hatte, und warf nunmehr die Mutter hinein. Als man sie zwei Tage darauf aus dem Wasser fischte, wurde Tod durch Ertrinken festgestellt. Nach vorangegangener Strangulation. Eins und eins ergab auch hier immer noch zwei: Der Sohn wurde verhaftet, gestand gesenkten Hauptes und schluchzte reuevoll. Wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge unter Berücksichtigung seiner Gemütslage und Trunkenheit verurteilte man ihn zu einer läppischen Gefängnisstrafe, beinahe empörend läppisch, wie Bengt-Jörn es sah, aber trotzdem irgendwie gerecht. Der Mann hatte frei sein wollen. Wie auch er. Befreit von der allgegenwärtigen Mutter, die ständig bei der dringend erforderlichen Selbstverwirklichung störte. Wie seine.
Bengt-Jörn sah sich den Film „Mutter muss weg“ an, - natürlich ohne seine Mutter, die bei der Chorprobe im Gemeindehaus weilte -, und schaltete unzufrieden ab. Eine Posse. Die Mutter war am Ende immer noch da. Quengelnd und zankend und höchst lebendig.
Bengt-Jörn brauchte etwas mit Happy End. Orest fiel ihm ein. Kein gutes Beispiel. Trotzdem an den von leidigen Gewissensbissen Geplagten zu denken war, intellektuell gewertet, nicht ganz so ungewöhnlich für ihn, er hatte immerhin Germanistik studiert. Sehr lange. Eindeutig zu viele Semester, als dass er das Chaos noch hätte sortieren können. Also machte er kein Examen. Punkt. Aber tragisch von der Mutter gebeutelte Männer wie Nero, Norman Bates oder eben Orest, nach denen er ja nun mental fahndete, waren halt auch nach all den Jahren immer noch präsent. Orest, Sohn des Troja-Veteranen Agamemnon, brachte seine Mutter Klytaimnestra um. Die hatte zwar ihren Gatten ermordet und den Tod durchaus verdient, - Bengt-Jörn überlegte, ob seine Mutter vielleicht auch ... nein, gut, das nun nicht, sein Vater war völlig normal verstorben -, aber Orest wurde fortan von Racheengeln gehetzt. Muttermord eben.
Mutterblut an den Händen bleibt ewig kleben. Das wird nicht mal eben so heimlich abgewaschen wie das Blut aus der aufgeschlitzten Kehle des lästigen Nachbarn, das war Bengt-Jörn schon klar.
Norman Bates kam ihm wieder in den Sinn. Deibel auch. Bengt-Jörn schüttelte sich. Ausgestopft könnte er seine Mutter erst recht nicht ertragen.
Und dann geriet er bei der Suche nach schönen Muttermord-Legenden im Internet, - solche musste es ja auch geben bei der ganzen Palette an blutigen Brutalo-Märchen -, an diese eine Geschichte, die ihn an den darauffolgenden Tagen schwer beschäftigte. Wahrhaftig konnte er sie sich, während er sie las, höchst lebendig ins Gedächtnis rufen, sie war keineswegs neu für ihn, aber er hatte sie schlichtweg genauso vergessen wie seinen ursprünglichen Plan, aus seinem Leben später einmal etwas ganz besonders Gescheites zu machen.
Das denkwürdige Ende der kleinen Schauermär brachte Bengt-Jörn gleichsam die Erinnerung an seine alte Klassenlehrerin Gertrud Zimmer, Katharinen-Grundschule im Schloberg 1973, wieder, die trotz Haardutt und Hornbrille partout Fräulein genannt werden wollte.
Gertrud Zimmer las sie damals der Klasse vor. Passend zum Muttertag. Sie tat das recht unerschüttert, wohl in dem Glauben, sie würde die Kinder fortan gut sein lassen. Und den Müttern, die wir von ihr erfuhren, Tränen in die Augen treiben. Tatsächlich fand Bengt-Jörn sie im Alter von knapp zehn Jahren als harmlosen Angstmacher recht gelungen. Mehr nun nicht. Seine Mutter nannte sie irgendwie verkehrt, sah ihn aber, wie er sich so viele Jahre später zu erinnern glaubte, sehr befremdlich, gar misstrauisch an. Insgeheim hatte sie wohl gedacht, dass Fräulein Zimmer sich eh keine Sorgen darüber machen müsste, dass ihr Sohn sie umbringen könnte, die hatte ja keinen und würde auch keinen mehr kriegen.
Bengt-Jörn fand die Geschichte jetzt so im Nachhinein schon recht schaurig:
Da ist also ein junger Mann abgöttisch in eine wunderschöne junge fremde Frau verliebt. Diese verspricht ihm, ihn zu erhören, wenn er ihr das Herz seiner Mutter als Beweis seiner Liebe bringt. Nun eilt er nicht hastig und völlig entsetzt von dannen, wie man es denken sollte, von Abscheu erfüllt über diesen abartigen Wunsch der Begehrten, sondern hadert tatsächlich ernsthaft mit sich. Dabei verzweifelt er schier, weil er nun doch recht arg an der Mutter hängt, die Geliebte aber partout nicht verlieren will. So bringt er letztendlich die arme Mutter um, obwohl es ihm wahrlich in der Seele schmerzt. Er schneidet ihrer Leiche das Herz aus der Brust und macht sich damit auf den Weg zu seiner Angebeteten. Wie von Sinnen will er eiligst zu ihr, stolpert aber, stürzt lang hin, und das Herz fällt in den Dreck. Und während er noch dort flach auf dem Boden liegt, spricht das Herz mit der sanften Stimme seiner toten Mutter zu ihm und fragt ihn besorgt: „Mein Junge, hast du dir wehgetan?“
So steht es geschrieben, so ließ Bengt-Jörn es stehen. Mutterliebe in Höchstform. Bedingungslos, alles verzeihend, einmalig in ihrer Selbstlosigkeit. Der Sohn tötet die Mutter und schneidet ihr das Herz heraus, um sein Glück zu finden. Alles symbolisch natürlich. Kein Mutterherz mehr, keine störende Allmacht mehr. Und die Mutter tobt nicht, heult nicht, klagt nicht, sie sorgt sich einzig um sein Wohlergehen. Als würde sie ihn mit all ihrem Blut an seinen zehn Fingern noch tröstend in die Arme nehmen und ihm liebevoll ihren mütterlichen Segen dafür geben, frohen Mutes weiter leben zu können.
Die Geschichte gefiel Bengt-Jörn mit den üblichen Bagatell-Abstrichen. Selbstverständlich war ihm die Freundin des Sohnes in der Geschichte nicht wirklich sympathisch. So was verlangt man ja nun grundsätzlich nicht, bevor man sich bindet. Da war seine Corinna anders. Die zog ihren entzückenden Schmollmund und sagte: „Die Alte geht mir wahnsinnig auf die Nerven.“
Manchmal sagte sie auch „hässliche Schachtel“ oder „Zombie“, aber das war entschuldbar, sie war jung, - erquickliche achtundzwanzig Jahre jünger als er - , und kam aus der Ludwig-Siedlung. Da waren sie alle mental etwas überschaubarer konstruiert. Corinna war seine Prinzessin. Barbie. Muse für ein Sein, das an die Tür klopfte. Für seine Mutter war sie einfach nur eine ganz furchtbare Person. Was sollte er machen? Er atmete tief durch und seufzte. Mein Junge, hast du dir wehgetan? Warum eigentlich nicht?
Bengt-Jörn las über den Berliner Schöngeist Kalistros Thilecke, der 1930 seine Übermutter mit siebzehn Messerstichen tötete, dafür zehn Jahre im Gefängnis saß und sich nach seiner Haftentlassung dem berüchtigten SS-Sonderkommando Dirlewanger anschloss. Kalistros wurde zu einem der Gnadenlosen. Ein unbarmherziger Killer. Auch eine mögliche Konsequenz bei solchen familiären Angelegenheiten. Menschenschlächter werden. So weit konnte eine Mutter ihren Sohn also bringen. Na bitte. Bengt-Jörn war nicht allein mit seinen Sorgen.
Zur Beruhigung kramte er noch einmal in seinen zerfledderten Reclams, - er hatte alle in einem Karton auf dem Kleiderschrank verwahrt für den rein hypothetischen Fall - , auf der Suche nach Schnitzlers früher kleiner Erzählung „Der Sohn“. Er erinnerte sich vage. Die Mutter liebt den Sohn abgöttisch, der fühlt sich komplett erdrückt und versucht, sie mit einem Beil zu erschlagen. Schwer verletzt sagt sie dem Arzt, bevor sie stirbt, man möge ihrem Sohn verzeihen und ihn frei sprechen, sie sei an allem schuld. Punkt.
Bengt-Jörn fand die Geschichte nicht mehr, er ahnte auch dunkel, dass sie im Original komplizierter gestrickt war, aber die Grundaussage war nicht die schlechteste. Tödliche Affenliebe. So ungefähr. Genau genommen war seine Mutter ebenfalls an allem schuld. Sie hatte ihn schließlich erzogen. Und stets bedingungslos umsorgt. Gehätschelt. Geliebt. Wieder aufgenommen ins traute Heim vor zehn Jahren nach Annas Rausschmiss, natürlich mit mitleidsvollem Blick, feuchtem Stirnkuss, honigsüßem Spott: „Ich hab's doch geahnt, Junge.“
Sie hätte wissen sollen, wie es ihn quälen würde, in seinem Alter in Mutters Schoß zurück krabbeln zu müssen. Sie gab ihm Taschengeld. Wusch seine Unterhosen, kochte ihm Pudding, zählte seine Drinks. Sie würde sich für ihn in die Schusslinie werfen. Sie würde es entschuldigen, wenn er sie ...
zumindest verstehen würde sie es. Sie wollte doch immer nur, dass es ihm richtig gut ginge. Dass er vielleicht mal Minister, Chirurg oder immerhin Pfarrer würde. Wenigstens kein Krimineller.
Bengt-Jörn fiel Nero ein. Wenn man erst einmal anfing, sich mit so einer Sache zu beschäftigen, konnte man doch recht staunen, was alles so aus der Schul- und Studienzeit hängen geblieben war. Nero also. Noch so ein außerordentlicher Muttermörder. Es gab erstaunlich viele, wie Bengt Jörn in wenig erleichtert feststellte, das machte die Sache irgendwie salonfähig.
Er blätterte nach. Als Aggrippina erfuhr, dass ihr Sohn sie umzubringen