Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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„Mach Platz, Alter!“

       „Da hast du’s, mein Sohn“, zischte der Wächter, während sie das Tor hinter dem Boten wieder schlossen. „Keine Manieren, diese Stadtmenschen...“

       In gemächlichem Trab steuerte der Reiter sein Pferd über den Kiesweg des Parks. Auf beiden Seiten konnte er die düsteren Umrisse der Wirtschaftsgebäude ausmachen: Stallungen, Lagerhäuser, Unterkünfte des Personals. Alles war dunkel. Alles schlief. Ein Fuchs huschte vor ihm über den Weg; offenbar auf der Suche nach dem herrschaftlichen Geflügel. Durch die Äste der sich lichtenden Bäume sah er die Lampen am Eingang des Herrenhauses.

       Er beschleunigte seinen Trab.

       Vor den Säulen des Hauptportals stieg er ab und läutete die Glocke.

       Cavendish, der Butler, öffnete die Tür.

       Ohne sich zu erklären, zwängte der Bote sich hinein. Er ließ seine Blicke durch die große Eingangshalle schweifen. Sie war nicht beleuchtet. Allein der Schein der Kerze, die der Butler bei sich trug, ließ ein wenig von deren Pracht erahnen. Breite Marmorstufen führten in die obere Etage, wo noch Licht brannte. Der Bote glaubte, von dort leises Stöhnen und gedämpfte Schreie hören zu können.

       Er erschauderte.

       „Sir?“ wurde der Butler ungeduldig.

       Der Bote kam wieder zu sich. „Ich bringe Nachricht aus London. Lord Sharingham erwartet mich hier.“

       Im Licht seiner Kerze musterte Cavendish die von Wind und Wetter gebeutelte Gestalt des Reiters. Mit gerümpfter Nase musste er zur Kenntnis nehmen, wie dessen schlammige Stiefel und durchnässte Kleidung ihre Spuren auf dem frisch geputzten Fußboden hinterließen.

       „Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir.“

       Er führte den Boten zur Bibliothek im Erdgeschoss.

       „Warten Sie bitte. Ich werde Sie anmelden...“

       Er klopfte an die Tür.

       „Ja, bitte!“ rief Bromset, der gerade im Begriff war, sich ein weiteres Glas Brandy einzuschenken.

       „Der Bote aus London“, vermeldete der Butler.

       „Herein mit ihm!“ stieß Sharingham hervor, ohne die Reaktion des Hausherrn abzuwarten.

       Bromset stellte sein Glas ab und fummelte hastig die Perücke zurück auf seinen Kopf. Ein standesgemäßes Erscheinungsbild musste schließlich gewahrt bleiben.

       „Ah ... Henley!“

       Mit forschen Schritten ging Sharingham auf den Boten zu, der mittlerweile ebenfalls eingetreten war.

       „Wie war die Reise?“

       „Lang und regnerisch, Mylord.“

       „Und Ihnen ist niemand gefolgt?“

       „Nein, Mylord!“

       „Ausgezeichnet! Guter Mann!“

       „Vielen Dank, Mylord.“

       Henley griff in seine Umhängetasche und überreichte den versiegelten Brief.

       Stumm nahm Sharingham das Schreiben an sich.

       Bromset schien den Atem anzuhalten.

       „Nun“, brach Ersterer endlich das Schweigen. „Ich denke, in der Küche warten eine heiße Suppe und ein Feuer, an dem Sie sich aufwärmen können, auf Sie, mein lieber Henley...“

       „Ganz recht“, pflichtete Bromset ihm bei.

       Der Butler führte den Boten aus der Bibliothek.

       „Jetzt machen Sie schon, Sharingham!“

       Bromset konnte nicht länger an sich halten.

       „Spannen Sie mich nicht auf die Folter!“

       Regungslos hatte Sharingham gewartet, bis sie wieder unter sich waren. Versonnen hielt er die versiegelte Botschaft in Händen. Schließlich brach er das Siegel, entfaltete das Papier und überflog die Zeilen.

       Er zögerte einen Moment.

       „Es ist geschehen...“

       Bromset erbleichte und bekreuzigte sich.

       Die Seitentür öffnete sich, und der junge Abercombe, Lord Sharinghams Sekretär, trat ein. In seiner Begleitung befand sich ein Herr in mittleren Jahren. Dessen Hemdsärmel waren hochgekrempelt. Er trug eine Art Schürze, die mit Blut befleckt war. Die Mienen der Männer waren ernst.

       „Doktor Philipps!“ entfuhr es Bromset.

       „Und?“ erkundigte sich Sharingham.

       „Es ist ein Junge“, antwortete der Doktor.

       „Und die Mutter?“

       Der Doktor schüttelte den Kopf.

       Sharingham nahm einen tiefen Atemzug und nickte stumm.

       Kreidebleich und mit zittrigen Händen griff Bromset nach seinem Brandyglas.

       „Ich werde oben noch gebraucht“, sagte der Doktor. „Wir reden später...“

       „Ja ... danke, Philipps“, erwiderte Sharingham.

       Sein junger Sekretär blieb noch zurück.

       „Es ist genau das eingetreten, was wir befürchtet hatten, Abercombe“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Verfahren Sie so, wie wir es besprochen haben...“

       „Jawohl, Euer Lordschaft!“

       Bromset warf die Perücke in seinen Lehnstuhl und stürzte den Brandy hinunter.

      *

       Noch eine weitere Botschaft aus London näherte sich in jener Nacht ihrem Bestimmungsort. Sie führte ihren Überbringer nach Süden. In Portsmouth nahm ihn ein Boot auf, das ihn auf die Isle of Wight übersetzen sollte. Sein Ziel war Carisbrooke Castle, nahe des Städtchens Newport.

       Fackeln und Laternen erhellten das mittelalterliche Kastell, sodass es schon aus der Ferne gut sichtbar war. Der kleine, von Efeu umrankte Torbogen der äußeren Begrenzungsmauer wurde von Soldaten bewacht. Der Kurier zeigte einen Pass vor, worauf man ihn passieren ließ. Laut schallten die Tritte der Hufe auf der schmalen Steinbrücke in die Nacht, während er sein Pferd auf das imposante Hauptportal zubewegte. Mächtige, runde Wachtürme flankierten es zu beiden Seiten. Auch auf den Türmen standen Wachen, ebenso auf den Schutzwällen.

       Am Portal musste er sich erneut ausweisen. Dahinter nahm ihn der Majordomus des Kastells im Empfang. Ein Stallbursche kümmerte sich um sein Pferd. Eine Anzahl weiterer Soldaten hockte im Innenhof um ein Lagerfeuer. Neugierig verdrehten die Männer ihre Köpfe, als sie des Boten gewahr wurden.

       Der Majordomus führte diesen auf ein Gesellschaftsgebäude zu. Zahlreiche Vertreter des britischen Landadels waren darin versammelt — wie zu einem Staatsempfang. In kleinen Grüppchen standen sie beisammen und führten leise, aber angeregte Gespräche. Dienstboten schwirrten um sie herum, um sie mit Speisen und Getränken zu versorgen.

       Es war eine hochherrschaftliche junge Dame, die hier Hof hielt. Sie reagierte prompt, als der Majordomus mitsamt dem Kurier den Raum betrat.

       „Botschaft aus Greenwich?“ verlangte sie zu wissen.

       „Ja, Mylady“, entgegnete der Bote. Er hielt kurz inne. „Ich muss Euch leider mitteilen, dass ... dass Euer erlauchter Onkel gestern in den frühen Morgenstunden seinen Verletzungen erlegen ist.“

       Schlagartig herrschte Stille im Saal.

       Der Bote nutzte die Gelegenheit, um ein versiegeltes Couvert zu präsentieren.

       „Mylady ... seine Exzellenz, der ehrwürdige Lord Chamberlain, trug mir auf, Euch dies zu überreichen...“

       Er verneigte sich tief.