Michael Haderer

FREMDKÖRPER


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Er war nicht eben ein Konditionswunder, bei seinem Lebenswandel.

      Endlich an der Straßenbahnhaltestelle angekommen, dauerte es eine kleine Ewigkeit, ehe sich sein Puls so weit beruhigt hatte, dass gleichmäßiges Atmen wieder möglich war. Wertvolle Minuten schmolzen dahin. Und weit und breit keine Straßenbahn. Die große Uhr an der Kreuzung zeigte 11.53 Uhr. Es blieben also noch sieben Minuten, als Herb endlich in der Ferne die rote Tram ausmachen konnte. Er fluchte und bettelte und vielleicht fauchte er sogar ein Gebet in den Himmel. Er konnte heute wirklich jede Hilfe gebrauchen.

      Als sich die Bahn schließlich langsam näherte, halluzinierte sie Herb als einen großen, roten chinesischen Neujahrsdrachen, der sich – dem Mondkalender folgend zwei Monate zu früh – mit weit aufgerissenem Maul an ihn heranschlängelte. Seine gelben Augen funkelten, aber er war gut gelaunt. Das chinesische Neujahr war ja kein Grund, traurig dreinzuschauen. Auch die vielen lustigen Menschen, die seinen schlangenartigen Körper trugen, lachten vergnügt und hießen Herb mit Gesten, sich ihnen anzuschließen. Der trat aber verwirrt zurück. Er hatte keine Zeit für chinesischen Neujahrsklamauk. Gleich würde ihn die Straßenbahn an sein Ziel bringen. Also winkte er den Drachen aufgeregt weiter.

      »Haut ab hier!«, rief Herb wütend. »Ihr verstellt die Haltestelle! Hier fährt gleich meine Tram ein! «

      Der Drache schüttelte den Kopf und setzte seine Reise fort. Herb blieb allein an der Station zurück und starrte in die Richtung, aus der er die Straßenbahn jeden Moment erwartete. Aber da kam nichts. Er drehte seinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung und sah verwirrt zu, wie sich der vermeintliche Drache in eine der für Wien typischen roten Straßenbahnen zurückverwandelte und ihre Rücklichter hinter dem Nordbahnhof verschwanden.

      Herb wollte etwas sagen. Etwas, das seine Niedergeschlagenheit adäquat ausdrücken würde. Aber er fand keine Worte. Ob ihm die Hausärztin überhaupt noch helfen konnte? Die Post hatte inzwischen sicher schon zu. Sein Geld konnte er frühestens am Montag abholen, wenn er es denn dann schaffte, rechtzeitig dort zu sein. Er saß einsam auf der kalten Bank der Haltestelle und beobachtete die vorbeifahrenden Autos dabei, wie sie mit ihren Rädern tiefe Furchen in den graubraunen Schneematsch pflügten.

      Es vergingen wohl an die zwei Stunden, ehe sich für Herb wieder ein Fenster zur Realität öffnete. Alle fünf bis zehn Minuten hielt eine weitere Straßenbahn und die aussteigenden Menschen machten eine großen Bogen um diesen offenbar mit Drogen vollgepumpten, heruntergekommenen Typen. Jene, die sich an der Haltestelle einfanden, weil sie den nächsten Zug in Richtung Zentrum nehmen wollten, rümpften die verschnupfte Nase oder schüttelten aus sicherer Entfernung angewidert den Kopf. Herb bemerkte sie nicht. Ihre boshaften Kommentare konnte er wegen der Orgelmusik in seinem Kopf nicht hören. Bach spielte das Präludium nun schon zum hundertsten Mal. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts. Ab und zu riss er seine Arme vor das Gesicht, als wollte er sich vor einem Angriff schützen. Ein Verrückter war er, für alle, die sich für normal hielten. Nach Meinung der echten Wiener, derer es nach Meinung der echten Wiener schon viel zu wenige gab, sah man in jüngster Zeit viel zu viele Verrückte frei herumlaufen. Die jüngste Zeit war eben viel zu liberal. Das hätte es früher nicht gegeben. Das war schon mal anders.

      Und sie fühlten sich schließlich wie kleine Sieger, als Herb mit einem Mal von der Bank aufsprang und die Wolfgang-Schmälzl-Gasse zurück in Richtung Max-Winter-Platz spazierte, als wäre nie etwas passiert.

      Das Stück Realität, das sich gerade wie ein flüchtiges Hoch zwischen zwei mentale Schlechtwetterfronten schob, gestattete Herb, halbwegs schnell und ohne weitere Komplikationen die paar hundert Meter bis nach Hause zurückzulegen. Franzi war wohl gerade mit einem Freier unterwegs oder erholte sich in ihrem Stammcafé vom Ungemach, das ihr Herbs Auswurf bereitet hatte. Ihr Standplatz war verwaist. Nur die halb verdaute Pizza klebte noch auf dem Asphalt.

      Den geplanten Arztbesuch hatte Herb schon vergessen, ebenso wie sein Versprechen, bei seiner Nachbarin, Frau Laner, anzuklopfen. Als er sicher in seiner Wohnung angekommen war, legte er nur noch ein vertrautes Video in seinen VHS-Player und sich selbst auf sein altes Sofabett. Der Tag hatte noch nichts Gutes für ihn zu bieten gehabt. Mit diesem Film wollte Herb sein Schicksal endlich in bessere Bahnen lenken.

      04

      Sie musste wieder eingeschlafen sein, denn als Janis zu sich kam, waren ihre Fesseln so weit gelockert, dass sie ihre Hände und Füße davon befreien konnte. Es schien, als hätte Janis einen unsichtbaren Verbündeten. Auch die Zellentür stand einen Spalt offen, sodass ein schmaler Streifen Ganglicht es schaffte, auf den kalten Steinboden ihrer Zelle zu fallen und Janis den ersehnten Ausgang in die Freiheit zu markieren. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte vermutlich auch die Blumen an ihr Bett gebracht. Um etwas Dankbarkeit zu zeigen, nahm sie das Johanniskraut aus der Vase und steckte es in die Tasche der grau-weiß-gestreiften Gefängnisjacke, die man ihr angezogen hatte. Vorsichtig schlich sie sich an die Tür heran. Es konnte auch eine Falle sein.

      Janis riskierte einen Blick durch den Spalt auf den Flur. Quadratische senfgelbe Fliesen für den Boden, bläulich-grüne quadratische Fliesen an der Wand. Alle paar Meter sorgte eine schmucklose Neonröhre für grelles, kaltes Licht.

      »Geschmacksdesaster!«, kam es Janis in den Sinn. Es schien in der einen Richtung keine Wachen zu geben, also wagte es Janis, den Kopf weiter rauszustrecken und die andere Seite des schmalen Ganges zu inspizieren. Auch nichts. Sie war allein. Der Flur musste schier endlos sein, denn trotz des gleißenden Neonlichtes konnte man nach beiden Seiten kein Ende ausmachen. Janis entschied sich, nach links zu gehen, besser gesagt, sie schlich nach links mit dem Rücken die Fliesenwand entlang. Zuerst nur ein paar Schritte auf Zehenspitzen, dann immer schneller werdend, bis sie schließlich lief, so schnell sie konnte, zuversichtlich, einen Ausgang zu finden.

      Von Weitem schon sah sie die Tür. Das Licht im Raum dahinter war wärmer, soweit konnte man sich das durch die Milchglasscheibe vorstellen. Je näher Janis der Tür kam, umso größer wurde ihre Hoffnung auf Freiheit. Und als sie dieser Freiheit bis auf ein, zwei Meter nahe gekommen war und schon ihre Hand ausstreckte, um mit ihr den Türknauf zu fassen, erstarrte sie erschrocken und duckte sich aus dem Türbereich in die Ecke. Sie versuchte den Atem anzuhalten, um nicht entdeckt zu werden. Doch ihre Lungen verlangten nach dieser Aufregung dringend nach Sauerstoff. Janis kämpfte dagegen an. Jeder einzelne Atemzug schien ihr zu laut und mochte die Wachen alarmieren, deren Schatten sie durch die Scheiben schemenhaft erkennen konnte. Man hörte sie etwas murmeln, dann ein gehässiges Lachen, dann war es ihr, als stritten sie. Die Wachen schienen betrunken und aggressiv. Es war nicht ratsam, ihnen zu begegnen, und es war wohl aussichtslos, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen.

      Der Türknauf drehte sich. Jeden Moment würde eine Wache durch die Tür treten und sie dahinter kauernd entdecken.

      Ängstlich trat Janis den Rückzug an. Behutsam und lautlos setzte sie ihre Schritte, um nur ja kein Geräusch zu verursachen, bis sie meinte, genügend Abstand zwischen sich und die Gefahr gebracht zu haben. Dann rannte sie los.

      In diesem Moment entdeckte sie die Wache.

      »Halt! Bleib stehen!«, schrie er ihr nach. »Sofort stehen bleiben!«

      Er rief seinen Kollegen und beide hetzten ihr brüllend hinterher.

      Janis rannte vorbei an ihrer Zelle durch den elendig langen Gang, ohne darüber nachzudenken, was sie auf der anderen Seite erwarten würde. Es gab keine Alternative, nur rennen, auch wenn sie auf eine neue Ungewissheit zusteuerte. Sie drehte mehrmals den Kopf nach hinten, um den Abstand zu ihren Verfolgern zu bestimmen. Doch die waren plötzlich stehen geblieben. Dort, wo die Fliesen an der Wand geendet hatten und von einer bemoosten Ziegelmauer abgelöst wurden, dort, wo anstatt der senfgelben Keramiken nun ein simpler gestampfter Lehmboden unter Janis Füßen war, dort an der Kante waren die beiden Wachen abrupt stehen geblieben und wagten sich nicht weiter. Als fürchteten sie, in einen Abgrund zu stürzen.

      Janis drosselte ihre Geschwindigkeit. Sie war etwas verwirrt, doch auch zufrieden. Anscheinend hatte sie es geschafft, sich in Sicherheit zu bringen. Der Lehmboden fühlte sich kalt an unter ihren Füßen. Falls sie denn je Schuhe besessen hatte,