Natascha Rubia

Der EIndringling


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im Wiener Würstelprater mißverstehen konnte, um mich den ständigen Angriffen der rot/weiss/gestreiften Bälle auszusetzen, nutzte ich den Vorwand der Morgengeschäftigkeit, um ungetadelt dem Wurf der Schüler auszuweichen.

      Die Gedanken hinter meiner gewölbten, hohen, kahlen Stirn kreisten um alle vergangenen und zukünftig möglichen Szenarien jugendlicher Böswilligkeiten. Da war Klaus, aus der 5b. Letztes Jahr ist er mitten im Unterricht vor die Schule entwischt, um mit einer Horde ausgewachsener Jugoslawen eine Prügelei anzuzetteln. Entgegen allen Regeln und gekrümmt vor Angst, beim Regelbruch entdeckt zu werden, überliess ich die Klasse sich selbst, um die Jugendlichen händisch voneinander zu trennen, die mir – ich war eher klein und drahtig – nicht nur körperlich, sondern in ihrem Jugendeifer auch vom Tempo her weit überlegen waren.

      Die alten Holzbänke in der Aula vor den Heizungen – Stellage für die rülpsenden Randalen – waren vor dem ersten Läuten noch fast leer. Bald würden sie kommen, mit ihren Papiertüten werfen, keifen und lästern. Ein Leben vor der Bank in Erwartung der Schiedsrichter. Eigentlich sollte der Lehrer der Verurteilende sein. Dieses Verhältnis hat sich längst umgekehrt. Der Schüler fürchtet nicht den Lehrer, der Meister verbarrikadiert sich vor den Jüngsten: Hinter Regeln, Hilfsmaßnahmen, Urlaub und noch mehr Ferien. Wenigstens waren sich die Lehrkräfte hierin einig.

      Der Druck der versnobbten Upper-Class-Eltern, die bei jeder Zurechtweisung und erst Recht bei jedem “Fleck” eines Schülers ihren Freundesfreund im Erziehungsministerium erpressten oder dem alten Vetter Stadtschulrat ihr Leid klagten, vereinte sich für diesen Kampf gut mit Wiener Beamtenbücklingen vor den bekannten, adeligen oder berühmten Namen dieser Stadt. Wieviele Philharmoniker und deren Dirigenten, welche nie enden wollende Anzahl blaublütiger Draufgänger oder osteuropäischer Emporkömmlinge in Diplomatenstatus schickten ihre Kinder zu uns? Sie hatten jedes menschenwürdige Respektverhältnis nihilisiert. So bemühten wir uns nur noch um den notwendigen Abstand zu den ehrgeizigen Ziehraben.

      Unsere Schule galt als das älteste Gymnasium Wiens, nackensteif vor Tradition. Deren Regent: Der Elternverein, dessen Brut zu allem Übel – einmal das Zepter in der Hand –auch noch deren freche Urenkel bei uns anmeldete. Das Erziehungs-Karussel mahlte gut und die traditionell enge Beziehung der Eltern tat das Ihrige zur Anstellung auch weniger gut situierter Abiturienten in die oberste Hierarchie Wiener Entscheidungsträger.

      Wenn ich mir die blondbezopften Zwillingsmädels Julia und Jasmin der Ankerbrot-Dynastie in Klasse 1b anschaute, wie sie gerade falsch grüßend mit ihren identen weissen Rüschenblusen und den kurzen, plissierten Röckchen kichernd um die Ecke im Zeichensaal verschwanden, dann erbrach ich den ganzen Hinterhalt der Wiener brötchenbackenden Sippschaft der letzten 28 Jahre. Des Adels Wohlwollen, längst verblüht und seiner Aufgabe als Sittenwächter der Nation entraubt, war ausgebleicht in Hochmut. Wie die alten, verrosteten Glieder meiner Fahrradkette drehte er sich um das Zahnrad der Lehrerschaft, hielt uns im festen Würgegriff nobelster Erziehungswünsche. Nach dem Motto: Was keiner Generation bisher gelungen war an masslosem Charakter ihrer Nachkommen auszubügeln, sollten wir gerade richten – dafür wurden wir bezahlt. Die Professoren wanden sich in ihrer eingespannten Pattstellung im ständigen Bemühen, mit immer neuen Unterrichts- und Nachmittagsfreifächern den wie Urwald-Gewächse aus dem modrigen Boden der gelehrten Ahnen spriessenden Eltern-Bedürfnisse nachzukommen, die doch nur dazu dienen sollten, der Unbelehrbarheit des kargen Herzens ein mentales Gegengewicht zu setzen. Heute mußte ich mich mit der Errichtung eines neuen Freifaches Architektur plagen – als hätten die verzogenen Bälger nicht an der Uni noch Zeit genug dazu. 50 Seiten würde ich als Exposé im Direktorenzimmer abliefern und um Genehmigung warten. Von dem positiven Erhalt des finalen Bescheides des Stadtschulrates hing ein guter Teil meines sowieso sehr mageren Gehaltes ab.

      Die Überstunden, die ich gratis oder umsonst mit der Druckschrift verbrachte, brauchte der Stadtschulrat ja nicht zu bezahlen. “Die Lehrer haben eh soviel Freizeit. Das schaffen sie schon,” höre ich meinen Vorgesetzen sich ereifern. Die Folge sind heute ein 60 Stunden Lehrer-Tag, der sich allein daraus ergibt, dass ich, um drei erwachsene Kinder mit meinem Gehalt zu ernähren, noch zusätzlich bis Abends Musikschüler privat unterrichte.

      “Guten Morgen, Herr Mittelfeind, ah, ja, der Architekturkurs, den Sie uns versprochen haben,” begrüßte mich die Direktions-Sekretärin apfelkauend und tat in ihrem Lob so, als wäre das Zusatzpensum allein meinem Ehrgeiz entwachsen.

      “Genau”, meldete ich kurz. Nur die Wahrheit hätte einen längeren Kommentar verdient.

      “Kollegin Reiterer hat auch heute abgegeben. Was bieten Sie jetzt an?”

      “Architektur der 50er Jahre am Beispiel Tschechische Repubik,” meldete ich mich zum Wettbewerb.

      “Was Hübscheres ist Ihnen nicht eingefallen als die Plattenbauten da drüben? Wollen Sie mit den Schülern etwa nach Brno fahren?”

      “Besser als gar kein Ausflug.” Beim Wort `Ausflug` ging es mir gleich eine Spur besser. “Eine entferntere Klassenreise wird man mir eh nicht genehmigen, als die zwei Stunden Zugfahrt,” zogen sich meine Mundwinkel gleich wieder in die Gegenrichtung.

      “Was hat denn die Kollegin Reiterer vor?” erkundigte ich mich neugierig.

      “Naja, so was Tolles hat die auch nicht ausgespuckt: `Modeplakate in der Andy Warhol Zeit`. “

      “Schon wieder! In der Kunst wär ich froh, wenn es überhaupt keine Geschichte gäb`.”

      Die Sekretärin lachte affektiert.

      “Dann könnten wir endlich selbst eine neue Strömung kreieren.”

      “Das machen die Kids schon selbst mit ihrer Graffiti.”

      “Solange sie nicht mein Auto beschmieren.”

      “Leider deckt sich Street-Art aber nicht mit den Vorgaben von wegen ‘Theoretische Untermauerung in der Bildnerischen Erziehung’ nach dem neuen Lehrplan, Herr Mittelfeind,” musterte mich die Sekretärin augenrollend.

      “Was für eine Kunsterziehung soll das sein, wenn nur über Sinn oder Unsinn der Malerei in irgendeiner längst vergangenen Epoche gequatscht wird? Da ziehe ich den spontanen Griff zum Pinsel vor!”

      “Vielleicht ist der Minister eifersüchtig: Die Kinder sollen auch Papier wälzen, sich mit hundert Ideen von Parteihohlköpfen beschäftigen und köpferauchend aus dem Unterrricht kommen, anstatt quietschfidel auf Pappe und Papier ein skurriles Gebäude zu entwerfen.”

      Die Sekretärin verdrehte wieder lustig die Augen, haute meinen Akt auf einen Stapel zum Amtsschimmel und verschwand nach einen Ruf aus dem Hinterzimmer durch die Nebentüre zum Herrn Direktor.

      Beim Hinausgehen besah ich mich im Spiegel ihrer Garderobe. Meine Kleider hatte ich den Kindern zur Sicherheit angepasst. Damit entkam ich wenigstens ihrem modischen Minenfeld. Immer einfärbige, aber farbenfrohe Jeans, dazu passende Baumwoll-Jacken mit Kapuze, sogenannte “Hoodies”. Die Schnüre für die Kapuze hingen lose auf meine zusammengedrückte Brust – eigentlich eine Modesünde der pubertierenden Bubenschar. Das waren ihre Vorgaben. Was mir blieb, war meine Schuhsammlung: Rund 40 paar Schuhe, ausgefallene, unnachahmbare Geckentreter, die nur mir allein gehörten. Niemandem gelang es, sie zu kopieren und keiner sah sie unter meinem schlangenumwundenen, unsicher-vermeidendem Gang. Meine einzigartige Fußbekleidung war mein kritikfreies Geheimnis, eine distingierte Marke, um nicht unterzugehen in der Masse und nicht einzurosten in meinem Schweigen. Heute habe ich die roten Slipper an. Sie tragen mich leicht, fast ohne Sohlen, in dünnem Schweinsleder die schwere Treppe zwischen gotischem Geländer von der Direktion wieder hinunter in mein Werk-Atelier. Der hohe Doppel-Raum, in der Mitte durch eine winzige Tür verbunden, aber mit zwei riesigen Eingangsflügeln, stand noch leer und so sah ich gedankenversunken aus dem Fenster in den Beethoven-Park.

      Die Schule war ein repräsentativer dunkler Backstein-, mit reichlich hellem Stuck verzierter Bau aus der Jahrhundertwende. Neugotischer Stil. Die breite, ausfallende Empfangsstiege mündete in drei spitzbogige Eingangstore. Darüber prankten je sieben orientalische, nach oben eng zulaufende bunte ornamentale Bleiglasfenster mit Butzen – für den Lichteinfall in den dunkel in Eschenholz