Uwe Woitzig

Limit up - Sieben Jahre schwerelos


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      Als Erstklässler war ich sicher der naivste und gutgläubigste Schüler meiner Schule gewesen. Ich war isoliert und abseits der Stadt in der heilen Welt meiner intakten Familie aufgewachsen. Von der List und Tücke der Stadtkinder hatte ich keine Ahnung.

      Eines Nachmittags hatte ich einige Schulkameraden mit ihren mir nicht bekannten Freunden zu mir eingeladen. Wir spielten Cowboy und Indianer. Ich war der Cowboy, der sich von den Indianern überwältigen und an den Marterpfahl fesseln ließ. Die Indianer umtanzten mich triumphierend, aber dann wurde es ihnen zu langweilig. Einer kam auf die Idee, sich mein Holster mit meinen Spielzeugpistolen umzuschnallen. Ein anderer setzte sich meinen Cowboyhut auf. Ich begriff nicht, was das sollte, wurde aber wegen der dreisten Benutzung meiner Spielzeuge ärgerlich. Plötzlich rannten sie alle davon und ließen mich am Baum gefesselt zurück. Die Wut über diese Heimtücke verlieh mir ungeahnte Kräfte. Ich schaffte es, mich zu befreien, sprang auf mein Fahrrad und fuhr ihnen hinterher.

      Doch ihr Vorsprung war zu groß. Außerdem trennten sie sich und verteilten sich über die ganze Stadt. Ich gab die Verfolgung auf und sah meine geliebte Cowboyausrüstung nie wieder. Dieses Ereignis war der Keim eines ständig wachsenden Misstrauens, das mich den Menschen soweit wie möglich aus dem Weg gehen ließ. Ich wurde später vermutlich auch deshalb zu einem passionierten Weltreisenden, weil ich in der Ferne meine Ruhe vor Geschäftspartnern, sogenannten Freunden und meiner angeheirateten Familie hatte. Es war logisch, dass ich eines Tages im Knast landen musste. Damit ich nicht mehr davon laufen konnte und wieder Anteilnahme am Schicksal anderer nehmen musste.

      Sicher hatte ich als Kind diese Wahl getroffen, weil ich als noch rudimentär mit spirituellen Erkenntnissen getränktes Wesen wusste, dass ein Fluchttier viel leichter loslassen kann. Es benötigt nur das, was es am Sattel befestigen kann, wie die Indianer sagen. Alleine zieht es durch die Welt, denn jede Bindung an einen anderen Menschen, ein Tier oder eine Sache beeinträchtigt seine Fluchtbereitschaft und gefährdet seine innere Freiheit. Intuitiv hatte ich damit einen buddhistischen Weg eingeschlagen, nämlich den des „Aus- dem-Weg-Gehens“.

      Nach einiger Zeit in meinem Haus am Schliersee fing ich allmählich an, das alles zu begreifen. Es gelang mir sogar, mein schlechtes Gewissen wegen meiner Ignoranz und Intoleranz gegenüber Maria zu transzendieren. Bei meinen täglichen Meditationen bemerkte ich, wie sich mit der Zeit mein latentes Schuldgefühl für das Scheitern unserer Ehe auflöste. Ich dachte wieder lächelnd und sogar etwas sehnsüchtig an unsere wunderschönen, romantischen Zeiten zurück, die es speziell während meines offenen Vollzuges in der JVA-Rothenfeld gegeben hatte.

      Dennoch war ich fest entschlossen, nie wieder eine feste Beziehung zu einer Frau einzugehen. Ich hatte genug von dem Spannungsbogen von Glück und Schmerz, der mich nicht weiter brachte. Nach dem Ende meiner zweiten Ehe wollte ich aber auch nicht wie eines jener Roboterwesen werden, die amerikanische (wer sonst?) Robotik - Spezialisten geschaffen hatten: Diese Maschinen begehrten sich selbst und pflanzten sich selbst fort. Nein, das war nicht mein Ziel. Ich wollte mich endlich wieder in Ruhe mit meiner Selbstfindung beschäftigen, ohne die Ablenkungen durch die unberechenbaren Launen einer Gefährtin.

      Seit einem Vierteljahr hatte ich mir eine perfekte Mischung aus Mönch –, Knast- und Studentenleben zusammengemixt. Jeder Tag verlief in harmonischer Eintönigkeit nach festen, fast klösterlichen Regeln. Nach dem Aufstehen ließ ich als Erstes die Hunde in den Garten. Je nach Wetter ging ich anschließend auf die Terrasse oder in mein Kaminzimmer, um zu meditieren und einige Yoga-Übungen zu absolvieren. Danach trank ich genüsslich meinen Morgenkaffee, sah entspannt meinen tierischen Freunden beim Herumtollen zu und überlegte mir, wohin ich mit ihnen heute einen Ausflug machen könnte.

      Ein Führer mit den schönsten Landgasthäusern des Alpenraums war der Kompass zu besonders schön gelegenen und qualitativ sehr guten Restaurants geworden, in denen ich schweigend und meditativ meine Speisen genoss. War ich nicht zu einem dieser erlesenen Plätze bayerischer oder Tiroler Gastronomie unterwegs, legte ich mich den ganzen Tag in meinen Garten. Der direkt an einen Wasserfall grenzte, von dem stets eine wunderbare, mich belebende Energie zu mir herüber strömte. Oder ich unternahm mit meinen Hunden ausgedehnte Bergwanderungen in den Bergen des benachbarten Tegernseer Tales, die mir eine hervorragende Kondition bescherten und mich nachts tief und traumlos schlafen ließen.

      Augenscheinlich durchlebte ich nach den Turbulenzen meines bisherigen Lebens eine Phase der Ruhe, die die folgenden Worte Henry Millers perfekt beschreiben: „Überlassen wir uns nicht gern im wachen Zustand, wenn alles in Ordnung ist und Sorgen fehlen, der Intellekt einschläft und wir in eine träumerische Stimmung geraten, dem ewigen Fluss? Schwimmen wir dann nicht ekstatisch auf dem stillen Strom des Lebens? Wohl jeder hat wohl wenigstens einen Augenblick in seinem Leben gehabt, wo er sich so gut, so im Einklang mit allen Dingen fühlte, dass er nahe daran war zu rufen: Jetzt möchte ich sterben!“

       In diesem Sinne genoss ich jeden Augenblick. Ich war rundum glücklich und zufrieden. Um diesen idyllischen Zustand nicht zu gefährden, hatte ich meine Geschäftstätigkeit als Unternehmensberater eingestellt und lebte von meinen Reserven. Ich hatte keine Lust, mir die existenziellen Sorgen und Nöte in meinen Augen psychisch kranker Geschäftsleute anzuhören und mich ihrem niederen Schwingungsfeld auszusetzen.

      Neben meinen Rasierspiegel hatte ich einen Zettel aufgehängt, auf dem folgender Text stand: „Egal wie schön, intelligent und sexy eine Frau ist. Irgendwo auf der Welt sitzt ein Typ, trinkt ein gutes Glas Rotwein und ist froh, dass er sie los ist.“

      Lächelte mich in jenen unbeschwerten Tagen eine Frau in einem Supermarkt oder Restaurant freundlich an, setzte ich sofort eine grimmige Miene auf und sah ostentativ in eine andere Richtung. An meiner Haustür hatte ich einen alten chinesischen Spruch angebracht, der mir unerwünschte Besucher und Besucherinnen vom Hals halten sollte:

      „ Ist ein Mann alt geworden und hat seine Mission erfüllt,

      dann hat er das Recht, sich in Frieden

      mit dem Gedanken an den Tod auseinander zu setzen.

       Er braucht keine anderen Menschen mehr.

       Er hat genug gekannt und weiß genug von ihnen.

       Es schickt sich nicht, einen solchen Mann aufzusuchen,

       ihn mit Geschwätz zu plagen und ihn zu zwingen,

       Banalitäten über sich ergehen zu lassen.

       Man sollte an der Tür seines Hauses vorübergehen,

       so als stünde es leer.“ (Ming Tao)

       Aber meine Mission war noch längst nicht erfüllt! Ich war gerade erst 45 Jahre alt geworden, somit im allerbesten Mannesalter. Die meisten meiner Altersgenossen hatten beruflich Karriere gemacht. Sie hasteten von Besprechung zu Besprechung, von Event zu Event, von Urlaub zu Urlaub. Ständig angetrieben von Sorgen um den Erhalt ihres Lebensstandards und dem „Morgen“ allgemein. Stress überall in ihren Leben.

       Ich hingegen lebte das entschleunigte Dasein eines Privatiers, dem das Sein wichtiger war als das Haben. Völlig antizyklisch zur Masse der Gesellschaft, in der die Arbeitswelt zum Taktgeber für das ganze Leben geworden war. Beschleunigung, Verdichtung, Komplexität und Globalisierung waren die entsetzlichen Schlagworte, mit denen die Perfektion zur Norm erhoben wurde. Was viele bis zur totalen physischen und psychischen Erschöpfung trieb. Nicht wenige aus meinem Bekanntenkreis hatten bereits ihren ersten Herzinfarkt erlebt oder standen kurz davor.

       Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte ich diese Entwicklungen beobachtet und dabei die Paradoxie der modernen Zeit begriffen: Einerseits wird durch die unglaublich schnell gewordenen Kommunikations- und Reisemöglichkeiten Zeit im Überfluss gewonnen, doch zugleich verrinnt sie immer schneller. Alle beruflich Engagierten haben sich diesem widernatürlichen Rhythmus anzupassen und arbeiten hektisch immer länger. Aber nicht, um vorwärtszukommen, sondern um den Anschluss nicht zu verpassen. Das exponentiell wachsende Wissen der Gesellschaft bedeutet, dass der Einzelne immer weniger weiß und ständig nachsitzen muss. Er ist ständig damit beschäftigt, neues Know-how seiner Firma zu lernen oder die Software seines PC oder seines Handys zu aktualisieren, was er nicht während der regulären Arbeitszeit machen kann. Also macht er permanent Überstunden, in denen er auch noch „online“ und damit erreichbar ist. Arbeitet