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Sabine-Franziska Weinberger
Der Märchenmaler
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
1 Das Mädchen mit den goldenen Augen
14 Die Schlucht der Bunten Dämpfe
Zitat
Ein kleiner Künstler steckt in jedem von uns,
wir müssen ihn nur herauslassen.
Bob Ross (1942-1995), US-amerikanischer Maler
1 Das Mädchen mit den goldenen Augen
Wenn ich irgendetwas sehe, höre oder fühle, was ein anderer getan oder gemacht hat, und wenn ich in der Spur, die er hinterlässt, einen Menschen entdecken kann, seinen Verstand, sein Wollen und sein Ringen – das ist für mich Kunst.
I. Gall, Theories of Art
Rastlos bewegte seine Hand den Pinsel über die Konturen ihres Gesichtes, so als versuchte er, ihnen dadurch mehr Kraft und Lebendigkeit zu verleihen. Wie ein Besessener malte Vincent seit Tagen am Bild einer Unbekannten, die täglich um die Mittagszeit seinen Stand auf dem großen Marktplatz in der Mitte der Stadt aufsuchte, um seine Bilder ehrfürchtig zu betrachten. Der Zauber ihrer anmutigen Erscheinung ließ sich nur schwer in Worte fassen. Ihre außergewöhnliche Erscheinung erhellte seinen grauen Alltag und stellte alles um sie herum in den Schatten. Kaskaden seidiger Locken, die wie heller Bernstein schimmerten, wann immer sich das Licht der Sonne darin fing, umrahmten feine Gesichtszüge, wobei ihn die Zartheit ihrer Wangenknochen, die Geradlinigkeit ihrer Nase, die sanft geschwungenen Lippen stets aufs Neue begeisterten und ihn geradezu herausforderten, sie zu malen. Doch am meisten faszinierten ihn ihre Augen, die, wie er fand, etwas Magisches hatten und ihn tagsüber um seine Ruhe und nachts um den notwendigen Schlaf brachten. Es waren bemerkenswert leuchtende Augen, deren goldene Farbe er noch nie bei einem Menschen gesehen hatte, und sonderbarerweise auch sehr traurige Augen, die das strahlende Wesen der Fremden sichtlich überschatteten.
Der junge Mann hätte viel gegeben, um das Geheimnis dieser Augen zu lüften, doch so oft er versuchte, mit dem Mädchen ins Gespräch zu kommen, löste es sich unversehens in Luft auf.
Vincent seufzte und trat einen Schritt zurück. Von der Arbeit übermüdet, betrachtete er sein Bild. Das Porträt war zwar künstlerisch perfekt ausgeführt, jedoch nicht halb so bezaubernd wie das Original. Trotz größter Anstrengungen war es ihm nicht gelungen, die Lebendigkeit und Schönheit der Unbekannten einzufangen.
Umrahmt von einem in Lavendel, Grün und Weiß gehaltenen Hintergrund, blickte ihm die namenlose Schöne mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen entgegen, um das sie selbst Mona Lisa beneidet hätte. In ihrem auf Vincent gerichteten Blick lag eine rätselhafte Bitte, die er nur zu gern erfüllt hätte, um die Traurigkeit aus ihren Augen verschwinden zu lassen. Nie zuvor hatte ein Blick anziehender auf ihn gewirkt, trotz der unliebsamen Tatsache, dass ihm die sprühende Lebhaftigkeit seiner Besitzerin fehlte. Von seinen malerischen Fähigkeiten enttäuscht, schlang der junge Maler, erschöpft von der mit Malen zugebrachten Nacht, beide Arme um den Oberkörper. Obwohl Vincent mit seinen Kräften am Ende war, wollte er nicht aufhören zu malen. Zumindest noch nicht. Jeder Nerv in seinem Körper schien in einer nie gekannten Spannung zu schwingen und regelrecht darauf zu brennen, das ätherische Wesen der unbekannten Schönheit in nie gekannter Vollendung auf der Leinwand einzufangen. Deshalb war er die ganze Nacht wach geblieben. Da er jedoch mit seinem Werk nicht zufrieden war, beschloss Vincent, ein neues Bild von ihr zu malen, von dem er bereits wusste, dass es wieder nur eines von vielen sein würde. Gedankenverloren hob er seine Hand, um ihr Gesicht zu berühren, um mit seinen Fingern federleicht über seine von ihr geschaffenen Linien zu streichen, denen trotz aller Bemühungen der Höhepunkt eines gelungenen Meisterwerkes, die nach dem letzten Pinselstrich eingehauchte Lebendigkeit, fehlte.
Durch das geöffnete Fenster fielen bereits die ersten Strahlen der Novembersonne in Vincents Atelier und kündigten einen schönen Herbsttag an. Während der Maler versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, da er ganz und gar im Malen aufgegangen war und sich noch immer im dichten Nebel fein skizzierter Striche und Linien befand, nahm er draußen Schritte wahr, welche die knarrende Holztreppe zu ihm hoch eilten.
„Kann ich reinkommen, Junge?“, vernahm er kurz darauf die Stimme seiner Haushälterin.
„Klar, nur hereinspaziert, Dora!“, versuchte er ein Gähnen zu unterdrücken. Einen Moment später wurde die Tür geöffnet. Neugierig und etwas verwundert blieb eine grauhaarige Frau auf der Türschwelle stehen, um den jungen Mann mit dem schulterlangen, dunklen Haar, das nach hinten zusammengebunden war, zu betrachten. Vincent war groß und schlank. Seine Haut war noch leicht von der Herbstsonne gebräunt und verriet, dass er viel Zeit im Freien verbrachte. Der Maler wandte sich nicht sofort zu ihr um. Sein Blick ruhte noch immer auf dem sanften Lächeln der rätselhaften Schönen und sein Kopf war gebeugt, als fürchtete er sich davor, seinen Blick von ihr abzuwenden.
„Guten Morgen“, wünschte die kugelrunde Frau und trat in sein Atelier ein.
„Morgen“, erwiderte Vincent schläfrig und versuchte, Dora ein Lächeln zu schenken, das ein wenig schief ausfiel.
„Gut