Natascha Rubia

Der EIndringling


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oft kaum. Meine Emotionen waren wie ein verschlossener Raum. Ich hatte ihn zugesperrt und den Schlüssel dazu weggeschmissen. Ich wußte es selbst nicht genau: Interessierte ich mich für diese Person? Oder kam sie mir nur merkwürdig vor, gegensätzlich zu meiner Vermummtheit? In meinem Kopf war alles möglich. Er verdrehte Liebe in Hass und Zuneigung in Neid, Wut oder Ärger.

      Meine mißliche Lage ließ mir keine Wahl: Ich mußte zum Türspalt hineinsehen. Da stand sie, zum Pult gewandt, Musiksklave Pichler vor ihr kerzengerade auf dem Stuhl – wie festgezurrt zur Exekution. Sie hielt die rechte Hand mit einem leichten Abstand vor seine Stirne und die linke hinter seinem schmalzigen, umgewaschenen Haar, als wollte sie ihm das Öl hinauspressen. Ein mystischer Hauch ging von ihrer Gestalt aus. Keine Frage: Sie zauberte die Götter herbei, anstatt wie ich im Moment Stromschläge auszuteilen.

      „Im Hinterkopf ist die Vergangenheit“, erörterte sie dem stupifizierten Pichler ihre Handhaltung.

      „Im Frontallappen, im Vorderkopf ist die Zukunft. Wenn sich Beides im Gleichgewicht befindet, dann bist Du in der Gegenwart.“

      „So einfach geht das?“ säuselte der gedutzte Hansi, halb eingeschlafen im Morgenmantel ihres lieblichen Heilverfahrens.

      „Ja. Du mußt nur mit Deiner Aufmerksamkeit zehn Zentimeter über dem Kopf bleiben. Die Vibrationen, die über die Hände fließen, machen den Rest. Zu Hause kannst Du das mit Deiner rechten Hand wiederholen. Du wirst sehen, es geht genauso schnell.“

      „Jetzt bin ich ganz müde geworden.“

      Pichler nickte fast ein, so stark sank er mal links, mal rechts vom Stuhl.

      „Weil Du zu sehr auf der aktiven Seite, auf dem rechten Sympatikus warst, pendelst Du nun in die Gegenrichtung, um das auszugleichen. Das macht dich müde“. Erklärte die Sphinx.

      Halte die rechte Hand Richtung Erde – die andere bleibt offen, und leite so die Negativität der lethargischen, linken Seite ab, bis die Emotionen nur noch aus Freude bestehen...das weckt Dich wieder auf.... so, jetzt machen wir uns an Deine Nebenhöhlenentzündung, das ist hier, das Hamsa, an der Nasenwurzel.“

      Pichler war wie versklavt. Diesmal nicht von der Musik, sondern von deren Muse.

      Das war mein letzter Eindruck. Denn genau in dem Moment huschte ihr Sohn im Gang um die Ecke, sah mich und ich floh, so schnell ich konnte, wieder in mein Reich hinunter.

      Der lebendige, immerpräsente Pichler, sollte er mir ihr Interesse entrissen haben? Hatte ich wieder mit meiner abweisenden Art, meiner Isolation jemanden von mir gewiesen? Für immer verloren? Gewiss, ganz sicher war es mein Schicksal, allein zu bleiben. Darin lag ja der Grund, warum ich mich nicht um Anschluß, nicht um Freundschaft bemühte. Die Untreue, das kalte Abwenden, ich ahnte es leise, lange vor dem Herannahen. Die reflektierte böse Absicht wartete quasi an der Türschwelle auf mich. Umso mehr noch fürchtete ich die Heuchelei, das Undurchschaubare der Absichten, die vielleicht heute hell glänzten und schon morgen sich als Zur-Schau-Stellung entpuppten, als berechnende, unbarmherzige Täuschung, nicht ahnend, dass ich mich selbst in meiner Erwartungshaltung spiegelte. Dieses Lachen, ihr kakophones Lachen, hatte es nicht auch etwas Blasphemisches, einen sarkastischen Unterton? Würde sie schliesslich über meine Unbeholfenheit lachen und erhaben über meine Leiche schreiten, so , wie ich es mit Pichler tat?

      Einfacher, angenehmer als jeder innige Kontakt zu Menschen, der mich letztendlich mit einer Enttäuschung über mein eigenes Verhalten konfrontieren konnte, erschien mir immer noch der Rückzug zur Musik, zu Konzerten im hermetischen Saal, wo jeder Zuhörer in sich schwieg. Denselben Zweck verfolgten meine Radio-Abende zu Hause, jedenfalls Aufenthalte in Gefilden, wo die Sprache nicht mehr wesentlich war, wo das, was vermittelt wurde, sich stumm, ohne die leiseste Anwandlung, etwas Vorspielen zu wollen, bar jeder Unaufrichtigkeit äußerte. Die Tonkunst bat keine Chance zur Lüge, sie war eine Zuflucht vor meinem Gewissen und ich hörte sie, wann immer Emotionen aufrauschten und nach einem Griff in meinem Herzen suchten. Die Töne kamen in Meereswellen und kehrten meine unbesuchte, unbetretene Bucht wie ein Besen, schwemmte den Sand meiner stillen Höhle aus, holte sich die toten Muscheln, Schalen und Krebse zurück. Nichts hielt sich fest in mir, kein Wesen umklammerte mich, an keines wollte ich gebunden sein. Alles gab ich dem Wasser hin, um nach der Flut scheinbar wieder allein mit mir im Reinen zu sein.

      In hundert Gedanken versunken und dadurch bar jeder Trauer über die Untreue meiner neuen Bekanntschaft unterrichtete ich meine restlichen Nachmittags-Stunden. Fast war ich erleichtert, einem sich anbahnenden Abenteuer entkommen zu sein. Wie immer nach einer anstrengenden Doppelstunde mit Achtklässlern umklammerte mich beim Hinausgehen an der Tür ein Schüler mit seinen Anliegen. Er suchte meine väterliche Zustimmung zu seinem Kunstwerk. Müde kam ich ihm nach, da stürzte die Jüdin zu mir, ließ alle mythologischen Hüllen fallen und ging in Enthusiasmus auf.

      „Ich habe heute mit allen Musikklassen meditiert“, platzte sie in mein Gespräch hinein. „Und dann noch mit dem Musik-Lehrer!“

      Mein Neid hatte sie längst abgetan. So stieß ich sie jetzt in Gedanken weit von mir fort.

      „Und dem Pichler treibe ich seine Nebenhöhlenentzündung aus“, protzte sie weiter.

      Sie fixierte meine starken Unterarme, als würde sie im nächsten Augenblick hineinbeissen. Ich fühlte mich wie eine steife Stelze, nackt, entblößt, auf den Spieß gesteckt, dem Verzehr preisgegeben und brachte kein Wort hinaus.

      „Ich bin so glücklich“, strahlte sie und schwebte die Treppen hinab.

      Meine Reaktion zählte nicht mehr. Sie hätte auch lange auf sich warten lassen – ihre gute Laune frohr mich fest wie einen Kaltblüter in andalusischer Sonne. Die Schüler standen im Mittelpunkt, die Kinder des Musiklehrers über mir. Sie hatte mich ausgespiehen wie der Brunnengötze am Gang vis à vis, in den Schatten gestellt, als hätte ich, in meiner Erwartungshaltung übergangen, darauf gewartet, wie ein eingeklappter Regenschirm im Sommer in die Ecke geworfen und vergessen zu werden. Ich hatte keine Handhabe. Meine Verdachtsmomente hatten sich selbst prophezeit, meine Angst und mein Zögern wieder einmal einen Querbrater heraufbeschworen.

      Mir war klar, sollte ich ihre Aufmerksamkeit wiedergewinnen wollen, müßte ich mir etwas einfallen lassen, aus meiner Beobachtungsposition kommen und aktiv am Gespräch teilnehmen. Genau das war ungleich schwierig für mich, bedeutete es doch, etwas zu erwarten. Jede Erwartung zielte jedoch in meinen Augen auf eine Enttäuschung. Wie hasste ich selbst die Antizipation anderer. Eine Verabredung allein, zu einem fixen Termin, einem abgestimmten Tag, war mir ein Greuel. Konnte nicht im letzten Moment ein interessanteres Vorhaben dazwischenstoßen? Und war ich dann nicht gehindert, die einfachere Alternative zu leben, sondern gezwungen, es zumindest einem Dritten recht zu tun? Wen würde ich eher enttäuschen? Jeden Moment, jede Sekunde konnte sie zurückschnellen und mir in die offenen Augen fahren. Wie eine Schnecke würde ich in mich zurückkriechen. Ich hörte das knirschende Geräusch eines zerbissenen Gehäuses. Es hinterließ einen fahlen Geschmack und einen Knoten im Hals.

      Diesen Donnerstag wartete ich, am Marterpfahl der Klassentafel gebunden. Alle Trafos meiner Seele sammelten sich zur knisternden Elektrizität eines Hochspannungswerkes. Sie bemerkte die Anspannung in der Luft, sah sie an meiner Körperhaltung. Unsere Verlegenheit ließ uns im Klassenzimmer verweilen, in der Atmosphäre des Moments verharren, als hätte man uns hinter dem Pult an einem unsichtbaren Elektrozaun angepolt. Sechs Monate währte das Semester. Wir konnten nicht mehr vor- noch zurück. Ich fühlte mich eingesperrt, gefangen in meiner Brust. Das Klassenzimmer mutierte zu meiner Gefängniszelle.

      Still beobachteten wir gleichzeitig die Schüler bei ihren Buben-Mädchen-Spielen. Wir wußten dabei, dass wir dasselbe sahen. Zumindest schien es so. Schon lange sprachen wir miteinander ohne ein Wort zu wechseln. In der Stille verschmolz uns der Druck zu einer Person. Da platzte ich heraus:

      „Meine Eltern haben mich als Mädchen erzogen“, fing ich an.

      „Mein Bruder war ja schon da und meine Mutter wollte unbedingt eine Tochter.“

      Es war die Wahrheit und dennoch wirkte es, als entschuldigte ich mich mit einem fadenscheinigen Vorwand dafür, passiv in meinem unerkannten