Thomas Barkhausen

Die Mondesserin


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Ihre, Madeleine, zweite der Priesterinnen

      Drei Kaninchen

      Den Weg ging er hinunter, den er jeden Tag hinunter ging und wieder hinauf. Er keuchte. Er sah den Abend kommen. Er keuchte. Dann trat der Abend neben ihn. Sie erkannten einander, alte Bekannte. Sie nickten sich zu.

      Die Hütte lag im Schatten der Eichenzwillinge, die Zeit hatte sie sich hinaufschrauben lassen in den Himmel, den sie nun verdeckten.

      Das Fell des Kaninchens war weißbraun gescheckt und weich, das Tier zitterte leicht in seiner Hand, es war warm und weich. So weich wie es jeden Tag war, den der Mann den Weg hinunter ging zu den drei Kaninchen, die so jung waren und so klein und sich in seine Hand schmiegten, als er sie holte aus dem Verschlag, in dem sie geboren waren, drei Hütten weiter oben, und sie den Weg hinunter trug zu den kleinen Ställen im Windschatten seiner Hütte.

      Das erste Kaninchen quiekte, als er es vorsichtig mit der Linken an den Hinterläufen nahm. Der alte Mann hielt das Kantholz in der rechten Hand. Er zögerte.

      Er gab den Gruben keine Namen, so wie er auch den Kaninchen keine Namen gegeben hatte. Er wollte einfach warten, bis ihm die Namen von selbst einfielen, er dachte, sie würden schon zu ihm kommen, die Namen, aber dann verging die Zeit und sie kamen nicht und so blieben die drei Kaninchen namenlos, und jeden Tag ging der Mann zu seinen namenlosen Kaninchen, keuchte den Weg hinauf mit seiner Plastiktüte voll mit Kartoffelschalen und den Resten des Gemüsestandes, die die Frau am Stand für ihn aufbewahrte. Und jedes Mal fragte sie: Wie geht’s den kleinen Rackern? Und jedes Mal sagte er: Gut! Und nickte ihr zu und lächelte ein dünnes altes Lächeln.

      Der Mann legte die Kaninchen in die Gruben, eines nach dem anderen, jedes in seine Grube. Er sagte die Namen der Kaninchen, die er ihnen jetzt gab, in diesem Moment, sagte einen nach dem anderen. Die Kaninchen waren immer noch warm. Der alte Mann sah auf die namenlosen Kaninchen, die jetzt Namen hatten. Er häufte lockere Erde auf die Gräber und drückte sie fest.

      Der Mann ging in die Hütte aus Holzbrettern. Der Mann stand in der Hütte, reglos. Er sah den einzigen Stuhl an - lange. Dann setzte er sich. Er sah zur Tür hinaus. Der Geruch nach Erde strich ins Haus, katzengleich, auf den Schwingen eines lauen Windes.

      Bernadette

      Du bist so schön, sagte der Junge. Ich glaube fast, du bist die schönste Frau der Welt! Nein, sagte der Junge, ich weiß es, du bist die schönste Frau der Welt!

      Bernadette strich ihm die Haarsträhne aus der Stirn. So widerspenstig ist sie, dachte Bernadette, dass sie nie an seiner Schläfe verharren will. Bernadette zog den Kopf des Jungen an sich. Der Junge sträubte sich ein wenig. Wirklich, sagte er, ich weiß es ganz genau. Bernadette zog seinen Kopf an sich. Der Junge gab nach und sie strich über sein Haar. Widerspenstige Strähne, schimpfte sie stumm und lachte. Der Junge war jetzt still. Sein Kopf ruhte an ihr.

      Bernadette spürte den Wind zuerst. Ganz leicht nur strich er über den Kragen ihres Mantels in ihren Nacken. Bernadette schauderte. Bernadette sah in das Glas der Scheibe des Cafés. Der Junge ruhte an ihr. Der Wind blätterte die Serviette unter dem Kuchenteller auf. Der Junge liebte Kuchen. Jede Sorte von Kuchen. Je süßer desto lieber. Und jedes Mal, wenn sie sich in dem Café trafen, ihren Platz einnahmen an ihrem Tisch, ganz am Rande, an der dem Park zugewandten Seite, kaufte sie bei dem Kellner mit den weißen Augenbrauen und den weißen Koteletten Kuchen für den Jungen und Milchkaffee und einen Espresso für sich.

      Werden wir es je tun? fragte der Junge.

      Bernadette sah die Frau mit dem Jungen im Arm in der Scheibe an. Sie wusste nicht, ob der Junge recht hatte, aber es schien so, als sei die Frau in der Scheibe schön.

      Bernadette tätschelte seine Wange, dann strich sie durch sein Haar. Nie, dachte sie, niemals. Nie will ich, dass diese Strähne aufhört so widerspenstig zu sein.

      Die Freibeuterin

       Als gegessen war der zweite Vater und nur ein Knochen noch von ihm geblieben, ein Knöchlein, da zermalmten sie diesen zu Staub, zum Staub des zweiten Vaters und verwahrten ihn im tiefsten Dunkel des Mondes.

       Dann waren versiegt die Tränen der Esserinnen, die Mädchen, die ihnen folgen sollten, geformt aus dem Staub und den Tränen. Und fortan durfte keine der Priesterinnen mehr eine Träne weinen, keine des Tags und keine des Nachts.

       So zogen sie ihre Bahn.

       Ein Mädchen wuchs heran, das war gezeugt aus dem blauen Strahl der Nachtsonne. Sie spielte mit neunundvierzig Vögeln in neunundvierzig Farben und sie ließ sie singen auf der besonnten Seite des Mondes und ihre Gewänder waren nicht weiß.

       Und die Esserinnen sahen sie an, sahen sie wachsen und suchten für die Namenlose einen Namen und fanden ihn. Und so nannten sie die Mondesserinnen: die Freibeuterin. Denn so wie ihr Mond ein Schiff und sie die Schifferinnen waren, so war das Mädchen aus dem blauen Strahl eine Piratin auf dem Schiff der Esserinnen, denn es war ein wildes Mädchen des Tags und ein ruhiges und scheues des Nachts und ihr Lachen war laut. Ihr Lachen hätte den zweiten Vater erfreut, wenn er es hätte an sein Ohr klingen lassen können, bevor er aufgebahrt ward und gegessen und zermalmt sein letzter Knochen zu Staub und verwahrt im tiefsten Dunkel des Mondes.

      Die Hüterin des Harems

      Langsam und grün zogen die Linien über den Boden zur Tür hin, dahinter öffnete sich das Blau des späten Nachmittages. Licht lag müde in den Ecken.

      Die Sonne tauchte Lydias Hand in helleres Grün. Sie nestelte an ihrem Rock, sah auf den Saum, zog ihn gerade, und ihre Lippen wölbten sich. Ihr Blick glitt flach unter ihren Lidern zum Sonnengrün ihrer Hand. Der Schirm lag neben ihr, noch nass vom Schauer, der sie im Park suchte und fand.

      Ihr Lidschatten war nicht zerlaufen. Sie schaute hinüber zu dem Mann am Auto. Sie hob die Brille, zögerte, justierte die Bügel und legte dann doch das Gestell neben ihre Tasse. Sie sah auf den Nacken des Mannes, der von weitem blau aussah im grünen Licht der Nachmittagssonne. Das war eine Täuschung, sagte sie laut.

      Der späte Müllwagen, der die Papierkörbe abfuhr, zog die Straße hinauf, zog zwei Müllmänner schleppend hinter sich her, dem Tagesende entgegen. Für einen Moment war es, als sei kein Geräusch zu hören.

      Lydia brannte - schien zu brennen. Sie schob ihre Hand aus dem Licht. Der Mann hatte sich umgedreht, schirmte die Augen mit der einen und winkte mit der anderen Hand herüber. Lydia sah auf den Mann. Sie würde nicht aufstehen und hinüber schlendern. Sie winkte nicht zurück. Und der Mann wandte sich wieder ab. Lydia öffnete die kleine Handtasche mit den drei verschiedenfarbigen Lippenstiften, die sie eingesteckt hatte, bevor sie die Tür ins Schloss zog. Sie legte sie auf die Tischplatte neben die Pfütze des hellgrünen Lichts. Sie rollte die Stifte hin und her und ließ sie aneinander klacken. Sie nahm die drei Tampons hervor, wickelte das Zellophan auf und drehte es im Licht. Sie nahm die Tampons, legte sie in den Aschenbecher, gruppierte sie zu einem unvollständigen Stern und legte die Spitze der glühenden Zigarette in die Mitte des Sterns. Sie gähnte lustlos, schloss ihre Handtasche wieder und wartete. Der Müllwagen kroch weiter oben über die Kuppe des Hügels, hinter dem der Park lag.

      Sie winkte dem Kellner mit den weißen Haaren und den weißen Koteletten. Sie lächelte nicht und zahlte. Im Aschenbecher begannen die Tampons zu glimmen. Lydia stand auf. Der Mann am Auto stand mit dem Rücken zu ihr, das Blau auf seinem Nacken war verschwunden. Der Rauch aus dem Aschenbecher zog über das hellgrüne Wasser des Lichts.

      Lydia setzte ihre Brille zurecht, sie vergaß sie an diesem Tag nicht.