Gedanke war ein wenig unkonventionell. Aber rein physikalisch, meinte Herb, müsste er eigentlich zum ersehnten Ergebnis führen. Ein Insekt mag sich der Gravitation entziehen und an der Decke laufen können, aber dem Unterdruck eines M-2500-Watt-Staubsaugers würde es nichts entgegenzusetzen haben. Das war todsicher. Die Schwierigkeit bestand vor allem darin, das Tier anschließend im Staubbeutel wiederzufinden. Nach wie vor bestand Herb ja auf seine Rache. Den langsamen, qualvollen Tod. Das Tier musste für die verursachten Schmerzen büßen. Daran führte kein Weg vorbei.

      Er nahm die Schachtel mit dem Gerät aus dem Kleiderschrank, legte die Saugrohre sorgfältig nebeneinander auf den Boden und setzte aus ihnen, wie ein Heckenschütze, seine Anti-Insekten-Waffe zusammen. Er entschied sich für den kurzen Lauf, weil einfach praktischer, wenn an das eigene Ohr gehalten, und stellte sich vor den Spiegel, der an der Schranktür angebracht war. Es sah beinahe so aus, als wollte er sich mit dem Staubsauger selbst erschießen.

      »Sprich dein letztes Gebet!«, forderte Herb seinen Gegner auf und drückte mit den Zehen auf den Startknopf.

      Fast hätte es ihm Hirn und Augen aus dem Schädel in den Staubbeutel gesogen, so stark war der M 2500. Mehr als ein paar Sekunden hielt er dem Sauger nicht stand. Schnell, solange er noch Herr seiner Entscheidungen war, drückte er seinen Fuß wieder auf den Power-Knopf.

      »Don’t try this at home!«, riet er seinem Spiegelbild. Er fühlte sich etwas schwindelig nach dieser Prozedur.

      Doch Herb hatte keine Zeit, sich deshalb hinzulegen und die Beine hochzulagern, bis sich sein Kreislauf wieder stabilisierte. Er musste das Vieh finden, und zwar schnell, ehe es aus dem Staubbeutel flüchten konnte. Die Klappe des M 2500 war Gott sei Dank leicht zu öffnen. Darunter befand sich der pralle Beutel, voll Dreck aus vergangenen Tagen. Herb öffnete den Sack vorsichtig an einer Seite und schnitt dann das Papier mit einer Nagelschere nach und nach auf. Keine Sekunde ließ er dabei den Staub aus den Augen. Nicht die kleinste Bewegung durfte ihm entgehen.

      Nun, da er den Beutel zur Gänze geöffnet hatte, breitete Herb sorgsam den Inhalt auf dem Boden aus. Er trennte Haarbüschel von Zigarettenstummeln und anderen nicht mehr definierbaren Schmutzpartikeln. Mit einem kleinen Metallkamm zeichnete Herb im Stile eines Kare-San-Sui-Zen-Meisters gleichmäßige Muster in den Dreck. Aber kein Tier. Nicht mal eine tote Fliege.

      Er begann nun hektischer zu wühlen. Der aufgewirbelte Staub tauchte das Zimmer in einen Nebel aus Ruß, Hautschuppen, Haaren und etlichen anderen undefinierbaren Ablagerungen längst vergangener Zeiten. Alles um ihn herum versank im Dreck.

      Herb nahm dieses Chaos kaum wahr. Er war ganz darauf fixiert, die Leiche seines Gegners auszugraben. Er musste sichergehen, dass er ihn besiegt hatte. Doch da war nichts. Konnte das Vieh entwischt sein? Zentimeter für Zentimeter untersuchte er den Boden vor sich. Keine Regung.

      »Nein! Sei still! Sei endlich still!«, schrie er verzweifelt, als das Gejammer und Gekratze in seinem Gehörgang erneut einsetzte. Alles war umsonst gewesen. In Herbs verzerrtem Gesichtsausdruck spiegelte sich der ganze Frust über die neuerliche Niederlage. Er richtete seinen Blick Hilfe suchend nach oben. Immer noch auf den Knien, bot er einen erbarmungswürdigen Anblick. Sogar ein Atheist hätte Gott um Gnade für diesen armen Sünder angefleht. Ein Häufchen Elend im Dreck. Die Schmerzen im Ohr, das Pochen im Hirn, der sägende Lärm überall in seinem Kopf trieben ihn langsam in den Wahnsinn. Er presste einen lauten, langen Schrei aus seinen Lungen. Vielleicht konnte er alles andere übertönen. Den Gegner niederschreien, ihm Angst machen, sodass er wenigstens mit dem Lärmen aufhörte. Das wäre ein Anfang, ein Kompromiss, auf den sich Herb einließe. Ein wenig Ruhe, das war seine bescheidene Forderung. Darauf könnte man sich mit ihm einigen und einen Sonderfrieden aushandeln und meinetwegen in Symbiose weiterleben. Nur der Krach sollte endlich aufhören.

      »Bitte!«

      Doch