Sabine-Franziska Weinberger

Der Märchenmaler


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du dich nicht gut?“, fragte die ältere Frau besorgt und nahm den jungen Mann genauer in Augenschein. „Soll ich einen Arzt rufen?“

      „Nein, nein“, winkte Vincent ab und blickte zerstreut auf sein Bild.

      „Ist es nicht noch ein bisschen früh zum Malen?“, wunderte sich Dora und betrachtete sein Werk interessiert. Eingetaucht in das weiche Licht der herbstlichen Morgensonne strahlte das Gesicht des Mädchens eine außergewöhnliche Lieblichkeit und Lebensfreude aus.

      „Findest du?“, entgegnete Vincent selbstvergessen, da er beim Malen immer jedes Gefühl für Zeit verlor.

      „Auf jeden Fall ist sie bildhübsch“, fand seine Haushälterin. „Und ein echtes Meisterwerk“, fügte sie anerkennend hinzu, während ihr Blick ruhig auf goldenen Augen hinter dunklen, dichten Wimpern ruhte.

      „Nein, leider nicht“, brummelte Vincent leise und seine Miene verfinsterte sich augenblicklich.

      „Nein, leider nicht?“, zog Dora überrascht eine ihrer buschigen Augenbrauen in die Höhe. „Du findest sie nicht hübsch?“

      „Nein, nein!“, widersprach Vincent schnell, während sein Blick kritisch auf dem Bild ruhte. „Sie ist eine Augenweide! Es ist meine Arbeit, die armselig ist, da ich nicht im Stande bin, ihrer Ausstrahlung und ihrem Liebreiz gerecht zu werden.“

      „Du darfst nicht so streng mit dir sein, Junge“, meinte Dora mit einem gutmütigen Lächeln, das einige ihrer Falten wegzauberte und sie jünger aussehen ließ, als sie tatsächlich war.

      „Muss ich aber“, lächelte Vincent gequält, „da die Kunst das Gewissen der Menschheit ist. Und mein Gewissen solange nicht ruhen wird, bis ich das Wesen der Unbekannten so eingefangen habe, dass die Wirklichkeit im Vergleich zu ihr wie ein Abklatsch wirkt.“

      „Was? Du malst ein Bild von einem Mädchen, das du nicht kennst?“, fragte die ältere Frau überrascht und betrachtete sprachlos den Stapel zahlloser Skizzen und Zeichnungen, die neben Vincent am Boden lagen.

      „Ich male, weil ich ihr Bild nicht aus meinem Kopf bekomme“, entgegnete der junge Maler freudlos und suchte Doras Blick, als gäbe es dort ein wenig Verständnis für seine missliche Lage. Vincent stand wie ein Häufchen Elend da und tat seiner Haushälterin leid. Am liebsten hätte sie tröstend über seinen Kopf gestreichelt, wie sie es oft getan hatte, als er noch klein war, doch diesem Alter war er mittlerweile entwachsen. Die ältere Frau beobachtete wortlos, wie er bekümmert das Porträt des bildschönen Mädchens aus dem Rahmen nahm, um es unbarmherzig zu den übrigen auf den Boden zu schicken und gleich darauf ein neues Blatt einzuspannen.

      „Und“, fuhr der junge Mann fort, „um mich von meiner Unfähigkeit als Künstler abzulenken.“

      „Hat sich zu dir noch nicht herumgesprochen, dass es Kunst ist, wenn man’s nicht kann, denn wenn man’s kann, ist’s keine Kunst!“, versuchte Dora ihn aufzuheitern und warf ihm einen schelmischen Blick zu.

      „Nein, bis jetzt noch nicht, aber nun, da du es erwähnst, geht es mir gleich viel besser“, lächelte Vincent matt. Einen Moment lang hielt er inne und fragte dann unvermittelt: „Stecken wir gerade in einer Kunstdiskussion?“

      „Nein, tun wir nicht“, entgegnete Dora, „obwohl ich gern mit dir diskutiere. Nur ist der Zeitpunkt nicht der richtige, da deine Freundin auf dich wartet.“

      „Veronika?“, fragte Vincent mechanisch.

      „Sie heißt Monika!“, wurde er von Dora korrigiert, die über seine Zerstreutheit kurz schmunzeln musste.

      „Stimmt“, pflichtete er ihr bei. „Was will sie?“

      „Sie behauptet, mit dir zum Frühstück verabredet zu sein.“

      „Da hat sie … recht“, entgegnete Vincent kleinlaut, während sein schlechtes Gewissen an ihm zu nagen begann. „Unverzeihlicherweise hab ich das … äh … vergessen.“

      „Ich weiß, deshalb habe ich das hier mitgebracht!“, reichte ihm Dora fürsorglich ein weißes Hemd, Socken und frisch gewaschene Jeans. „Du musst dich umziehen, Vincent“, forderte sie ihn auf. „Nicht, dass du im Pyjama eine schlechte Figur machen würdest, doch bevor du deine Herzensdame siehst, brauchst du eine ordentliche Verpackung.“

      „Verpackung?“

      „Ja. Denn eine gute Verpackung stärkt die Marke!“, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

      Vincent legte kurz seine Stirn in Falten und warf ihr einen gespielt überraschten Blick zu.

      „Entdecke ich gerade einen Anflug von Humor bei dir?“

      „Scheint so“, meinte Dora verschmitzt. „Manchmal bricht so etwas bei einem Urgestein wie mir durch!“

      „Du bist kein Urgestein, sondern ein interstellarer Diamant“, musste Vincent schon wieder lächeln, was in letzter Zeit nicht oft vorkam. Nur wenigen Menschen gelang es, ihn zum Lachen zu bringen. Dora glückte dieses Kunststück ab und zu. Seit dem Tod seiner Großmutter war sie zu einer echten Stütze für ihn geworden, um die er sich selbst beneidete. Sie half ihm nicht nur, das Haus in Ordnung zu halten, sondern stand ihm auch mit Rat und Tat zur Seite, wenn er Hilfe brauchte.

      „Zuviel der Ehre“, winkte sie ab, obwohl sie das Kompliment freute. „Ich gehe und werde der jungen Dame sagen, dass du in fünf Minuten bei ihr bist“, kündigte sie an und bewegte sich auf die Tür zu.

      „Gut“, murmelte er und sah ihr an, dass sie noch etwas loswerden wollte.

      „Du bist ein sehr talentierter, junger Mann, Vincent“, nahm ihre Stimme einen ernsten Ton an und eine halbe Ewigkeit schien zu verstreichen, bevor sie fortfuhr. „Deine Großmutter war sehr stolz auf dich und ganz besonders auf deine künstlerischen Fähigkeiten als Maler!“

      „Danke“, erwiderte Vincent gerührt und wünschte sich tief in seinem Inneren, auch andere von seinem Talent überzeugen zu können. Doch da ihm dies bisher nicht gelungen war, wurde er immer öfters von Selbstzweifeln gequält, und er fragte sich, ob die Malerei tatsächlich das Richtige für ihn war.

      Nachdem sich der junge Maler in Windeseile umgezogen hatte, machte er sich auf den Weg in die Stube, wo seine Freundin bereits ungeduldig auf ihn wartete.

      „Vincent!“, rief Monika erfreut, als er die Tür öffnete und auf sie zueilte. Der Raum war nicht besonders groß, jedoch gemütlich, und von den Fenstern aus hatte man einen schönen Ausblick auf den kleinen Garten, der sich unmittelbar vor dem Haus befand.

      „Morgen, Moni!“, begrüßte der Maler seine Besucherin, während ihm ein angenehmer Duft nach Kaffee und frischem Brot in die Nase stieg. Die junge Frau erhob sich, bewegte sich anmutig auf ihn zu und streckte beide Hände nach ihm aus.

      „Vincent – endlich!“, wisperte sie erleichtert, während ihr Blick den seinen festhielt. „Ich dachte schon, du hättest mich vergessen!“

      „Ich – das hübscheste Mädchen der Stadt vergessen?“, schmeichelte er und bedachte sie mit einem charmanten Lächeln, während er ihre Hände wieder losließ. Das war natürlich eine faustdicke Lüge, doch Vincent konnte ihr unmöglich gestehen, dass ihm die Verabredung zum Frühstück gänzlich entfallen war, während er am Porträt eines unbekannten Mädchens gearbeitet hatte. Hübsch war Monika tatsächlich, diesbezüglich hatte er nicht gelogen. Sie trug ein taubengraues Etuikleid mit dazu passendem Jäckchen und grauen Schuhen. Ihr schulterlanges, braunes Haar trug die junge Frau hochgesteckt, und auf ihrem Kopf thronte ein keckes Hütchen, dessen Grauton vollendet zu Kleid und Schuhen passte. Ihr Erscheinungsbild war vollkommen, wie Vincent feststellen konnte. Für seinen Geschmack allerdings ein wenig zu perfekt. Vielleicht auch ein bisschen zu grau.

      „Ich habe Neuigkeiten, sehr gute Neuigkeiten“, strahlte die junge Frau den Maler an. „Für uns“, fügte sie bestimmt hinzu, „und möchte sie dir beim Frühstück erzählen.“

      Nachdem sie Platz genommen hatte, gab sie Vincent