Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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Hände Arbeit Gottes Natur sein Brot abzugewinnen.

       Dumm nur, dass der dazugehörige Vulkan noch aktiv war!

       Seit Tagen schon grummelte und grollte es im Inneren des Berges. Hier und da brachten kleinere Erdstöße New Manchester zum Erzittern. Qualm und Asche stiegen aus dem Krater. ‚Smokey Tom’ hatten die Siedler den Berg getauft, der sich ein paar Meilen landeinwärts in die Höhe reckte. Seit ihrer Ankunft vor gut vier Jahren hatte er immer wieder einmal harmlose Schwaden von Rauch in die Luft geblasen — wie ein altes Väterchen, das nach getaner Arbeit sein verdientes Pfeifchen schmaucht. Nun aber braute sich Schlimmeres zusammen.

       Die Eingeborenen der umliegenden Inseln mieden das Eiland der weißen Siedler. Für sie war es ein unheimlicher Ort, der Krater des Vulkans ein Durchgang zum Reich der Toten, wo sich die Geister der Verstorbenen trafen. (Der Grund dafür, dass diese Insel unbesiedelt blieb.) Bald würde die Zeit gekommen sein, dass die Geister den Frevel der Fremden sühnten!

       Obwohl die Siedler derartigem Aberglauben wenig Beachtung schenkten, stieg die Nervosität von Tag zu Tag.

       Ein kleines Handels- und Versorgungsschiff, die ‚Lucretia’, hatte gerade am Pier von New Manchester festgemacht. Immer wieder, in unregelmäßigen Abständen, besuchten solche Schiffe die Insel, um Waren zu tauschen: zumeist Stoffe, Saatgut und Gebrauchsgegenstände, die sie auf ihren Reisen durch die ausgedehnte polynesische Inselwelt aufgenommen hatten oder aus der Heimat mit sich führten, gegen Verpflegung und Trinkwasser. Normalerweise verliefen diese Besuche geruhsam, erstreckten sich über mehrere Tage, manchmal sogar einige Wochen. Die Seeleute genossen den Landgang und die Gastfreundschaft der Siedler (besonders den selbstgebrannten Zuckerrohrschnaps des Schankwirts Chestwick) und revangierten sich dafür mit Geschichten und allerlei Seemannsgarn aus der großen, weiten Welt. Manchmal wurden Reparaturen und Ausbesserungsarbeiten an den Schiffen durchgeführt, bei denen sich die Handwerker New Manchesters ein kleines Zubrot verdienen konnten.

       Aber nicht diesmal. Die Mannschaft der ‚Lucretia’ wirkte rastlos. Immer wieder wanderten die Blicke gen Himmel zu Smokey Toms rauchendem Schlot. Hastig, unter dem beständigen Antrieb des Bootsmanns verluden die Männer den nötigsten Proviant, um möglichst schnell wieder in See stechen zu können.

       Der Kapitän, ein erfahrener Seebär namens Ebenezer Hoydt, wusste, was er tat. Es war nicht der immanente Ausbruch des Vulkans, der ihm die größten Sorgen bereitete. Sollte sich jedoch die Eruption ereignen, solange die ‚Lucretia’ am Pier der Siedlung lag und die unvermeidliche Panik losbrechen, würde ein wahrer Sturm auf sein Schiff beginnen. Dieses war bei weitem nicht groß genug, um alle Einwohner New Manchesters aufzunehmen. Fast 200 Seelen zählte das Dorf inzwischen. Zu den ursprünglich 50 Siedlern, die von Bord der ‚Lady Prentiss’ hier an Land gegangen waren, hatten sich mittlerweile weitere Auswanderer aus aller Herren Länder gesellt. Kinder waren hier geboren worden. Ein solcher Sturm auf die ‚Lucretia’ würde das kleine Schiff schneller ins Verderben stürzen, als jeder Vulkan dies vermochte.

       Diese Überlegungen jedoch behielt Käpt’n Hoydt für sich, als er am Pier mit den Dorfältesten konferierte. Auch diese zeigten sich bestürzt über die raschen Aufbruchspläne des Kapitäns. Obwohl sie dessen wahre Beweggründe vermutlich längst erraten hatten, wagte zunächst niemand, das Offensichtliche auszusprechen. Chestwick, der Wirt der Dorfschenke, meinte, man dürfe der Mannschaft nicht die Ausschweifungen des Landgangs vorenthalten, wolle man keine Meuterei riskieren. Der Vikar Goodwill, ein verhinderter Missionar, der auf der Inselwelt wenig zu missionieren vorgefunden hatte, lamentierte, die Seeleute könnten nicht weiterreisen, ohne zumindest den Gottesdienst besucht zu haben. Fullerton, der Doktor, bemerkte, die Mannschaft der ‚Lucretia’ brauche dringend ein wenig Ruhe und gehaltvolle Ernährung, um nicht der gefürchteten Skorbut anheim zu fallen.

       Aber all das war fadenscheinig, und die Männer wussten es. So war es schließlich der örtliche Tischlermeister, Nicholas Plumpton, der das unbequeme Thema zur Sprache brachte. Er war der einzige der vier Dorfältesten, der selbst eine Familie besaß. Zusammen mit seiner Frau Elizabeth und Söhnchen Charles, der damals nicht viel mehr als ein Säugling war, gehörte er zu den ersten Siedlern, die seinerzeit die Kolonie gründeten.

       „Sie könnten wenigstens versuchen, die Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen, Käpt’n!“

       Hoydt schwieg betreten. Er fühlte sich ertappt. Beschämt blickte er hinauf in den strahlend blauen Tropenhimmel, in den sich kerzengerade die weißgraue Rauchsäule des Vulkans erhob.

       „Wie viele?“ fragte er schließlich, ohne einen der Männer anzusehen.

       „Etwa 80 ... 90.“

       „Zu viele!“

       „Sie könnten sie in kleinen Gruppen auf die Nachbarinseln schaffen“, schlug Plumpton vor.

       Noch einmal sah der Kapitän zu dem rauchenden Schlot auf.

       „Zu wenig Zeit!“

       „Der Allmächtige wird über uns wachen!“ warf der Vikar ein.

       „Was Sie nicht sagen“, schnaubte Hoydt. „Ich, an Ihrer Stelle...“

       Ein finsteres Grollen des Berges ließ ihn verstummen. Der Erdboden unter ihren Füßen begann zu zittern. Heftiger und heftiger wurden die Erdstöße. Wie ein wildes Pferd, das verzweifelt versuchte, seinen Reiter abzuwerfen, bäumte sich der Grund unter ihnen auf. Um ihr Gleichgewicht ringend, begannen die Männer zu taumeln. Die Stöße des Bebens setzten sich ins Meer fort. Die kleine ‚Lucretia’ tanzte förmlich auf den Wellen, schlug ein ums andere Mal an den Pier an. Dessen Planken knarrten und ächzten unter der Naturgewalt.

       Die Matrosen, die damit beschäftigt waren, Vorräte an Bord des Schiffs zu schaffen, ließen erschrocken von ihrer Arbeit ab. Ein großes Netz voller Kisten und Fässer, das gerade an Deck gehievt werden sollte, krachte auf den Landungssteg, um schließlich im Meer zu versinken. Hölzerne Käfige mit Geflügel barsten. Gackernd und schnatternd versuchte das Federvieh davonzuflattern. Eingepferchte Schweine quiekten.

       Man hörte jetzt auch Schreie aus dem nahegelegenen Dorf. Einige der weniger soliden Holzhütten hatte das Beben bereits zum Einsturz gebracht. Schwankend strömten die Siedler ins Freie. Stolpernd, stürzend. Eine Erdspalte riss auf, um einige von ihnen zu verschlingen.

       Dann folgte die Eruption. Nach einem letzten, zornigen Grollen spie Smokey Tom eine gewaltige Fontäne aus Asche, Rauch und feurigem Gestein in die Luft. Erneut schrieen die Menschen in Panik auf. Im Nu breitete sich eine graue Wolke am Himmel aus, verfinsterte die Sonne. Die ersten Gesteinsbrocken regneten auf das Dorf nieder, erschlugen einige der Flüchtenden. Hütten gingen in Flammen auf, als die glühenden Klumpen durch die nur mit einem Geflecht aus getrockneten Palmblättern gedeckten Dächer krachten.

       Die Männer stürzten zurück ins Dorf, um ihren Mitbewohnern, Freunden und Familien beizustehen. Das Erdbeben verklang, die Gewalt des ersten Ausbruchs schien überstanden. Ruß und Rauch aus dem Schlot des Vulkans verdunkelten weiterhin den Himmel, als sei eine verfrühte Nacht angebrochen.

       Dann plötzlich begann es zu schneien. Dicke, warme Flocken weißgrauer Asche legten sich über New Manchester. Ein dichtes Treiben, wie man es sonst nur aus den strengen Wintern der alten Heimat kannte.

       Fasziniert verfolgte die Mannschaft der ‚Lucretia’ das Schauspiel, das sich vor ihren Augen abspielte.

       Käpt’n Hoydt jedoch zögerte keinen Augenblick.

       „Alles bereit zum Ablegen!“ zischte er seinem Bootsmann zu.

       „...und siehe, ich will einen großen Hagel regnen lassen, desgleichen in Ägypten nicht gewesen ist, seitdem es gegründet...“

       Eine Anzahl verängstigter Siedler hatte in Vikar Goodwills Kapelle Zuflucht gesucht, die wie durch ein Wunder der Zerstörung bislang entgangen war. Dicht gedrängt warteten sie hier auf Beistand und Zuspruch.

       „...und nun sende hin und verwahre dein Vieh, und alles, was du auf dem Felde hast“, rezitierte der Vikar. „Denn alle Menschen und das Vieh, das auf dem Felde gefunden wird und nicht in die