Stefan Koenig

Blühende Zeiten - 1989 etc.


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      Ich nahm mir vor, in den nächsten Tagen die Eröffnung des Umweltzentrums Rhein-Main auch inhaltlich exakt vorzubereiten. Meine Rede musste ich endlich konzipieren. Nächste Woche würde ein neues Umweltunternehmen unter dem Dach der GTU in Angriff genommen. Vier Dozenten hatten sich selbständig gemacht und das Umweltinstitut Offenbach als GmbH gegründet. Sie wollen Planungsaufgaben, Gutachten und Laboranalysen für Kommunen, für Klein- und Mittelbetriebe anbieten.

      „Wir werden eine tolle Kooperationsgemeinschaft bilden“, hatte ich zu Emma gesagt.

      „Aber wie willst du die Lehrkräfte auf Dauer ersetzen? Die vier fallen ja weg.“

      „Sie bleiben ja für ein halbes Jahr noch als GTU-Beschäftigte dem Unterricht erhalten. Damit haben sie einen leichteren Start in die Selbständigkeit und wir haben somit keine akuten Nachwuchssorgen. Denn Dozenten wachsen in unseren Akademikerkursen nach wie in einem ökologischen Treibhaus. Darum ist mir nicht bange.“

      Locker bleiben bei Lockerbie

      Eigentlich begann für uns das neue Jahr harmlos und unschuldig, wenn man von einigen Merkwürdigkeiten absah. Eine dieser Ungereimtheiten kam zutage, als ich erfuhr, wer sich an Bord der am 21. Dezember 1988 abgestürzten Pan Am 103 über dem schottischen Lockerbie befunden hatte. Eine Bombenexplosion hatte den Absturz des »Jumbo«-Großraumflugzeugs herbeigeführt. 281 Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Darunter war Olof Palmes engster Vertrauter und poli­tischer Weggefährte, der schwedische Diplomat Bernt Carlsson.

      Ich hatte den Mord am schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, jenem aufrechten politischen Fanal für Frieden und Antiimperialismus, für weltweite soziale Gerechtigkeit und Ost-West-Ausgleich, nicht nur zutiefst bedauert, sondern auch jede kleine Meldung zu den Ermittlungen verfolgt und in meinem Archiv gesammelt.

      Schließlich fiel in diesem Mordfall nicht nur die Nähe der NATO-Geheimarmee Gladio zum Mordgeschehen auf. Der schwedische Arm dieser antisozialistischen Terrortruppe hatte im Skandia-Gebäude, ein paar Schritte vom Attentatsort entfernt, jahrelang seine Zentrale. Schwedische Investigativ-Journalisten waren zu der Auffassung gelangt, das Gebäude habe zu dieser Zeit ein CIA-Verbindungsbüro beherbergt.

      Der führende CIA-Offizier Vincent Cannistraro sei während des Mordes im Skandia-Gebäude gewesen und habe von dort aus die Überwachungsoperation geleitet. Einer der Stay-behind-Kommandanten habe zur Zeit des Attentates auf Palme einige Meter vom Tatort entfernt eine Tür zum Gebäude offengehalten – als ob man jemandem eine Fluchtmöglichkeit geben wollte. In den offiziellen Ermittlungen heißt der Unbekannte nur „der Skandia-Mann“ – seine wahre Identität wurde nie ermittelt.

      Olof Palmes Vertrauter, der schwedische Diplomat Bernt Carlsson, hatte mehreren Personen erzählt, er kenne die Hintergründe des Palme-Mordes und werde sie demnächst preisgeben. Er kenne die Geheimdienstagenten jener Staaten, die gemeinsam den Mord an dem schwedischen Friedenspolitiker geplant hätten. Und eben dieser Diplomat hatte sich an Bord der abgestürzten Maschine befunden. Das war es, was mich auf Anhieb stutzig machte. Er hatte zu Palmes engsten Weggefährten gehört und war Mitglied seines persönlichen Stammtisches gewesen.

      In den ersten beiden Wochen des neuen Jahres überschattete das Lockerbie-Attentat alle anderen weltpolitischen Ereignisse. Hintergrund war die Auseinandersetzung, die Großbritannien und die USA gegen das blockunabhängige Libyen führten. Die westlichen Großmächte bezichtigten Muammar al-Gaddafi als Drahtzieher des Flugzeuganschlags; es habe sich um einen Racheakt für die amerikanische Bombardierung von Tripolis im April 1986 gehandelt.

      Gegen diese Version setzten Kritiker der CIA eine andere: Die Bombe sei bereits in Malta von einem geheimdienstlich geführten Drogenschmuggler als Transitgepäck an Bord einer Zubringermaschine geschmuggelt worden, um dann mit anderen Gepäckstücken umgeladen zu werden und auf dem Weg von Frankfurt nach London zu explodieren.

      Für mich stellte sich die Frage, ob die Bombe an Bord der Pan Am 103 geschmuggelt wurde, um gezielt Bernt Carlsson zu töten, damit er sein Wissen über den Mord an dem ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten nicht mehr preisgeben könne. War alles andere nur Vernebelungstaktik? Dann las ich einen anderen Hinweis, der meine Mutmaßung bestärkte: Der CIA-Whistleblower Chip Tatum ging davon aus, dass die USA und Israel selbst hinter dem Attentat steckten und die Bombe tatsächlich für Carlsson bestimmt war. Sie sei im Auftrag der Amerikaner und Israelis vom britischen Geheimdienst in London heimlich an Bord gebracht worden.

      Nun ja, ich notierte mir die Informationen, schnitt die Quellen aus und heftete alles fein säuberlich in meiner Archivakte ab.

      Meine politologische Spürnase schnüffelte in diesen ersten Wochen des neuen Jahres etwas, was nach weltweiter Veränderung roch, oder roch es doch eher nach Kaffeesatz? Wenn ich in diesen Tagen an meine Korrespondenzen mit DDR-Freunden und Kumpels aus Westberlin dachte, glaubte ich allerdings wirklich an mein Gespür für grundlegende Veränderungen. Seit langem demonstrierten Mitte Januar wieder einmal Studenten in beeindruckender Zahl. In verschiedenen Städten der BRD rebellierten sie gegen schlechte Studienbedingungen und gegen die seit Jahren bekannte Wohnungsnot. Bundesbildungsminister Möllemann kündigte eine Aufstockung der Finanzmittel an.

      „Wer daran glaubt, wird selig!“, schrieb mir dazu mein früherer WG-Freund Richy, der immer noch Taxi fuhr. Warum hatte er nicht studiert? Diese Frage hatte ich mir immer gestellt, wenn ich an ihn dachte. Es war wie eine Dauerschleife in meinem Kopf. Schließlich war ich ihm seit Ewigkeiten freundschaftlich verbunden. Aber hatte ich überhaupt das – wenn auch gut gemeinte – Recht, diese Frage zu stellen? Hatte ich nicht einfach zu akzeptieren, dass zum Einen nicht alle studieren mussten, um ihre persönliche Erfüllung zu finden? Und zum Anderen: Hatte ich in meinem Berufsleben nicht selbst äußerst eigenwillige Wege eingeschlagen? Aber Richy war so klug und begabt; es schien mir eine Vergeudung, dass er seine Talente der Menschheitsfamilie vorenthielt.

      Als ich diese Meinung gegenüber Emma einmal ausgesprochen hatte, hatte sie mich verwundert angeschaut und gesagt: „Eine Nummer größer geht’s wohl nicht, was? Menschheitsfamilie! Hat dein Freund irgendeinen Vertrag mit der »Menschheitsfamilie« unterschrieben?“

      Ich ging in mich und nahm mir vor, ihn nicht mehr darauf anzusprechen. Wollte ich, dass mich jemand aus meinen alten Freundschaftskreisen fragte, warum ich, der ich mich als Antikapitalist verstand, nun als Unternehmer tätig war?

      Dann musste ich plötzlich an Rolf denken, der durch das Saufen Invalide geworden war. Richy kümmerte sich um unseren ehemaligen WG-Alkoholiker so gut er konnte. Dafür war ich Richy insgeheim unendlich dankbar, denn ich, als alter „Ursprungsfreund“ von Rolf, konnte es nicht stemmen. Nicht nur, weil ich fernab von Berlin zu Hause war. Nein, auch mit Familienanhang und mit meiner beruflichen Laufbahn war es mir einfach unmöglich. Ich wusste, dass sich neben Richy noch immer die Zeugen Jehovas um Rolf, den ex-dogmatischen Ex-Marxisten, liebevoll kümmerten. Irgendwie nahm mir dieser Gläubigen-Bund das schlechte Gewissen.

      Erst neulich hatte ich den »Wachtturm« der Sekte in meinem Briefkasten gefunden. Wie so oft warf ich einen Blick hinein, bevor ich ihn wegwarf. Und immer wieder fand ich darin wunderliche, kindische Dinge, von denen ich nicht glauben konnte, dass erwachsene Menschen mit normaler Schulbildung und normalem Verstand sie glauben konnten. Dieses Mal avancierte der Wachtturm, gleich neben „Asterix und Obelix“, zu meiner bevorzugten Klolektüre. Mich interessierte natürlich, was unser Schöpfer mit uns vorhat. Und so las ich: „Unser Schöpfer hat von Anfang an durch Engel und Propheten mit den Menschen kommuniziert. Und er hat das, was er uns sagen will, aufschreiben lassen.“ Aha, dachte ich, dann ist der Gepriesene vor ein paar Jahrtausenden doch noch nicht so allmächtig gewesen, um das Internet zu erfinden und musste sich von solchen Leuten wie Timotheus, Petrus und Matthäus abhängig machen. Wie hat er das überhaupt gemacht?

      „Gott hat den Propheten seine Gedanken in den Sinn gegeben. Es ist ähnlich wie bei einem Assistenten, der für seinen Chef einen Brief verfasst. Auch wenn der Assistent der Schreiber ist, gilt doch der Chef als Verfasser. Dieses Prinzip lässt sich auch auf die heiligen Schriften übertragen. Gott hat zwar menschliche Schreiber gebraucht, doch der Autor ist er.