sich allmählich auf und mit ihnen verwandelt sich der Schatten, der immer deutlicher als eine konkrete Person in einem weißen Kittel zu erkennen ist. Die Frau ist eine Krankenschwester, wie Veit vermutet hatte, und sie drückt ihm jetzt einen Stift in die Hand und hält ihm einen Schreibblock hin.
Veit strengt sich übermenschlich an. Ganz langsam, unregelmäßig auf dem Papier abrutschend, kristallisiert sich ein Wort heraus: »Kaff …«.
„Wünschen Sie Kaffee?“, fragt die Schwester.
Veit versucht zu nicken und weiß nicht, ob sie es sieht.
„Du brauchst jetzt nichts sagen“, sagt plötzlich eine ihm sehr bekannte Stimme. „Veit, kannst du mich sehen und meine Stimme erkennen?“, fragt die Stimme, die früher, in seinem anderen Leben, zu seiner Freundin gehört hatte.
Die Stimme kommt von der anderen Seite des Krankenbettes. Er dreht den Kopf zu ihr.
Ja, ich nehme dich wahr!, will er sagen. Obwohl es sinnlos ist, versucht er es.
„Liebster, ich bin es, Mariola; du brauchst nichts zu sagen“, sagt sie leise. „Es geht noch nicht mit dem Sprechen, weil du einen Schlauch im Mund hast. Aber ich bin hier mit deinen Eltern.“
Wer hat sie informiert?, denkt Veit. Er will dringend etwas fragen und schreibt »Bein« auf den Schreibblock, den jetzt Mariola festhält, während seine Mutter ihm den Stift abnimmt und seine Hand hält. Dann hört er seine Mutter sagen: „Mein Sohn, wir müssen dir sagen, dass deine Beine nicht mehr da sind.“
Veit glaubt, sie nicht richtig verstanden zu haben. Wie können seine Beine weg sein, während er noch lebt?
„Die Bahn ist über deine Beine gefahren und sie sind weg“, sagt seine Mutter und streichelt ihm die Hand.
Er erkennt seinen Vater, der hinter der Mutter steht und still weint, aber nichts sagt. Veit ist schockiert und von der Vorstellung, ohne Beine zu sein, völlig überrascht. Auch er weint jetzt, beruhigt sich aber gleich darauf wieder. Er will es seinen drei Besuchern nicht so schwer machen. Die Schmerzpumpe, an die er angeschlossen ist, verhindert eine totale Panikattacke.
Mariola nimmt jetzt den Platz der Krankenschwester ein und streichelt über Veits Wange. „Alles wird wieder gut“, sagt sie. „Wie früher. Du bist ein Kämpfer und schaffst es auch im Rollstuhl.“
Veit nickt, und beiden läuft eine Träne die Wange hinunter. Die Krankenschwester kommt ins Zimmer und bringt den Kaffee mit einem Strohhalm, aber Veit mag nicht mehr. Er ist angekommen bei Kapitel Null seines neuen Lebens.
Ein Jahr später wird er mir davon berichten.
Und ich düse, düse im Sauseschritt
Salman Rushdie ist ein indisch-britischer Schriftsteller, und ich weiß, dass er zu den zeitgenössischen Vertretern der britischen Literatur gehört. Ich mochte seine Erzählungen nicht sonderlich.
„Literatur ist Geschmackssache, daran kann man nicht rütteln“, antwortete ich in der Saunarunde mit unseren Nachbarn, als Gunnar mich fragte, was ich von Rushdie halte.
„Ich meine doch nicht seine Literatur“, sagte Gunnar.
„Und ich meine nur seine Schreibe“, antwortete ich. „Irgendwie komme ich damit nicht klar. Seine Erzählungen schwanken zwischen einer Märchenwelt und unserer Wirklichkeit, sodass ich manchmal nicht weiß, worum es sich handelt. Sein Stil ist mir einfach zu anstrengend. Ich lese gerne, um mich zu entspannen. Wenn dabei etwas Wissen abfällt, umso besser. Rushdie ist da nichts für mich.“
„Ja, er vermischt Mythos und Fantasie mit dem realen Leben. Dieser sogenannte »magische Realismus« ist nicht jedermanns Sache, okay.“ Gunnar läuft der Schweiß über das Gesicht, und er schaut auf das Thermometer. „Wir haben hier drin 86 Grad, puh.“
Im Iran hat Ajatollah Khomeini alle Moslems zur Ermordung von Rushdie aufgerufen. Fatma heißt das auf Islamistisch, das klingt irgendwie sachlicher. Der Autor hätte mit seinem Roman „Die Satanischen Verse“ den Propheten Mohammed verunglimpft.
„Jetzt sind wir schon so weit, dass die religiösen Fanatiker im Ausland unsere Schriftsteller im Westen bedrohen und zum Abschuss freigeben. Wo wird das noch enden?“, empörte sich Tobias.
Auch mir war es zu heiß, und ich stieß die Sauna-Tür nach außen auf, um mich gleich unter der eiskalten Schwalldusche abzukühlen.
Tobias und seine Frau Anne waren stark christlich ausgerichtet, und natürlich lag er mit seiner Bemerkung richtig. Spontan dachte ich dennoch an jene radikalen Christen, die Abtreibungen für Teufelswerk hielten. Sie scheuten sich nicht davor, selbst vergewaltigten minderjährigen Mädchen und deren Abtreibungsärzten mit Tod und Teufel zu drohen. Sie fügten ihnen, ohne mit der Wimper zu zucken, seelischen und körperlichen Schmerz zu, weil nach ihrer fanatischen Auffassung der heranwachsende Fötus unbedingten Vorrang habe – selbst unter Bedingungen einer Vergewaltigung.
Ich hielt meine Meinung zurück, weil der Vergleich in diesem Fall hinkte. Es war freilich etwas ganz anderes, wenn ein Staatsführer seine weltweite Anhängerschar zu einem gezielten Mord aufrief.
„Salman Rushdie wird sich ein Leben lang verstecken müssen“, sagte ich. „Ein Leben in der persönlichen und materiellen Isolation. Schrecklich!“
„Schon gehört? In Ungarn verzichten die Kommunisten auf ihren Führungsanspruch. Freiwillig!“, wechselte Gunnar das Thema.
„Und die Volkskammer hat den ständig in der DDR lebenden Ausländern, den Mozambikanern, Vietnamesen und Kubanern das aktive und passive kommunale Wahlrecht eingeräumt“, sagte ich, da mir Tamara aus Ostberlin gerade einen Brief geschrieben hatte, in dem sie darauf hinwies. Ich verstand ihre Anspielung, denn wir hier in der BRD taten uns noch schwer mit der Integration, insbesondere mit der kommunalen Wahlbeteiligung unserer Gastarbeiter und ihrer Nachfolge-Generationen.
„Na, heute sind wir ja allumfassend über das wichtigste Weltgeschehen informiert“, lachte Gunnars Frau Moni. Und dann legte sie in ihrer unverwechselbaren mütterlichen Art nach und kam auf das Thema Kindererziehung zu sprechen.
Wie so oft ging es auch heute wieder einmal bei den Frauen um das Leistungsprinzip bei unseren Kids. Was durfte man von den Kleinen fordern, was war eine Überforderung? Sie diskutierten in der Küche, wo sie die Salate für unser gemeinsames Essen nach der Sauna vorbereiteten.
Bei uns Männern ging es um die Haare. Wir wussten ja noch, wie bescheuert damals der Kampf um die Haarlänge gewesen war. Aber unser Diabetologe Tobias, Jahrgang 1958, legte bei seinem siebenjährigen Jungen immer noch auf „gepflegte kurze Haare“ Wert – wie die Alten anno dazumal, über die ich mich als Sechzehnjähriger 1966 so schrecklich aufgeregt hatte.
„Und was hält Felix von gepflegten kurzen Haaren?“, fragte ich grinsend.
„Nichts. Er hört einfach nicht auf mich.“ Tobias zuckte mit den Schultern, um damit zu zeigen, dass er ratlos war.
Stefan, unser Jungschauspieler, mischte sich in die Diskussion ein. Aber war er eigentlich noch ein Jungschauspieler? Inzwischen war er immerhin 29 Jahre alt und seit sieben Jahren auf der Bühne. Wir waren gewohnt, dass Stefan kein Blatt vor den Mund nahm. „Felix hat alles, was er an materiellen Dingen braucht. Aber ein Kind benötigt mehr als nur das. Es muss sich entfalten und braucht dazu die angemessene Freiheit“, sagte er.
Ich verstand Stefans Hinweis als den Seitenhieb eines zehn Jahre Jüngeren gegen uns Alte. Insbesondere als einen Seitenhieb sowohl gegen Tobi als auch gegen Gunnar, der seinen siebenjährigen Sohn Philip enorm gängelte und in ein elterlich gestricktes Ordnungssystem zu pressen versuchte. Unwillkürlich kam mir Gunnars Schubladensystem, an dem sich sein Sohn Philip strikt zu orientieren hatte, in den Sinn.
Tobias sah Stefan verwundert an. „Wie meinst du das?“
„Erinnert euch mal an eure eigene Jugend“, erklärte Stefan. „Eltern wissen doch angeblich immer, was für ihre Kids gut und richtig ist.