Isabel Ackermann

Wie starb Murdock?


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wissen will, wie jemand gestorben ist, muss man schauen, wie er gelebt hat, richtig? Ich werde jetzt Stepheny besuchen und mir dabei einen Einblick in Murdocks Leben verschaffen.“ Louise blinzelte Nick zu. „Kommst du mit?“

      „Nee, geh mal und berichte mir dann. Sonst fühlen sich die Mowigs so überfallen. Und wir sehen aus wie ein albernes Ermittlerduo.“

      Nick hatte seinen Laptop hochgefahren. Er skypte regelmäßig mit seinen Eltern, meist einmal in der Woche. Kurz vorher war er immer schlecht gestimmt. Er hasste es, etwas vor ihnen zu verbergen. Aber noch mehr hasste er es, seine Mutter zu belasten. Also holte er einmal tief Luft, täuschte ein strahlendes Grinsen vor, schaute Louise an und fragte mit sich kaum bewegenden Lippen: „Geht das so? Wirkt das gesund, frei und übermütig?“

      Louise sah ihn lange an und schüttelte dann den Kopf. „Nick. Nicki. Meinst du wirklich...? Ach, mach. Bist alt genug.“

      Und sie verschwand.

      Kaum hatte sie Mowigs Garten betreten, fühlte sie sich wie in einer anderen Welt. In einer sauberen (Louise hatte den Impuls, sich schon im Garten die Schuhe auszuziehen, so sauber war er – und so besudelt fühlte sie sich im Vergleich). In einer geordneten. In einer leblosen. Der Garten war prachtvoll, ja: Die blickdichten Hecken wie mit dem Lineal beschnitten, die üppigen Blumenbeete setzten an genau den richtigen Stellen die passenden Farbtupfer. Unkraut fand man keines. Die Gestalter dieses Gartens schienen alle Eigendynamik der Natur, jeden unkontrollierbaren Lebenswillen so sehr zu fürchten oder zu hassen, dass sie ihm mit der künstlichen Ordnung ein starkes Korsett auferlegten. Vielleicht war auch alles aus Plastik? Tiere gab es bestimmt keine in diesem Garten. Vermutlich noch nicht mal Würmer und Käfer.

      Louise konnte verstehen, dass Murdock lieber umhergestreunt war als sich in diesem Garten aufzuhalten.

      An der Haustür angekommen spreizte sie ihren Zeigefinger ab, um auf die Klingel zu drücken. MOWIG stand dort in Edelstahllettern. Doch bevor sie den Knopf erreichte, sprang die Tür schon auf. Stepheny schaute verwundert zu Louise hoch und fragte unumwunden: „Was willst du denn hier?“

      „Fakten sammeln. Wenn man wissen will, wie jemand gestorben ist, muss man schauen, wie er gelebt hat. Zeig mir doch mal Murdocks Reich.“

      „Ich muss erst fragen, warte.“

      Steph ließ den Gast vor der Tür stehen. Louise mochte das Haus ebenso wenig wie den Garten. Die weiße Villa hatte schwarze Fenster mit dunklen ge-schwungenen Gittern davor. Ihr Unbehagen wuchs, als sie auf das Mädchen wartete.

      Die Tür öffnete sich ein zweites Mal, dieses Mal betont langsam. Frau Mowig, eine sehr große Frau Anfang vierzig, gab sich gelangweilt bei der Begrüßung. „Guten Tag, Frau...Louise.“ „Kern.“, stellte diese sich vor.

      „Ja. Was kann ich für Sie tun?“

      ‚Sie können gar nichts für mich tun, SIE haben IHR Kind zu mir geschickt, damit ich ihm über den Verlust seines Katers hinweghelfe, schon vergessen??’, brüllte es in Louise. Doch sie beherrschte sich. ‚Was du kannst, kann ich auch’, dachte sie, richtete sich auf und setzte ein überfreundliches Lächeln auf.

      „Ihr Kind wandte sich in seiner Verzweiflung wegen des tragischen Vorfalls mit Ihrer Katze an mich. Es ist Stepheny wichtig herauszufinden, ob Mutwille hinter dem Tod Murdocks steckt. Ich habe mich bereit erklärt, ihr dabei zu helfen. Deshalb bin ich hier. Ich möchte einige Fakten sammeln. Hatte Murdock schlechte Angewohnheiten, die zum Beispiel einige Nachbarn erzürnt haben könnten? Solche Fragen würde ich gern kurz klären.“

      Frau Mowig lächelte spöttisch. „Ich sagte es Stepheny ja schon... Wenn jemand für so etwas Zeit haben sollte, dann Sie.“ Sie nickte Louise kurz zu, um ihr anzuzeigen, dass sie herein kommen dürfe und wandte sich noch in dieser Bewegung ab. Ihr schwarz schimmernder Hausmantel wallte um die nackten Beine und die Zigarette in ihrer rechten Hand hinterließ kalten Rauch.

      „Ehrlich gesagt, Frau Mowinkel, habe ich nicht viel Zeit. Gar nicht mehr viel Zeit. Aber es gibt Dinge, für die muss man sich einfach Zeit nehmen!“ Louise hatte laut gesprochen und hoffte, dass die Frau sie noch verstanden hatte. „Mowig, wenn ich bitten darf.“, korrigierte diese aus dem Nebenraum, und ihre Stimme verriet, dass sie die Kritik zumindest wahrgenommen hatte.

      Jetzt erst registrierte Louise wieder das Kind, das reglos dabei gestanden hatte. „Kommst du mit in mein Zimmer?“, fragte Steph und schlich leise die Treppe hoch, ohne eine Antwort abzuwarten.

      Stephenys Zimmer war groß, fast ein Saal. Zu Louises Erstaunen fühlte sie sich sofort wohl in diesem Raum. Er war wie eine Oase der Lebendigkeit inmitten eines sterilen Krankenhauses. Eine wohltuende Unordnung verriet, dass hier jemand lebte, der spontan war, Ideen hatte und nicht immer das tat, was man von ihm erwartete. Ein riesiges Kasperletheater stand in der einen Ecke, unzählige Handpuppen, meist Tiere, lagen überall im Raum verstreut.

      Stepheny warf sich auf ein großes Kuschelsofa. „Setz dich!“, forderte sie Louise auf und deutete auf einen dazugehörigen Sessel.

      „Boa, dein Zimmer ist toll! Ganz anders als der Rest des Hauses...“, rutschte ihr noch raus. Aber Stepheny verstand. „Ja, dieser Raum gehört nur mir. Meine Omi hat ihn zusammen mit mir eingerichtet. Und wir haben das Kasperletheater da gebaut. Letzten Sommer. Das hat total Spaß gemacht!“

      „Ich hätte nicht gedacht, dass deine Mutter dir erlaubt, nicht jeden Tag aufzuräumen.“

      „Tut sie auch nicht. Aber meine Eltern kommen hier nicht rein. Kann mich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal hier drin waren... Doch, als ich den Magen-Darm-Virus hatte und Elena nicht da war. Elena ist unser Hausmädchen.“

      Einen Moment lang war Louise sprachlos. ‚Bin ich hier im Märchen? Erst dieser unwirkliche Garten, dann die Hexe an der Tür, dann das Aschenputtel hier vor mir...’, dachte sie verwirrt.

      „Und wer bringt dich ins Bett?“

      „Murdock... früher“, sagte Stepheny leise. Louises Wut auf die eingebildete Frau mit der stinkenden Zigarette wuchs. Der Blick des Mädchens fiel auf ein großes, gerahmtes Foto, das es mit seinem Kater zeigte. Er kuschelte seinen hübschen Kopf an Stephenys Wange und hatte die Augen halb geschlossen. Das Kind auf dem Bild strahlte.

      „Siehst du deine Omi oft?“

      „Ja.“, Stepheny lächelte schwach. „Sie kommt dreimal die Woche. Nachmittags, wenn Elena nicht kann.“ Louise war erleichtert, das zu hören. ‚Wenigstens einen Menschen hat sie, der sie so liebt, dass sie es merkt.’, dachte sie.

      „Murd war gern hier. Wenn er zuhause war, dann immer nur in diesem Raum. Er schlief hier und hatte seine Schälchen hier. Es gibt eine extra Abtrennung hier hinten, eine Art Katzen-WC-Raum, hier siehst du? Da stand sein Klo. Und hier habe ich auch seinen Futtervorrat gelagert.“

      Der Raum sah aus wie ein nobles Gäste-WC, mit Fenster, Tapete und Waschbecken und sogar mit einem echten WC, in dem Steph die Katzenkacke entsorgen konnte.

      „Hier kam er auch immer raus und rein.“ Steph deutete auf das schräge Dachfenster. „Es war immer offen, Sommer wie Winter.“

      „Hmm. Ein Katzenparadies. Weißt du, ob er irgendwelche dummen Angewohnheiten hatte? Graben in Nachbars Garten oder so etwas?“, fragte Louise und zückte einen Stift.

      „Nein, alle mochten ihn. Hab nie was gehört. Außer von Mama natürlich. Am Anfang hat er ein paar Mal in den Garten gekackt. Mama hat vor Wut geschrien und ihn am Nacken gepackt und geschüttelt. Weißt du, Murd war sehr schlau. Er hat schnell kapiert, dass er das besser nicht wieder macht. Und dann war Mama auch wieder ruhig.“

      Louise kritzelte etwas in ihren Notizblock.

      „Hmm. Okay. Hier kommen wir erst mal nicht weiter. Lass uns noch mal zurückgehen zu diesem schrecklichen Tag und den Tagen davor. Versuch dich zu erinnern, ob du das Auto oder den Fahrer nicht doch etwas genauer beschreiben kannst.“

      Stepheny setzte sich wieder und stützte ihr Kinn auf die Hände. Ihre Stirn runzelte sich. Eine Minute lang sagte sie nichts.