herzlich die Herren Lewin und Scherwarth!“
Herr Lewin hatte mit mir gemeinsam die Kurse gegen allerlei amtsinterne Widerstände ins Rollen gebracht. Noch immer – nach zweieinhalb erfolgreichen Vermittlungsjahren – arbeiteten einige Leute im arbeitsamtlichen Hintergrund aus unerfindlichen Gründen gegen unsere Maßnahmen. Sein Kollege Scherwarth hatte die Erfolgsquoten unserer Kurse stets verfolgt, und so war auch er einer unserer besten Stützen in den Bewilligungsverfahren.
Hoffnungsvoll war ich wegen der Teilnahme des Vertreters aus der Chefetage des Landesarbeitsamtes Hessen, Dr. Hauschild, den ich nach dem Bürgermeister nach vorne bat. In seiner Rede ging er äußerst sachkundig auf die neu entstehenden Arbeitsplätze ein. Er verstand es, anschaulich und in verständlichem Amtsdeutsch die Arbeitsmarktsituation und den Zusammenhang zwischen notwendigen innovativen Arbeitsplätzen und sich entwickelnder Umwelttechnologie, bedingt durch zunehmende Umweltproblematiken, darzulegen. Zudem gab er bereits einen entscheidenden Hinweis auf die Zukunft, indem er auf die Exportchancen von Umwelttechnologien verwies. Damit griff er genau meine Argumentation auf, die ich damals, zu Beginn meines Start-ups im Oktober 1986, zur Begründung im GTU-Förderantrag angeführt hatte. Im Offenbacher Amt hatte man mich dafür noch prächtig ausgelacht. Dr. Hauschild aber hatte die Zeichen der Zeit verstanden. Dass sich in seinem Hause der Wind je drehen könnte, war an diesem Tag noch nicht zu erkennen.
Natürlich war die Stadt Frankfurt mit einem Grußwort des Oberbürgermeisters und dem Leiter des Umweltschutz-Referates, Herrn Tesar, vertreten. Eine Vertreterin des Hessischen Umweltministeriums gratulierte uns und wünschte uns Erfolg in unserem Vorhaben. Zwei Wochen später übersandte sie uns einen Förderbescheid für Laborinvestitionen in Höhe von 50.000 Mark. Es war eine handfeste Überraschung. Zwischen den Reden wurden wir von unserem Streichquartett »Belle Epoque« mit modern interpretierter klassischer Musik unterhalten. Fünfzehn Jahre früher hätte ich nur die Stones hören wollen.
Professor Wicke vom Umweltbundesamt plädierte in seinem Vortrag für ein offensives Umweltmanagement: „Umweltschutzmaßnahmen werden – selbst bei Einsicht in die ökologische Notwendigkeit – oft als volks- und betriebswirtschaftlich höchst unrentable Investitionen angesehen, die viel Geld kosten, aber keinen ökonomischen Nutzen stiften. Aufgrund neuerer Forschungen kann im Gegenteil nachgewiesen werden, dass verstärkte sinnvolle und durchdachte Umweltschutzmaßnahmen volkswirtschaftlich hochrentierliche Zukunftsinvestitionen sind: Für jede Million, die in diesem Sinne in Umweltschutzmaßnahmen investiert wird, erhält man einen volkswirtschaftlichen »Erlös« von drei Millionen in Form von ersparten Umweltschäden.“
Nach pausenreichen zweieinhalb Stunden war der Redenmarathon abgeschlossen, und endlich konnte ich das Buffet eröffnen. Emma und ich hatten die gesamte Programmabfolge so geplant, dass man den Vormittag entspannt genießen konnte. Nur in meinem einsamen Inneren ging es aufgeregt wie in einem Hühnerstall zu, in den gerade Reineke Fuchs hineinschaute. Emma, die neben mir saß, spürte dies und ließ mich gelegentlich ihre beruhigende Hand auf meinem Arm spüren. Während des Buffets und danach führte uns der Künstler Philipp Heckmann durch seine Gemäldeausstellung. Kursleiter Lutz stellte unsere über 2000 Umweltbände umfassende Bibliothek vor, und gegen fünfzehn Uhr beschlossen wir die Feierlichkeit erschöpft, aber glücklich und zukunftsfroh.
Lebenselixiere
Überhaupt nicht zukunftsfroh fühlte sich zu dieser Zeit mein früherer Freund. Veit schreckt hoch aus seinen Gedanken, als der Fahrer den Kleinbus startet. Heute kann er das erste Mal das Krankenhaus verlassen. Man hat ihn samt seinem Rollstuhl mit einer Hebebühne an der hinteren Tür in den Bus hinein gehievt und mit vier Gurten den Rollstuhl festgezurrt. Fast zwei Monate sind vergangen. Eine lange Zeit, wenn man sie im Krankenhaus verbringen muss. Vor fünf Wochen hatte er das Einzelzimmer gegen ein Zweibettzimmer tauschen müssen, weil er von der Intensivstation in die Trauma-Abteilung verlegt worden war.
Erst war er darüber unglücklich gewesen, aber dann hatte er dort seinen fünfzig Jahre älteren Bettnachbarn kennen und schätzen gelernt. Der über Achtzigjährige steckte voller Elan und war immer guter Dinge. Er war gestürzt und hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Aber schon kurz nach der OP forderte Herr Brück den Physiotherapeuten heraus und wollte unbedingt wieder laufen lernen. Veit hatte seine Hände vor dem Kopf zusammengeschlagen, was halbwegs gelang. Das ging, obwohl sein gebrochener Arm inzwischen zwar abgeheilt, aber steif war. Im Grunde war sein rechter Arm noch immer kaputt und niemand konnte ihm sagen, ob er ihn je wieder gebrauchen konnte.
Was er sich denn so aufrege, hatte Herr Brück ihn gefragt. Was daran verwerflich sei, wenn er mit seinen 84 Jahren baldmöglichst wieder in die Pötte kommen wolle. Viel Zeit bliebe ihm doch nicht! „In die Pötte kommen“, hatte der alte Mann tatsächlich gesagt. Veit wiegte erst bedenkenschwer den Kopf, dann dachte er daran, dass auch von ihm, kaum eine Woche nachdem er von seinem verhängnisvollen Sprung aufgewacht war, schon Physiotherapie-Übungen erwartet worden waren. Und das nannten sie Rehabilitation – ein Wort, das in seinem Fall doch wohl kaum mehr beinhalten konnte, als aus dem Bett zu steigen und sich in seinen Rollstuhl hinüber zu wuchten.
Niemand hatte ihn gefragt, ob er überhaupt gerettet werden wollte. Welcher Chirurg hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihn am Leben zu erhalten? Warum hatte man ihn nicht in Ruhe sterben lassen? Was gab es jetzt noch Lebenswertes? Welcher ärztliche Lackaffe glaubte, ihn dazu benutzen zu dürfen, sich mit einer medizinischen Glanzleistung schmücken zu können? War er denn das Versuchskaninchen für die Wissenschaft?
Dank dieses medizinischen Wissens war Veit mit zwei zugenähten Beinstümpfen und diesem fast unbrauchbaren Arm aufgewacht. Offenbar war für die menschlichen Roboter, die rund um sein Bett standen, nur wichtig, dass er noch atmete, dass sein Herz noch schlug und Blut durch seine Gefäße floss. Klar, die OP war gelungen, aber jetzt sollte Veit wohl selber sehen, was er mit all dem Rest an Funktionen und Körperteilen noch anfangen konnte.
Heute wird er in die weiterführende Reha-Klinik verlegt. Ob es weiterführt, wird er erst noch sehen müssen. Er schaut während der Fahrt auf die neben ihm dahinfliegenden Gehwege. Wie waren diese Wege in der Vergangenheit hurtig unter seinen Füßen dahingeglitten. Noch knapp vor einem Vierteljahr, in der Woche vor Silvester, war er bei der winterlichen Kälte Marathon gelaufen. Er erinnert sich plötzlich, wie geschmeidig und wohltuend entspannt er an jenem Mittwoch gelaufen war, nur fünf Tage vor seinem Sprung ins Gleisbett.
Jetzt erstaunt es ihn, wenn er daran denkt, wie er jenen Lauf damals empfunden hatte: Es war einer seiner besten Läufe überhaupt gewesen. Hatte er vielleicht in seinem Unterbewusstsein geahnt, dass es sein letzter Marathon sein würde, ein Abschied für immer? Und hatte das dafür gesorgt, dass er sich bei diesem letzten Mal beflügelt und wie von unsichtbarer Hand voran geschoben fühlte – ganz ohne auf den letzten hundert Metern hecheln zu müssen? Es war ein Abschiedsgeschenk, denkt er nun im Kleinbus und schaut auf die neben ihm dahinfliegende Landschaft.
Wann hatte er zum letzten Mal das Fitness-Studio besucht? Es muss in derselben Woche zwischen den Jahren gewesen sein. Schon einen Tag später hatte er im Schwimmbad fünfzig Bahnen gezogen – ganz im Rhythmus seiner sportlichen Aktivitäten, die ihn vor den Depressionsanfällen bewahren sollten. Der Gedanke an seine körperlichen Kapazitäten und seinen geliebten Sport lässt ihn frösteln. Denn er ist unterwegs in eine Zukunft, von der er sehnlichst erwartet, dass sie bald beendet ist. Wenn er schon als Athlet auf eine Zukunft verzichten muss, so will er erst recht keine Zukunft als Krüppel. Wie in aller Welt sollte er ohne Beine, angewiesen auf einen Rollstuhl, existieren können? War das eine lebenswerte Existenz? Eine Existenz in Würde?
Veit musste plötzlich an jene impulsiv-spontanen, herrlich-kreativen 60er und 70er Jahre denken, als er jung und mutig und zukunftsfroh war. Schon immer wollte er in Solidarität leben, wollte mit den vielen anderen aus seinen Wohn- und Lebensgemeinschaften, aus den politischen Foren und gewerkschaftlichen Organisationen ein neues freies Land aufbauen. Ein Land ohne den Terror des Kapitals, ohne Werbe- und Konsum-Dauerberieselung, aber auch ohne den Terror der RAF und ohne die ideologische Berieselung der diktatorischen K-Gruppen, deren großmäulige „ZK“-Mitglieder inzwischen in feine bundesdeutsche Staatsämter gelangt und den Amis in den Arsch gekrochen waren.