Natascha Rubia

Der EIndringling


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standen sie nun da, von ihrer eigenen Überlegenheit zu schalkhaften Taten angestachelt.

      „Die Mädchen sind viel weiter entwickelt, als die Buben, alleine schon von der Größe her“, lächelte die Mutter mir entgegen.

      „Man sollte sie besser so nicht mischen, sonst bekommen die Buben einen Unterlegenheitskomplex und kompensieren ihn mit rüpelhaftem Benehmen,“ schloss sie sachlich, aber sinnlich.

      „Da haben Sie Recht. Man könnte ruhig die Buben zwei Jahre später zur Schule schicken“, fühlte ich mich frei, die Schulordnung in dieser erregenden Stimmung gleich den Kindern für einen Moment zu brechen.

      „Was würden wohl die Eltern dazu sagen“, lachte sie vergnügt, „wo sie doch so stolz sind, in einem ihrer hinterbliebenen Ratzen einen männlichen, klugen Nachfolger zu haben.“

      „Oh Gott, ja, die wären undankbar“ lachte ich.

      Sie ging vergnügt mit ihrem Sohn aus der Mitte. Ich war perplex und fühlte mich unterlegen. War ich auch „hinterblieben“? Unwillkürlich fühlte ich mich angesprochen. Ich zog meine Brust wie gewohnt ein, um nicht aufzufallen.

      Lange sinnierte ich, ob meine Stellung als Autorität in der aufgewühlten Klasse durch Anzweiflung dessen, was im letzten Moment in der Klasse geschehen war, oder durch deren Bekräftigung verstärkt werden konnte. Ich überlegte zu lange und verpasste den günstigen Moment, Position zu beziehen. Längst waren die gurrenden Mädels zusammenpackend hinter ihre Bänke, die Buben laut und balgend aus der Klasse gezogen. Die Zeit, sich wichtig zu machen, war verstrichen.

      Genügsam schickte ich mich also an, die Malsachen einzusammeln und das Klassenzimmer zu verlassen. Noch lange dachte ich über den kühlen Hauch auf meinen Händen und den Freigeist dieser Mutter nach. Sie war bestimmt selbständig, nicht pragmatisiert und in einer abgesicherten, stabilen finanziellen Situation, was ihr die Freiheit gab, die Welt einen oder zwei Tage komplett auf den Kopf zu stellen. Sie sah aus, als würde sie täglich ein buntes, ereignisreiches Leben peitschen.

      Und ich? Ich war verdammt dazu, hier jeden Tag meine Stunden abzuarbeiten, wie ein Pferd vor dem Pflug des gleichförmigen Ackers. Jahr für Jahr, 21 Jahre schon schnallte man mich vor die gleichen Altersstufen. Oben im Lehrerzimmer angelangt, verglich ich meine Kollegen mit mir: Abgeschuftete gleichförmige Gestalten mit stumpfen Augen. Die Einöde der Wiederholungstäter hatte sich in ihre Kleidung eingefressen. Jeder von Ihnen war unwandelbar mit seinem Stil verschweißt und fiel durch diesen nie aus der eigenen Reihe, gab sich seinen eigenen Charakter, der doch keiner war, indem er die Monochromie ihrer Welt noch unterstrich. Da war die Englisch-Lehrerin mit ihren ewig wollenen schwarzen Strumpfhosen über dicke Beine in Jeansröcken – darüber sich zwangsjackenähnlich ein Rollkragenpullover stülpte. Hatte ich sie je in einer anderen Robe hier angetroffen? Nein. Dort der Latein-Lehrer namens „Maltrovsky“, als wäre in seinen Namen die maligne Haltung gegenüber seinen Schülern eingraviert, stets in altmodischen Hochwasseranzughosen. Waren sie mit Hosenträgern nach oben gebunden, sich selbst damit den Rest an Männlichkeit nehmend, um ewig unter Mutters Herd zu wohnen? Schwer festzustellen unter dem grauen V-Ausschnittpulli, aus welchem immer eine rot-weiss gestreifte Kravatte hervorblitzte, Emblem der Zugehörigkeit zu einer zugeknöpften Nation. Oder war dieses kleine kümmerliche Rot der letzte Lebenswille des totgerittenen Professors? Schwer zu unterscheiden. Die meisten hier waren über die Jahre so monotonisiert, dass sie wie Hamster im Rad ständig in Bewegung schienen, um ihrem Tod davonzulaufen. Ruhe oder Stillstand war ihnen nicht vergönnt: Sie könnten in ihr wahres Stadium zu Staub zerfallen. Sie drehten ihre Finger durch Papiere, Unterrichtsmaterialien, raschelten, kniffen und ordneten unaufhaltsam, um in der Papiermühle am Leben zu bleiben. War ich schon zu einem von ihren Skeletten mutiert?

      3. Kapitel: Annäherung

      Es dauerte nicht lang: In der nächsten Woche stand sie wieder vor der Tür und huschte zu meinem Lehrerpult. Ohne Scham und bar jeder Gnade. Zuerst glaubte ich, dass sie ihren Sohn jeden Tag abholte und schimpfte sie innerlich eine anhängliche Gluckenmutter. Wie immer nutzte ich jede gedankliche Akrobatik, um die Kontaktschnur zu einer Person, die mir nähertreten wollte, in meinem aufkeimenden Misstrauen – menschlichem Kontakt wich ich innerlich aus – sauber zu durchtrennen. Bis ich viel später entdeckte, dass es nur Donnerstags war, zum qualvollen Ende der letzten Vormittags-Stunde.

      „Sie haben heute Direktorenwahl?“ fragte sie erheitert.

      Ich freute mich, sie zu sehen, gleichzeitig aber beneidete ich ihre gute Laune und wollte sie deshalb nur loswerden. Ich hätte es ihr gleichtun können. Jeder Gleichklang jedoch verwandelte sich in der Mühle meiner Skepsis sofort in einen Gegenstrom.

      „Ja, gleich nach der Stunde.“

      „Wollen Sie sich auch aufstellen, als Direktor?“

      „Nein, das wäre mir viel zu anstrengend“, gab ich zu. „Es ist ja schon so genug Bürokratie, was wir hier haben. Das reicht mir völlig.“

      „Kann ich mir vorstellen, wär` auch nicht mein Ding.“

      „Freilich ein undankbarer Job“, setze ich hinzu. „Wer möchte den schon machen. Da muß man es drei Seiten Recht machen: den Politikern, den Lehrern und den Eltern. Eine Zwickmühle. Jeden Tag zerrieben zwischen den Mahlsteinen energischer Widerstreiter.“

      „Da haben Sie Recht“, stimmte sie mir bei. „Fade G‘schicht, Lehrbücher durchsehen, Elternbeschwerden entgegennehmen...“

      Meine Antwort: Ein genervtes, gestresstes Gesicht beim Blick auf die lärmenden, kreischenden Kinder im Saal, als träfe sie die Schuld an Allem. Waren letztere nicht bis vor drei Jahren mein Vorwand gewesen, das Schrei-geplagte kinderreiche Zuhause zu meiden, wo ich jede Sekunde nutzte, um auf die schmale Kopfsteinstrasse in der Altstadt auszuweichen, wo mein Rad schon an der Regenrinne vis à vis ungeduldig auf mich wartete. Meine Rosinante würde meine verkrampften, kurzen Muskeln aufweichen und mich unerkannt durch die schweigende Touristen-Masse der „ersten Welt“ in meine abendliche Anonymität entführen.

      „Eltern können auch teilnehmen an der Wahl,“ versuchte ich den Ball an sie zurückzuspielen. Erziehungsberechtigte – das war etwas Lästiges, sich Einmischendes. Man konnte diese Mütter nie zufriedenzustellen. Hier ergab sich eine Gelegenheit, wenigstens sie loszuwerden: Mit einer Wahlkarte! Meine Antwort schien sie zu erhellen. Ihr Interesse schickte einen violetten Lichtstrahl in meine tägliche Eintönigkeit. Damit hatte ich kaum gerechnet. Ich dachte, es würde sie langweilen, der Schulbetrieb, die Arbeit, die ich hier verrichtete. Aber im Moment schien ihr die Teilnahme an unserem Betrieb eine willkommene Abwechslung. In ihrer Begeisterung änderte sich auch meine Sicht der Versammlung, ja des ganzen Schulbetriebs, als hätte sie mit einem Strahl der prismatischen Buntheit, die ihre Welt erhellte, mein Schuldasein in helle Farben getaucht.

      „Jetzt gleich?“

      „Ja, kommen Sie ruhig auch vorbei. Oben im Veranstaltungssaal!“

      Sie nickte. „Ich habe etwas für Sie“, antwortete die Mutter und kramte in ihrem Leder-Rucksack.

      Es waren Bilder der Renaissance, ausgedruckt.

      „Sehen Sie, bei El Greco, den „Tränen des Heiligen Petrus“, das Licht über seinem Kopf? Das ist, was ich Ihnen und den Kinder das letzte Mal gezeigt habe. Und dieses Photo hier zeigt dasselbe,“ deutete sie auf eine Photographie, bei der über dunklem Photopapier ein Kronleuchter-förmiger Lichtkegel in weiss-gelben Strahlen auf schwarzem Hintergrund zu sehen war. Sonst nichts, nur Dunkelheit.

      „Da sitzt eine Person auf einem Schiff von Napoli nach Genua.“ Ich versuchte mir das Meer und die Gicht im lauen Mittelmeerwind vorzustellen, aber mir gelang kein Schluss auf einen Kronleuchter.

      „Das Licht kommt aus dem Kopf der Person“, schloss sie.“Sie sitzt auf dem Schiff.“

      Interessiert, aber überrumpelt nahm ich die Farb-Kopien entgegen, darunter auch Bibeltexte über „die kühle Brise des Heiligen Geistes“. Ich war weder