Ralf Lützner

Die Irrfahrt des Charles Philip Plumpton


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diesen schließlich auf ihren Finger.

       Ehrfurchtsvoll fielen die Menschen im Saal daraufhin vor ihr auf die Knie.

       Allein der Majordomus blieb hoch erhoben stehen.

       „Der König ist tot!“ verkündete er feierlich. „Gott schütze die Königin!“

      2. Wie eine Spur aufgenommen und wieder verloren wurde

       London. Westindische Docks. Hell erstrahlte die morgendliche Augustsonne über der gigantischen Hafenanlage. Obwohl sie erst im vorletzten Jahr vollendet wurde, erschien sie fast schon wieder zu klein. So groß waren der Trubel und das Gedränge, das an diesem Morgen hier herrschte.

       Dockarbeiter, Fuhrwerke und Karren verstopften die Kais. Unzählige Kisten und Fässer wurden unter den strengen Blicken der Aufseher von Bord der Schiffe gehievt. Was nicht sofort abtransportiert wurde, fand in den riesigen Magazinen und Lagerhallen Platz. Anweisungen wurden gebrüllt. Händler riefen sich Zahlen und Preise zu. Hammerschläge kündeten von Reparaturarbeiten. Der Geruch von Teer und Pech lag in der Luft.

       Guter Dinge bahnte sich Alan Abercombe einen Weg durch das geschäftige Treiben. Fast fünf Jahre waren seit jener Nacht im Oktober vergangen, ihre Ereignisse längst in Vergessenheit geraten. Es herrschte die Routine des Tagesgeschäfts. Erst gestern war eine Flotte Westindienfahrer hier eingelaufen, deren Ladung nun gelöscht wurde. Und Abercombe war gekommen, um die Bestände seines Arbeitgebers, Lord Sharinghams, zu überprüfen.

       „Guten Morgen, Alan!“ nahm ihn ein Schreiber in Empfang, der an einem kleinen, provisorisch aufgestellten Tischchen mit der Buchführung beschäftigt war. „Sieht nach einer guten Ausbeute aus, diesmal ... die Preise sind auch in Ordnung ... seine Lordschaft wird zufrieden sein...“

       „Das freut mich, Mr. Flax.“

       „Du wirst dir die Ware sicher ansehen wollen...“

       „Deswegen bin ich hier.“

       „Geh am besten hinten rum“, sagte der Schreiber und deutete auf ein schmales Gässchen, das zwischen zwei Lagerhäusern hindurch führte. „Wenn du fertig bist, kannst du die Listen gleich mitnehmen...“

       „Danke, Mr. Flax.“

       Abercombe verschwand in den Durchgang, der zur Hintertür des Warendepots führte. Er war allein, ließ den Lärm der Kais hinter sich.

       Ein Mann in einem eleganten schwarzen Gehrock trat vor ihn. Sein Gesicht war von fast makellosem Weiß. Freundlich zog er den Hut vor seinem Gegenüber.

       „Mr. Alan Abercombe?“

       „Ja“, antwortete dieser, etwas verunsichert.

       „...in Diensten Lord Sharinghams?“

       „Ja ... wer...?“

       Weiter kam Abercombe nicht. Unvermittelt stülpte jemand von hinten einen Sack über seinen Schädel. Das letzte, das er noch spürte, war ein flammender, stechender Schmerz am Hinterkopf.

       Ein Schwall Wasser ins Gesicht ließ ihn schließlich wieder zu sich kommen. Er wusste nicht, wo er war. Er saß auf einem Stuhl, der Oberkörper entblößt, Arme und Beine an Lehnen und Stuhlbeine gefesselt. Ein Strick war um seinen Hals gelegt und fixierte diesen an einem hölzernen Stützpfosten, der in dem muffigen Kellergewölbe zur Decke ragte. In einer heruntergekommenen Feuerstelle glimmte ein Kohlenfeuer. Schüreisen steckten in dessen Glut.

       Erst jetzt bemerkte er die Schmerzen. Hämmern im Kopf. Das Brennen an Hals, Hand- und Fußgelenken, wo die rauen Stricke langsam in sein Fleisch schnitten. Die Brandwunde an seinen Rippen.

       Die Erinnerung kehrte zurück. Beim Lagerhaus hatte man ihm aufgelauert und in dieses Kellerloch verschleppt. Fragen hatte man gestellt, ihn geschlagen und mit glühenden Eisen malträtiert. Dabei musste er das Bewusstsein verloren haben.

       „Wie ich sehe, sind Sie wieder bei uns, Mr. Abercombe.“

       Mit noch leicht getrübtem Blick erkannte er den elegant gekleideten Herrn, der ihn bei den Docks angesprochen hatte. Selbst in diesem stickigen, schmutzigen Keller wirkte dessen Erscheinungsbild makellos.

       „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen“, presste Abercombe hustend hervor. Wasser tropfte von den nassen Haarspitzen in seine Augen, sodass sein Blick nochmals verschwamm. „Ich habe nichts getan...“

       „Tssst, tssst, mein Lieber“, erwiderte der elegante Herr kopfschüttelnd. „Sie sollten uns nicht unterschätzen! Wir haben eine recht genaue Vorstellung davon, was sich in jener Nacht in Bromset Hall zugetragen hat ... der Auftrag, mit dem Sie betraut wurden...“

       „Ich weiß nichts ... von einem Auftrag!“

       „Vielleicht sollten wir ihn doch ein bisschen härter anpacken, Mr. Diamond“, meldete sich plötzlich ein zweiter Mann zu Wort, der gerade einen leeren Eimer neben einer Wassertonne abstellte. Er war einen ganzen Kopf kleiner als der andere, dafür untersetzt und kräftig, fast schon bullig. Er trug Arbeitshosen und ein ledernes Wams. Er wirkte erhitzt. Puterrot war sein Gesicht.

       „Sachte, Mr. Ruby!“ ging der Mann namens Diamond dazwischen. „Sehen wir erst einmal, ob nicht doch die Vernunft siegt! Sehen Sie, Mr. Abercombe“, wandte er sich daraufhin wieder seinem wehrlosen Opfer zu. „Es gab eine schwache Stelle in Sharinghams Plan. Der alte Bromset hatte nicht einmal ansatzweise die Nerven für eine derartige Unternehmung. Bis zu seinem Tod im Frühjahr entwickelte er sich mehr und mehr zu einem mitleiderregenden, zittrigen Wrack. Auf dem Sterbebett konnte er seiner gepeinigten Seele dann endlich Erleichterung verschaffen ... und nach einer kleinen Zuwendung zeigte sich sein Beichtvater mehr als kooperativ! Natürlich war der gerissene Sharingham nicht so dumm, Bromset in die Details seines Planes einzuweihen. Und hier kommen Sie ins Spiel, mein lieber Abercombe...“

       „Ich weiß immer noch nicht, wovon Sie sprechen“, entgegnete dieser dumpf.

       „Bedauerlich“, seufzte Diamond. „Mr. Emerald ... wenn ich Sie bitten dürfte...“

       Ein dritter Mann, der sich bis dahin still in Abercombes Rücken aufgehalten hatte, trat vor. Er war der größte der dreien, hochgewachsen, aber hager. Er machte einen kränklichen Eindruck. Sein blasses Gesicht, in dem eine enorme Hakennase prangte, war von fast grünlicher Farbe. Seine Kleidung wirkte abgetragen, ein wenig schäbig. Er kramte in einer kleinen, dunkelbraunen Tasche, die an die eines Arztes erinnerte. Ein merkwürdiges sichelförmiges Skalpell kam zum Vorschein.

       Abercombe bäumte sich auf.

       „Ein bemerkenswertes Instrument“, bemerkte Diamond trocken, während Emerald es dem Gefesselten wortlos präsentierte. „Schon die alten Ägypter wussten es vielseitig zu nutzen! Mr. Ruby, würden Sie Mr. Emerald bitte zur Hand gehen...“

       Der bullige Mann trat hinter Abercombe, packte ihn an den Oberarmen und drückte ihn fest an die Stuhllehne.

       Dieser versuchte sich zu wehren, die Fesseln und die Muskelkraft des grobschlächtigen Ruby machten dies jedoch unmöglich. Panik und schiere Verzweiflung ließen Abercombes Herz rasen, beschleunigten seinen Atem zu einem hechelnden Keuchen.

       Mit chirurgischer Präzision setzte Emerald das scharfe Instrument an dessen Brust und schnitt unter die Haut. Die Schreie des hilflosen Opfers hallten durch das Kellergewölbe, sodass man sein eigenes Wort kaum mehr verstand. Mit wenigen, geübten Schnitten entfernte Emerald Abercombes rechte Brustwarze.

       Die Männer ließen von ihm ab. Abercombes Schreie verebbten zu einem gequälten Schluchzen. Tränen liefen über sein schmerzverzerrtes Gesicht. Rotz lief aus seiner Nase. Das Blut rann seinen Oberkörper hinab.

       „Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was Mr. Emerald mit diesem Instrument zu leisten vermag“, meldete sich Diamond daraufhin wieder zu Wort. „Dass wir uns recht verstehen, mein lieber Mr. Abercombe ... Ihnen wird sicherlich klar sein, dass Sie diesen Raum nicht lebend verlassen werden! Sie können es sich leicht machen ... oder schwer...“