Energie erlahmt? Veit war ein Gemeinschaftsmensch, aber dann hatte ihn trotz seiner Liaison mit Mariola die Einsamkeit erdrückt, von Tag zu Tag mehr. Dann kam die Trennung, und die Einsamkeit wurde zur unerträglichen Last. Seine Arbeit und seine Kolleginnen und Kollegen konnten diese Art Einsamkeit nicht mildern.
In seinem tiefsten Inneren war er noch immer voller – wenn auch längst verschütteter – Hoffnung, ein gescheiterter Idealist. Wie schon damals, vor lange vergangenen Zeiten, wollte er den Hunger in der Dritten Welt beseitigen, indem er seine Mitbürger über den westlichen Neokolonialismus aufklärte. Er selbst hatte in Afrika ein Hilfsprojekt geleitet. Aber wo war sein Land heute gelandet? Veit hatte keinen Bock mehr auf diese heuchlerische und korrupte Gesellschaft, in der sich sogenannte Antiimperialisten von früher mit den Real-Imperialisten von heute verbündeten und zusammen einträgliche Geschäfte machten. Selbst bei den Grünen sah er, wie sich deren Fahne im Wind drehte. Es drehte sich alles nur noch und immer wieder um Geld, Geld und nochmal Geld. Er hasste den Tanz um das Goldene Kalb.
Er brauchte keine Sekunde darüber nachzudenken, dass er sich so schnell wie möglich ein weiteres Mal aus dieser Gesellschaft mit diesem miesem Leben verabschieden würde. Diesmal wollte er es besser machen. Diesmal ohne zögerliche jahrelange Vorbereitungen, ohne Versuche, ohne Fehleinschätzungen, ohne Dramen und ohne im Anschluss des Misslungenen sogar noch eitlen Chirurgen zu ihrem OP-Stolz zu verhelfen.
Und dann muss er wieder an den alten Mann denken, der bisher sein Krankenzimmer mit ihm geteilt hatte. Der Mann war trotz seiner vierundachtzig Jahre noch immer lebensfroh und zuversichtlich. Ein Witz? Eine Parodie auf sein, Veits, versautes Leben? Veit schüttelt den Gedanken an den alten Zimmergenossen ab, dessen frohe Gemütslage ihn frustriert.
Für ihn, so scheint es ihm gewiss, ist das Zeitalter der „absoluten Sinnlosigkeit“ angebrochen. Es folgt auf das Zeitalter der „schrecklichen Ernüchterung und des Zögerns“, wie er es für sich benennt, jener Zeit vor dem Sprung aufs Gleisbett. Nun ist nicht mehr nur sein Geist wie gelähmt, nun ist auch sein Körper nicht mehr beweglich. Er liegt sinnlos im Bett. Tagein, tagaus. Veit kann es nur noch mit Betäubung durch Morphin ertragen. Andererseits will er den Kopf frei haben für die Planung, um dem Schrecken ein endgültiges Ende zu bereiten. Aber wie? Brauchte es dazu nur Kreativität oder doch dieses Lebenselixier des Kapitalismus, jede Menge Geld? Ein Lebenselixier, um den Tod zu ermöglichen?
Mein Bruder rief an. Es ging um Geld. Um großes Geld. Ob wir Geschwister uns nicht bald mit den Eltern treffen könnten. Er hätte erfahren, dass bei einer Erbschaftssache saftige Steuern anfielen. Wenn man die Dinge vorab kläre, dann sei einiges zu sparen. Unsere Schwester Ulla und er hätten kommendes Wochenende Zeit. Ob ich auch Zeit habe, und wenn ja, dann möge ich die Eltern fragen und ihm Bescheid geben. Er würde unsere Schwester dann informieren. Das Gespräch sei allerdings nur für uns und ohne Partner angedacht.
Das war einleuchtend. Auch war ich froh, dass dadurch mein unfreundlicher Schwager nicht dabei war, der im Familienkreis bisher nicht gerade als Friedensstifter aufgefallen war. Wegen der steuerlichen Vor- oder Nachteile machte ich mich bei meinem GTU-Mitgesellschafter und Steuerberater Ronny kundig.
„Das ist Quatsch“, meinte Ronny. „Was gibt es denn bei deinen Eltern zu vererben? Doch nur das Haus in Bornheim, oder?“
„Ja.“
„Da fällt keine Erbschaftssteuer an. Es teilt sich ja unter euch dreien auf, und jeder von euch hat einen Freibetrag. Deine Geschwister haben andere Beweggründe, und das ist auch nachvollziehbar.“
„Nämlich?“
„Stell dich nicht dümmer als du bist. Denk mal nach.“
„Du meinst, weil ich mit meiner Familie im Haus wohne?“
„Genau. Es ist doch so, dass deine Eltern dir vielleicht aus Dankbarkeit, weil ihr euch um sie kümmert, das Haus alleine vermachen könnten. Das würden deine Geschwister gewiss nicht als fair empfinden.“
Mit finanzieller Hilfe der Eltern hatten sich mein Bruder und Ulla bereits vor Jahren ihr Eigenheim aufbauen können; Günter hatte auch meinen Bausparvertrag nutzen dürfen, denn ich hatte damals – noch als Student – nicht im entferntesten vor, jemals zur Gattung der Hausbesitzer zu gehören. Ich dachte über Ronnys Worte nach und musste ihm Recht geben.
„Außerdem ist es doch ganz in deinem Sinne, dass Klarheit herrscht“, sagte Ronny. „Schließlich hast du bisher mit all diesen Umbauten 150.000 Mark in das Haus gesteckt. Und Du hast keinerlei Sicherheit, dass es dir letztendlich zugutekommt.“
„Dafür wohne ich ja auch in den Umbauten, nutze sie ab.“
„Ja“, sagte Ronny, „das stimmt, aber keiner von euch weiß doch, wann das Haus vielleicht einmal veräußert wird, und du hast ja einseitig nicht nur für den Werterhalt, sondern auch zu einer Wertsteigerung beigetragen. Oder haben deine Geschwister etwas investiert?“
„Das nicht. Aber ich habe sie ja auch nicht um Zustimmung zu den Umbaumaßnahmen gefragt, sondern sie lediglich informiert.“
„Aber du hast doch deine Eltern wegen der baulichen Maßnahmen, als es um die neue Wohnraumschaffung im Souterrain ging, gefragt, oder?“
„Na klar.“
„Na ja, und sie waren und sind noch die Eigentümer und haben zugestimmt. Du hast also zur Wertverbesserung beigetragen, aber daraus keine grundbuchrechtlichen Sicherheiten erhalten. Dann kann ein Gespräch in dieser Sache euch allen nur dienlich sein.“
„Aber wie müssen sich meine Eltern fühlen? Vater geht es gerade nicht besonders gut. Die beiden kommen sich vielleicht abgeschrieben vor, so als hätten sie ausgedient und müssten jetzt ihr geliebtes Heim aus der Hand geben … so, als würden sich ihre Kinder nun um das vorzeitige Erbe reißen.“
„Hör dir erst einmal an, ob deine Geschwister noch andere Argumente für ihren Wunsch vorbringen und versucht dann gemeinsam, die Erbschaftssache so zu regeln, dass sich eure Eltern nicht entmündigt fühlen.“
Am Wochenende schilderten Ulla und Günter meinen Eltern und mir, dass es aus steuerlichen Gründen zweckmäßig sei, sich schon vor Eintritt des Erbfalles Gedanken um eine Überschreibung zu machen. Wenn dies zum Beispiel in Form einer Schenkung geschehe, sei bei der hier anzunehmenden finanziellen Größenordnung nicht mit Schenkungssteuer zu rechnen.
Ich schwieg zu den vorgebrachten Argumenten und stellte auch die Sache mit der vorgeschobenen Erbschaftssteuer nicht richtig. Ich sah mir die Reaktion der Eltern an. Sie waren nicht erschüttert oder sonst wie unangenehm berührt. Das war schon einmal beruhigend. Wir tranken dazu einen Tee, den Lollo vorbereitet hatte, und diskutierten noch eine Weile zur Sache.
Lollo und Otto waren gerne bereit, uns bereits zum jetzigen Zeitpunkt ihr Haus zu überantworten.
„Wir können uns sowieso nicht mehr um all das drumherum kümmern“, sagte mein Vater. „Stefan macht die Steuererklärungen, sieht nach der Haustechnik, bestellt Heizöl und Handwerker, wenn nötig, er kümmert sich um die ewig nörgelnde Ria und hilft uns im Alltag.“
„Wenn ihr das Haus übernehmen und erhalten wollt, dann wäre ja auch eine gewisse Verantwortung von unseren Schultern genommen“, meinte Mutter. Aus ihren Worten sprach einmal mehr ihre liebevolle, schwäbisch-diplomatische Art. Wir alle wussten, wie sehr sie an ihrem Elternhaus hing. Insgeheim waren ihre Worte auch an Otto gerichtet, damit auch ihm der ideelle „Abschied“ vom Haus, das er jahrzehntelang erhalten hatte, leichter fiel.
Ich hatte den Eindruck, dass unsere Eltern überhaupt nicht traurig oder mitgenommen waren. Günter, Ulla und ich unterhielten uns anschließend über die günstigste Form der Übertragung. Als Dreiergemeinschaft wollten meine Geschwister das Haus nicht übernehmen, weil ich darauf bestand, dass in diesem Fall mein eingebrachter Eigenanteil in Höhe von 150.000 Mark im Grundbuch dokumentiert werden sollte.
„Dann bleibt die Frage, wer von uns das Haus zu übernehmen bereit ist“, sagte ich.
Günter schlug vor, dass man als nächstes eine Verkehrswertschätzung einholt, damit eine Orientierungsgrundlage vorhanden