Isabel Ackermann

Wie starb Murdock?


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Schlenker, wie um Murd zu überfahren. Aber Murdock ging schneller und schaffte es auf den Bürgersteig. Gestern war es wieder so... Murdock kam jeden Abend gegen siebzehn Uhr heim, weil ich ihm da Futter gab. Und gestern kam wieder das große blaue Auto und versuchte, ihn zu überfahren. Und heute hat er es geschafft. Gerade eben. Ich wollte Murdock abholen, weil ich mir sowas schon gedacht hab, dass er es wieder versuchen würde, aber ich kam zu spät… Ich sah gerade noch das blaue Auto nach da fahren...“, sie streckte ihren Arm aus um die Richtung anzuzeigen, „und Murdock lag schon tot am Straßenrand.“

      „Konntest du erkennen, wie der Fahrer aussah?“, fragte Louise.

      „Ich weiß nicht mehr. Ich hab immer nur auf Murdock geschaut.“

      „Hmm.“, machte Louise und sah Nick an.

      Sie war den Umgang mit Kindern nicht gewöhnt. Wusste nicht, was zu tun war. Trösten? Nach Hause schicken?

      Nick übernahm. Er setzte sich aufrecht hin und sah Stepheny fest in die Augen.

      „Was möchtest du jetzt von uns?“; fragte er ernst.

      „Ihr habt Zeit, sagt Mama. Könnt ihr den Mörder finden und bestrafen? Ich meine, sowas darf man doch nicht! Sowas muss bestraft werden...“

      „Natürlich muss es das. Ich sehe das so wie du. Das sind wir Murdock schuldig. Aber es wird eine schwierige Aufgabe, und ich weiß nicht, ob wir es schaffen. Leider haben wir nicht viele Informationen. Ich hoffe, es reicht.“

      „Also macht ihr es?“ Stepheny sah Nick mit großen Augen an. Der wiederum blickte zu Louise, und sie nickte ihm zu.

      „Wir versuchen es! Wir geben alles!“

      Als das Kind draußen war, lehnten beide sich zurück und atmeten gleichzeitig geräuschvoll aus. Sie lachten darüber.

      „Meine Güte, was haben wir uns da aufgebürdet? Als ob wir nicht genug Kack am Hacken hätten!“

      „Ach was!“, beschwichtigte Nick. „So ein kleiner Mordfall am Lebensabend.. wenn wir DAS klären, dann haben wir nicht umsonst gelebt!“ Wieder lachten sie. „Okay. Wie fangen wir es an?“ fragte Louise. „Observation der Straße? Nachbarn befragen? Den Tatort untersuchen?“

      „Den Tatort untersuchen.“, pflichtete Nick bei.

      Also fanden sie sich draußen auf der Straße wieder und lachten albern, als sie nach Bremsspuren oder ähnlichem suchten. Wonach eigentlich?

      Aber alles sah aus wie immer. Noch nicht einmal Blut war zu sehen. Nur ein bisschen Fell, das auf der Straße klebte.

      „Das reicht für heute. Protokoll: Es wurde nicht gebremst. Das unterstreicht den Verdacht, dass jemand es darauf angelegt hat, das Tier zu überfahren. Oder dass er die Reaktionszeit eines Hundertjährigen hatte. Oder dass er hundert IST. Oder dass er abgelenkt war, weil seine Freundin neben ihm saß. Oder auf ihm. Oder dass er generell nicht für Tiere bremst. Oder so.“ Nick zwinkerte Louise zu.

      „Wer sagt dir, dass es ein Mann war? Vielleicht war’s ja auch eine Frau. Das würde alles erklären, hat mal wieder Bremse und Gas verwechselt.“ Louise grinste.

      „Jap. Okay, das war leicht. Der nächste Fall, bitte!“

      „Und morgen .... morgen befragen wir die Nachbarn.“

      3. Fragen

       Alles hat seine Zeit.

       Prediger 3,1 (Bibel)

      Louise führte die dampfende Kaffeetasse zum Mund und hatte wieder einmal das seltsame Gefühl, dass ihre Augen beschlugen. Bella war ihre Freundin, die einzige, die nah bei ihr wohnte, nur über die Straße.

      „Och, Mensch! Die arme Stepheny! Murdock war wirklich wichtig für sie. Ihre Eltern sind, gelinde gesagt, merkwürdig.“

      „Was meinst du?“, fragte Louise.

      „Na ja, irgendwie leben die so, als sei die Kleine gar nicht da. Oder als sei sie ein Haustier. Sie arbeiten beide Vollzeit. Das muss ja nicht schlimm sein. Aber sie kümmern sich auch nicht um sie, wenn sie zu Hause sind.“

      „Woher weißt du das?“

      „Weil ich Augen habe. Und Ohren. Und direkt daneben wohne.“, erwiderte Bella. Sie ließ sich neben ihrer Freundin auf die altmodische Sitzbank fallen. Alles in dieser Miniwohnung war alt, aber originell. Bella hatte jedes einzelne Möbelstück eigenhändig aufgemotzt, lackiert, beklebt, mit anderen verbunden.

      „Meine Wohnung ist ein Einzelstück. Wie ich.“, hatte sie lachend gesagt, als Louise zum ersten Mal zu Besuch gewesen war. Und Louise hatte sich zu Nick umgedreht, ihren Zeigefinger in den Mund geschoben und die Augen verdreht, weil sie im Angesicht von so viel Frieden mit sich selbst immer einen Brechreiz verspürte.

      „Was meinst du? Augen. Ohren? Was läuft da? Ein Fall fürs Jugendamt?“, bohrte Louise nach.

      „So leicht machen sie es einem nicht. Sie misshandeln das Mädchen nicht im herkömmlichen Sinn: Es gibt keine körperliche Gewalt oder sowas. Sie bekommt zu essen und zu trinken und hat saubere Kleidung und saubere Zähne. Aber sie beschäftigen sich nicht mit ihr. Ich spüre keine Zärtlichkeit, wenn sie mal mit ihr reden. Es gibt scheinbar nie eine ‚Nur-für-dich-Zeit’ mit Steph.“

      Louise dachte nach. Hatten ihre Eltern ‚Nur-für-dich-Zeiten’ für sie gehabt? Die Mutter nicht. Oder? Sie erinnerte sich, dass sie manchmal zusammen Scrabble gespielt hatten oder Kniffel. Allerdings hatte ihre Mutter dabei immer so gewirkt, als ob sie eigentlich viel lieber irgendetwas anderes machen würde, was ihr aber verwehrt blieb. Sie hatte gelacht, ja. Aber sie hatte auch eine nach der anderen geraucht und war ruhelos, sprang auf, setzte sich wieder, seufzte hier und da.

      Und ihr Vater?

      Der war so früh gestorben. Sie konnte sich nur an wenig erinnern. Sie war damals etwas jünger gewesen als Steph heute. Was sie erinnerte, waren mehr Gefühle, Gerüche und Farben. Kleinigkeiten. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater ihr oft abends eine Gute-Nacht-Geschichte erzählte. Er kniete dabei vor ihrem Bett und machte zwischendurch mit seiner tiefen Stimme ‚Hmhm’. Sie mochte das eigentlich. Er war wie eine Wand, wenn er da so kniete, die alles Böse von ihr abhalten konnte. Aber sie erinnerte sich auch, dass sie auf seine Mundwinkel starrte. Dort sammelte sich beim Erzählen weißes Zeug, und er merkte das nie und erzählte weiter. Dabei entstand noch mehr weißes Zeug. Louise ekelte sich davor. Jedes Mal hoffte sie wieder, er würde es merken und irgendetwas dagegen tun. Aber umsonst. Also schloss sie die Augen, immer wenn der Ekel zu groß wurde, und hörte nur noch die warme Stimme und das ‚Hmhm’ zwischendurch. Sah braun. Fühlte braun. Wärme. Hmhm.

      Das waren ‚Nur-für-dich-Zeiten.’

      „Alles okay?“, fragte Bella und legte ihre Hand auf Louises Arm.

      „Jap. Nur ein wenig nachgedacht, danke.“ Sie atmete leise aus. „Armes Ding. Armes, kleines Ding.“

      ******

      „Wie ist er gestorben, dein Vater?“

      Es war eines von diesen Gesprächen im Krankenhaus, bei denen sie sich in Schallgeschwindigkeit kennen gelernt hatten. Nicks Frage hing eine Weile im Raum, bevor Louise antwortete.

      „An derselben Krankheit wie ich. Er hatte die Tücke. Ich hab sie wohl von ihm. Damals war ich sieben. Meine Mutter schrie nur und lief zu den Nachbarn, als der Anruf aus dem Krankenhaus kam. Ich saß vor der Sesamstraße und verstand die Welt nicht mehr. Also betete ich. Ich dachte, wenn einer jetzt was tun kann, dann der Gott. Aber er tat nichts. Es war zu spät. Ich glaube, ich habe es ihm nie verziehen.“

      „Wem? Deinem Vater, dass er so früh gegangen ist, oder Gott, dass er nichts getan hat?“

      „Beiden.“

      Nick schwieg kurz. Dann lachte er. „Dann ist es ja nur gerecht, Louischen, dass du